Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit wurden so viele Güter und Menschen von einem Ort zum anderen bewegt wie heute – mit Schiffen, Flugzeugen, LKWs, Zügen, Autos oder auch zu Fuß, in jüngerer Zeit auch mit Moped und Fahrrad. Bis in die 1980er-Jahre wurden Menschen, die in diesen Sektoren arbeiteten, in den meisten Fällen dem allgemeinen Lohnniveau entsprechend bezahlt – sowohl in Europa als auch in Lateinamerika.

Doch das ist lange her. Eigentlich müssten im Kapitalismus, wo der Markt angeblich alles zum Guten regelt, Beschäftigte in boomenden Branchen besonders gut verdienen. Dass das ein Märchen ist, spüren die Arbeiter*innen im Transport- und Logistikbereich mit aller Härte. In kaum einem Wirtschaftssegment sind in den letzten zwei/drei Jahrzehnten Umsatz, Gewinne und Beschäftigungszahlen derart gestiegen, während sich gleichzeitig Arbeitsbedingungen und Löhne derart verschlechtert haben.

Natürlich gibt es Leute, die richtig gut verdienen, etwa diejenigen, die früher Top-Manager hießen und heute CEOs genannt werden. Zum 1. Mai schlug die Partei Die Linke vor, der Mindestlohn in einem Unternehmen solle sich am Lohn von dessen Spitzenverdienern orientieren und zwar im Verhältnis 1:20. Dass einer (die männliche Form ist durchaus angemessen) 20-mal mehr verdienen soll als eine andere (die weibliche Form ist durchaus angemessen), ist nun wirklich eine sehr moderate Forderung, die demütig anerkennt, dass der Kapitalismus auf Ungleichheit basiert. An den derzeitigen Einkünften von Bahnchef Lutz orientiert, würde der Mindestlohn bei der Deutschen Bahn dann bei gut 100 000 Euro im Jahr liegen, womit die unteren Gehaltsgruppen vermutlich besser über die Runden kämen als mit ihren aktuellen Einkünften.

Leider können die Beschäftigten im Logistikbereich von solchen Löhnen nur träumen: die auf den Containerschiffen, bei der Bahn, der Post/DHL und anderen Paketdiensten, am Steuer der LKWs, in den Frachtterminals der Flughäfen und die Kurierfahrer*innen und Essenslieferant*innen mit PKW, Moped oder Fahrrad. Sowohl in Mitteleuropa als auch in Lateinamerika rangieren ihre Einkommen offiziell um den jeweiligen bescheidenen gesetzlichen Mindestlohn. In der Praxis verdienen sie hüben wie drüben bedeutend weniger. Woran das liegt? An einem Trick, der soziale Errungenschaften über den Haufen wirft: Die Arbeiter*innen sind gar nicht bei den Unternehmen, für die sie schuften, angestellt, sondern üben ihre Tätigkeit formal selbstständig aus, nehmen also nur Aufträge der jeweiligen Firmen und Konzerne an. „Servicepartner“ ist dafür eine gerne benutzte Bezeichnung.

Bei den Recherchen für einen Schwerpunkt lernen wir immer viel Neues. Oft finden wir das spannend, manchmal auch empörend. Diesmal verschlug es uns fast die Sprache, welche Konstrukte sich die großen Unternehmen in der Logistikbranche Tag für Tag einfallen lassen, um die Ärmsten in der Gesellschaft, – Geflüchtete, Migrant*innen, allein­erziehende Frauen (die nur nachts arbeiten können), Menschen ohne Berufsausbildung u.a. – noch ärmer und abhängiger zu machen. Diejenigen, die gerne vor „Klassenkampfparolen“ warnen, wenn soziale Forderungen auf den Tisch kommen, wissen, wovon sie reden, denn Klassenkampf von oben ist ihr tägliches Kerngeschäft.

Natürlich gibt es Gegenwehr. Doch die auf die Beine zu stellen, ist eine große Herausforderung und verlangt innovatives Denken und Handeln. Scheinselbstständige Fahrer*innen oder Leiharbeiter*innen, die jeden Monat von einer anderen Firma an Großkonzerne ausgeliehen werden, sind nicht leicht erreichbar und zu gemeinsamem Widerstand zu bewegen. Traditionelle Gewerkschaftsarbeit, deren Organisationsstrukturen sich noch immer am festangestellten Facharbeiter oder der gut ausgebildeten Angestellten orientieren, gerät dort schnell an ihre Grenzen. Kleinere Organisationen, die die Vielfalt der sozialen Realitäten und die Multikulturalität in ihrem Arbeitsbereichen reflektieren und positiv aufnehmen, können an einzelnen Punkten erfolgreich Widerstand organisieren. Die Branchengewerkschaft FrenApp in Ecuador, die Betriebsgewerkschaft UTP/PedidosYa in Uruguay, die basisdemokratische IP in Polen oder die dezentral arbeitende anarchosyndikalistische FAU in Deutschland sind dafür interessante Beispiele. Sie können noch längst keine Massenwirkung erzielen, auch weil sie enorm flexibel agieren und immer wieder neue Organisations- und Kampfformen ausprobieren und einsetzen müssen. Oft braucht es auch solidarische Menschen, die selbst nicht in solchen Arbeitsverhältnissen stecken, aber diejenigen, die für ausstehende Löhne und bessere Bedingungen kämpfen, in ihrem Widerstand unterstützen. Auch darüber berichten wir in dieser ila.