Heute und nicht morgen
Wahrlich eine Entdeckung, eine doppelte: Zum einen ist da ein anderthalbstündiger Dokumentarfilm über die 1980er-Jahre gelungen, obwohl es kaum Originalfilmdokumente über die Zeit gibt. Ein Kunststück. Zum anderen erinnert der Film „Hoy y no mañana“ (Heute und nicht morgen) an einen Widerstand, der im kollektiven Gedächtnis wie üblich vergessen wurde: die parteiübergreifenden, gemeinsamen, kreativ-künstlerischen Aktionen von Frauen gegen die Pinochet-Diktatur. „Mujeres por la vida“ (Frauen für das Leben) nannten sie sich selbst. Ende März begeisterte der Film das Publikum beim Frauenfilmfestival „Elles tournent“1 in Brüssel. Gaby Küppers sprach mit der Regisseurin Josefina Morandé über sie selbst, ihren Film und über die „Mujeres por la vida“.
Was würden Sie selbst als Berufsbezeichnung angeben?
Oh, das ist schwierig. Ich sage immer, ich mache Architektur, Grafikdesign und Kino. Das Kino kam später, weil ich zunächst Architektur studierte. Allerdings begann ich bereits zu filmen, als ich 2001 eine Kamera geschenkt bekam. Damals lebte ich in Indien und begann, alles um mich herum zu filmen und daraus Kunstvideos zu erstellen, ohne Film studiert zu haben. Mein Ansatz war der architektonische Blick. Für das Architekturstudium hatte ich stets gezeichnet, in den Straßen von Valparaíso etwa. Das Zeichnen von Plänen ist eine Art, Rahmen zu entwerfen. Zeichnen heißt, Ausschnitte festzulegen. Filme zu machen bedeutet ebenfalls einzurahmen. Das Kino ist eine Einrahmung in Bewegung. Doch anders als die Architekturzeichnung erzählt das Kino Geschichten. Das war das Neue für mich: Wie kann ich eine Geschichte erzählen und einrahmen?
In Ihrem Film „Hoy y no mañana“ gehen das Wie und das Was wunderbar zusammen. Ausgesucht dafür haben Sie eine sehr chilenische, dabei weitgehend unbekannte Geschichte über Frauen während einer brutalen Epoche im Land. Sie haben viel Zeit im Ausland verbracht. Warum war es Ihnen ein Anliegen, ein Kapitel in Chile aufzuarbeiten, das sozusagen „vergessen“ wurde?
Weil ich mich „chilenísima“, absolut als Chilenin fühle. Und weil ich mit dem Kino etwas aussagen will. Ich war insgesamt 15 Jahre im Ausland, acht davon in Indien, dann sieben Jahre in Barcelona. Trotzdem bin ich an erster Stelle Chilenin geblieben, weil ich dort geboren wurde, weil mir das Land gefällt, die Leute, die Landschaft, die Farben, selbst die Vögel dort. Katalonien ist so etwas wie eine zweite Heimat, Indien die dritte.
In welchem Moment kam Ihnen die Idee, einen Dokumentarfilm über die „Frauen für das Leben“
zu drehen?
Die Idee kam mir mit den Erzählungen einer der Protagonistinnen des Films, Mónica Echeverría, die ich wie die meisten der porträtierten Frauen kennenlernte, nachdem ich 2010 nach Chile zurückgekehrt war. Mit Mónica Echeverría, einer großartigen Schriftstellerin und Schauspielerin, freundete ich mich an und begleitete sie mit meiner Kamera bei ihren häufigen Buchvorstellungen. Dabei erzählte sie mir viele Geschichten. Eine davon war über die „Frauen für das Leben“ und wie sie verdorbenen Fisch und verdorbene Muscheln ins Gericht geworfen hatten. Ich konnte das kaum glauben. Waren diese Frauen verrückt? Wie haben sie das fertiggebracht? Ich begann nachzuforschen. Die Geschichte war tatsächlich wahr. Aber niemand kannte sie, die Frauen waren unsichtbar gemacht. Da reifte der Plan für den Film.
Wie dreht man einen Dokumentarfilm, wenn man über fast kein Filmmaterial aus der betreffenden Zeit verfügt?
In der Diktatur nahmen Polizei und Sicherheitskräfte immer alle Fotoapparate, Filme, Videokameras weg. Es gibt daher wenig Archivmaterial. Aber einige Personen, wie der chilenische Filmregisseur Pablo Salas oder die Aktionskünstlerin Lotti Rosenfeld, die im Film auftaucht, haben einiges aufbewahren können. Lotti war zentral für meine Arbeit. Sie stellte mir absolut alles, was sie an Material hatte, zur Verfügung, damit ich es digitalisieren konnte. Nur so konnte ich den Film machen.
Sie stützen sich aber nicht nur auf Originalaufnahmen?
Nein. Der Film wurde mit einem sehr kleinen Budget erstellt, er war die Abschlussarbeit meines Filmstudiums. Zunächst ein Kurzfilm, den ich später erweiterte. Dazu habe ich mich beim einzigen im Land existierenden Fonds, einem staatlichen Fonds, beworben. Mit Erfolg. Mit dem Geld konnte ich Filmanimationen für erzählte Ereignisse machen, für die es keine Bilder gibt. Zeichentricksequenzen also, die eine Zeichnerin aufgrund meiner Erzählungen entwarf. So konnte ein gezeichnetes, mit Mütze und Präsidentenschleife als Pinochet erkennbares Schwein mit der Aufschrift „Wählt Pinochet“, verfolgt von Polizisten, durch wirkliche Filmaufnahmen des Stadtzentrums von Santiago gejagt werden, wie die Frauen das tatsächlich 1983 inszeniert hatten.
Wenn man sich den Film ansieht, muss man unwillkürlich an die Performance „Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“ der chilenischen Frauengruppe „Las Tesis“ denken, die in Windeseile weltweit nachgespielt wurde. Die Performance ist von 2019, entstand damit nach Ihrem Film von 2018. Gibt es eine Tradition künstlerischen Protests von Frauen in Chile?
Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass diese Tradition durch die „Frauen für das Leben“ begonnen wurde. Vorher gab es keinen offenen Widerstand auf der Straße. Der begann erst 1983, als sich auch die Frauengruppe formierte. Vorher war in der Öffentlichkeit Chiles nicht viel zu sehen. Zwar gingen die Mütter der Verschwundenen unter großer Gefahr auf die Straße, aber das hatte nichts Künstlerisches. „Wo ist mein Vater?“, „Wo ist mein Bruder?“, das waren verzweifelte Aufschreie. Die Frauen gingen zu den Wachen der Carabineros oder zu den Zentren der CNI, der Geheimpolizei. Aber das hatte überhaupt nichts von einer Performance. Meiner Meinung nach waren die „Frauen für das Leben“ etwas ganz Neues, Frauen aus verschiedenen Spektren, Künstlerinnen, Schauspielerinnen, Journalistinnen, Schriftstellerinnen, Fotografinnen, die mittels ihrer Kunst anklagen wollten. Das mündete in Blitz-Kunstaktionen, Protestkunst, Humor.
Gibt es einen roten Faden, der die „Frauen für das Leben und „Las Tesis“ verbindet?
Ich weiß nicht, ob die „Tesis“-Frauen selbst den Film gesehen haben. Er wurde in ganz Chile über den einzigen Dokumentarfilmverleih im Land, Miradoc, gezeigt. Ich reiste von Nord nach Süd, ging in Schulen, Gemeindesäle, abgelegene Orte. Das gefällt mir, der Film ist nicht für Hollywood gemacht, sondern soll Bewusstsein wecken. Nach den Vorstellungen redeten die Zuschauer*innen, das war ihnen ein Bedürfnis. Viele junge Feministinnen waren dabei. Ich merkte, dass sie großen Respekt für diese Vorläuferinnen empfinden, weil sie sahen, dass sie nicht die ersten mit ihren Widerstandsaktionen waren. Manche haben auch die noch lebenden Protagonistinnen aus dem Film kontaktiert. Sie sind eine Inspirationsquelle für sie.
Im Film kommen verschiedene künstlerische Aktionen vor: das schon genannte Schwein in der Stadt; beschriftete Fußbälle, die von einem Dach in Straßen mit vielen Fußgänger*innen geworfen werden, die den Bällen – und damit der Diktatur – einen Tritt geben; die ausgelöschte „ewige Flamme“ der Helden; die Silhouetten von Verschwundenen mit der Frage: „Vergisst du mich – ja oder nein“, um das „Nein“ beim Referendum und damit zur Diktatur in die Köpfe einer Bevölkerung zu hämmern, die von eben dieser Diktatur ans stumpfe Jasagen gewöhnt war. Fällt Ihnen eine Aktion ein, die nicht in den Film passte?
Ja, zwei, drei Beispiele. So führten einmal Blinde einen Hungerstreik durch. Einer von ihnen starb dabei. Um auf das Schicksal des Blinden aufmerksam zu machen, verband sich eine Gruppe der Frauen die Augen und tastete sich mit Blindenstöcken über den Paseo Ahumada mitten in Santiago.
In einer Szene im Film sagt die Psychiaterin und linke Politikerin Fanny Pollarolo, dass es Männer im Widerstand nicht schafften, sich zusammenzuschließen, während Frauen eine gemeinsame Front bilden konnten. Wie sehen Sie diese Aussage?
Die Aussage ist ziemlich richtig. Trotz des Ernstes der Lage blieben die Männer vor allem Vertreter bestimmter politischer Tendenzen, Kopfmenschen. Sie blieben in der Theorie verfangen, während die Frauen offenbar die Not erkannten. Ich denke, wir Frauen sehen das Essenzielle schneller als Männer, wir reagieren schneller. Damals schafften die Frauen etwas, was zuvor nie gelungen war, nämlich quer durch alle Parteien eine gemeinsame Opposition zu bilden, sogar jenseits von Parteien unpolitische Leute einzubinden.
War das auch eine klassenübergreifende Initiative?
Ich kenne die Kritik, ich hätte sehr bürgerliche Aktivistinnen vorgestellt. Aber die in Chubut 1987 interviewte Psychologin sagte damals: „Wir waren ein Katalysator, wir waren der Schritt in die Sichtbarkeit für alle Frauen, die in den Armenvierteln, in den Suppenküchen, den Nachbarschafts-Juntas, die seit Jahren gemeinsamen Widerstand auf die Beine zu stellen versuchten und sich fragten, wie sie mit der ständigen Angst umgehen sollten, wie sie in der Krise an genügend Nahrungsmittel kommen sollten.“ Allerdings kam die Gruppe, die die Aktionen in langen Sitzungen ausheckte, aus einem intellektuellen Milieu.
Die Bezeichnung „Frauen für das Leben“ lässt hierzulande an Abtreibungsgegnerinnen denken. Woher stammt der Name?
Auch in Chile hat man heute diese Assoziation. Anfangs sollte mein Film sogar diesen Namen tragen. Aber dann sah ich eine ultrafanatische Frau, die in einem mit Antiabtreibungsplakaten, Föten und fürchterlichen Bildern ausstaffierten Bus quer durch Chile fuhr. Sie nannte sich just „Frau für das Leben“. Diese Gleichsetzung wollte ich unbedingt vermeiden. Der Name steht jetzt im Untertitel. Für den Titel entschied sich Lotty Rosenfeld aus einer langen Liste von Vorschlägen. „Heute und nicht morgen“ stand wiederholt in einem Manifest, das die Frauen bei der größten Versammlung während der Diktatur überhaupt – nur von Frauen ! – am 29. Dezember 1989 im Caupolicán-Theater in Santiago verlasen. Darin wird die Dringlichkeit betont, dass das Regime beendet werden muss.
Wie entscheidend waren dieses Ereignis und die „Frauen für das Leben“ für das Ende der Diktatur?
Meines Erachtens war dieses Ereignis sehr wichtig. Dort waren viele Politikerinnen anwesend, die sich damit klar auf Seiten des Widerstands positionierten. Ihre Stimme wurde breit vernommen.
Warum tauchen die Frauen und deren Aktionen nicht in den Geschichtsbüchern auf?
Das meiste steht nicht in Geschichtsbüchern! Die Frauen sind nun sichtbar geworden und werden künftig in den Geschichtsbüchern auftauchen. Kino ist für mich ein Werkzeug zum Kampf, zur Bewusstseinsbildung. Mit dem Film wollte ich dazu beitragen, dass die Frauen auch dort bekannt werden, wo nicht gelesen wird oder wo die Geschichtsbücher nicht hinkommen.
Wie wurde der Film in Chile aufgenommen?
Sehr gut. Ich komme aus einer sehr rechtsgerichteten Familie. Wegen mir haben sie sich sogar den Film angesehen. Danach haben sie wenigstens nicht den Mund aufgemacht. Sie waren beeindruckt, mussten nachdenken. Das ist das eine Extrem. Auf der anderen Seite treffe ich überall Leute, die sich in dem Film wiederfinden, in den Schulen, in den Armenvierteln, vor allem die Frauen. Sie sprechen mich immer wieder an und danken mir, weil sie den Eindruck haben, dass auch sie mit dem Film sichtbar werden.
Wie sind die Reaktionen im Ausland?
Bei dem Festival in Brüssel habe ich den Film erstmals in Europa selbst vorgestellt. In Brüssel habe ich positives Feedback von Frauen aus allen möglichen Ländern bekommen, nicht nur aus Belgien, sondern auch aus Argentinien über Uruguay bis Algerien. Vorher war ich sehr unsicher gewesen, wie eine lokale Geschichte in einem europäischen Umfeld ankäme. Aber ich denke jetzt, dass der Film einen universellen Aspekt behandelt. Ich wünsche mir, dass der Film demnächst kostenfrei auf YouTube steht.1
Ihr nächstes Projekt ist ein Film über den Mann, dessen Selbstverbrennung in Concepción wegen des Verschwindens seiner beiden Kinder 1983 zum Auslöser für die Bildung der „Frauen für das Leben“ wurde. Bleiben Sie bei diesem Thema?
Bei meinen Recherchen zu „Hoy y no mañana“ tauchte der Fall Sebastián Acevedo immer wieder auf. Ich fragte mich, wie ein Vater aus Verzweiflung solch eine Tat begehen konnte. Er überlebte zunächst seine Selbstverbrennung. Seine Tochter, die von der CNI freigelassen wurde, konnte noch mit ihm reden, bevor er um zwei Uhr morgens starb. Im Film erzählt Candelaria von der Begegnung, die ihr Vater wegen seiner Verbrennungen zunächst nicht wollte. Sie ist seit kurzem Abgeordnete, was sehr wichtig ist, nicht nur für sie, sondern weil damit der Vater und die Gründe seiner Tat nicht vergessen werden. Im Film kommen Candelaria, ihr anderer Bruder, der nicht verschwand, die Mutter und ein Philosoph zu Wort. Letzterer verkettet die Geschichte theoretisch und begründet das Recht auf Gewaltfreiheit, aber auch das Recht, sich aufzulehnen.
- 1. Der Film steht inzwischen auf der spanischen Plattform www.filmin.es bzw. kostenlos auf www.ondamedia.cl
Das Online-Interview führte Gaby Küppers am 15. April 2023.