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Was, wenn wir die Macht hätten?

Packendes Porträt einer niederländischen FARC-Kämpferin: die Doku „Tanja – Tagebuch einer Guerillera“
Britt Weyde

Wer als junger Mensch aus Europa mit einigermaßen ausgeprägtem Unrechtsbewusstsein das erste Mal nach Lateinamerika gegangen ist, um freiwillig „zu helfen“, hat es vielleicht selbst erlebt: Die schreiende Ungerechtigkeit, die soziale Kluft, die offensichtlichen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse sind kaum auszuhalten. Auf dem jugendlichen Bewusstsein lastet eine zentnerschwere Schuld, denn der junge Mensch erkennt und nimmt sie sinnlich wahr, die Folgen unserer ungerechten Welt(wirtschafts)ordnung. Gleichzeitig ist der junge Mensch fasziniert, ja begeistert, von der etwas „anderen“, schwer in – nicht verkitschte – Worte zu fassenden Art und Weise, sich in Beziehung zu setzen, soziale Bindung auf eine etwas kollektivere Art und Weise zu leben als im globalen Norden. Und so setzt sie ein, die Überidentifikation mit dem neuen, temporären Zuhause. Die Sprache samt ihrer regionalen Besonderheiten wird begierig gelernt, Gesten, Gepflogenheiten, Gerichte, alles wird aufgesogen, angeeignet, mit Begeisterung gelebt.

So könnte es auch bei Tanja Nijmeijer gelaufen sein, dem „hübschen Gesicht“ (so titelte einst die FAZ) der kolumbianischen Guerilla FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia).

Über diese facettenreiche Persönlichkeit hat Marcel Mettelsiefen eine spannende Dokumentation gedreht, die im Juni bundesweit ins Kino kommt: „Tanja – Tagebuch einer Guerillera“.

Die in der niederländischen Kleinstadt Denekamp behütet aufgewachsene Tanja geht mit 19 Jahren nach Kolumbien. Dort will sie Englisch unterrichten. Wir schreiben die frühen Nullerjahre. Tanja guckt viel Fernsehen, um ihr Spanisch zu verbessern. Die Nachrichten sind beherrscht von den Gräueln des kolumbianischen Bürgerkriegs, von Kampfhandlungen, Attentaten und Entführungen. Immer wieder steht die FARC-Guerilla im Mittelpunkt der – tendenziösen – Berichterstattung. Tanja fragt sich: Wenn das so schlimme Menschen sind, warum machen dort so viele mit? Als der paramilitärische Terror zunimmt, beteiligt sich Tanja an einer zivilen Delegation zur Menschenrechtsbeobachtung im Departement Bolívar. Danach ist kein Halten mehr. Zunächst schließt sie sich einem städtischen Kommando der FARC an. Als nach dem Bombenattentat auf den Elite-Club El Nogal im Februar 2003 in Bogotá viele FARC-Mitglieder auffliegen, verstärkt sich der Verfolgungsdruck. Tanja taucht unter und geht in den Dschungel.

Es sind die Jahre der Eskalation unter Präsident Álvaro Uribe mit seinem unerbittlichen Hass auf die Guerilla und auf alle, die auch nur ein Milligramm Sympathie für sie beziehungsweise für die Beweggründe ihres bewaffneten Kampfs empfinden.

Im Dschungel findet Tanja eine Aufgabe, eine Gemeinschaft, Anerkennung. Sie integriert sich voller Begeisterung. Sie beobachtet allerdings auch genau und echauffiert sich über – leider auch bei den Herren Guerilleros vorzufindende – Macho-Allüren und Anfälligkeit für Korruption: „Wie wird es sein, wenn wir die Macht haben? Die Frauen des Kommandanten mit Silikontitten und Kaviar?“, schreibt Tanja in ihr Tagebuch. Diese Aufzeichnungen sind ein Geschenk für den Filmemacher (fürs Publikum ebenso), sie geben einen intimen Einblick in die Reflexionen der jungen Frau. Da diese Notizbücher eine entscheidende Rolle für den Plot des Dokumentarfilms sind und auch einen „Turning Point“ im echten Leben auslösten, trägt der Film völlig richtig seinen Titel.

Ein weiteres Glück für den Filmemacher müssen die Aufnahmen aus den Guerilla-Camps gewesen sein, die aufschlussreiche Einblicke gewähren: Camp-Alltag, Märsche, Übungen, Feiern inklusive Theateraufführungen und Paartanz (in Uniform und mit umgehängten Gewehren!). Tanja ist voll dabei, lächelt, raucht, schäkert und strahlt. „Die Guerilla ist meine Familie. Sogar mehr“, sagt sie in einem Interview. Selbstbewusst kontert sie, wenn sie mit der Bezeichnung „Terroristin“ konfrontiert wird: „Ich habe mich nicht für die Gewalt entschieden. Ich mache Politik in einem Land, in dem Politik mit Gewalt gemacht wird.“

Ebenfalls eine Fundgrube für die Dokumentation: die offenen, reflektierten Interviewpartner*innen, angefangen beim „Journalisten der FARC“ (wie er von den großen Medien genannt wurde, weil er einer der wenigen war, die sich in den Dschungel wagten), Jorge Enrique Botero, über die unerschrockene (oder unbedachte?) Journalistin Jineth Bedoya, ehemalige FARC-Kommandeure bis hin zu Tanjas niederländischer Studienfreundin Janneke (Adressatin des Dschungeltagebuchs) und Tanjas Mutter. Und schließlich Tanja Nijmeijer selbst. In den Gesprächssequenzen mit der Titelheldin wird ihre Entwicklung nachgezeichnet, vor allem, was ihre sich verändernde Position betrifft, im Hinblick auf die Frage, mit welchen Mitteln der dringend notwendige Kampf gegen ungerechte Landverteilung, Armut und Staatsgewalt geführt werden sollte. Diese Entwicklung erfolgt allerdings in Nuancen, denn letztlich bleibt Tanja Nijmeijer sich selbst und ihren politischen Grundüberzeugungen treu. So hat sie sich, als der Krieg noch andauerte, nie von der FARC und ihren Zielen distanziert, auch wenn dies nationale wie internationale Presse eine Zeit lang nahelegten. Allerdings zeigt der Film ausführlich Tanjas Zweifel („Manchmal kommen mir alle so kindisch vor, ich habe keine Lust mehr, Befehle von einem Haufen Sexisten zu befolgen“) und Selbstzweifel („Ich habe als Revolutionärin versagt: wollte solidarisch sein und habe das Gegenteil getan“).

Der Film konzentriert sich auf das Jahrzehnt 2003 bis 2013, als die Gewalt in Kolumbien extrem eskalierte. Journalist Botero fasst es so zusammen: „Irgendwann gab es keinen einzigen Kolumbianer, der nicht ein Familienmitglied, einen Nachbarn, einen Freund oder Freund eines Freundes gehabt hätte, der entführt worden war.“ Der Bürgerkrieg geriet in eine Pattsituation. Die Kriegsparteien kamen schließlich zu der Einsicht, dass keine Seite in der Lage sein werde zu „siegen“. Und dass es nun Zeit für Friedensverhandlungen sei.

Tanja wird Teil der „Internationalen Kommission“ und bringt sich ab 2013 in die Friedensverhandlungen in Havanna ein. Die Aufnahmen zeigen eine geschminkte, in zarte Blusen gekleidete, wortgewandte Tanja. „Was ist denn mit der Alten los? Die ist aber arrogant. Ist bestimmt ein Spitzel“, erinnert sich Boris Guevara, der ebenfalls für die FARC kämpfte. Heute ist er Tanjas Partner, mit dem sie samt Hund und Katze zusammenlebt. Arg zusammengeschrumpft ist sie, Tanjas einst so große FARC-Familie. „Wir dachten, dass die Reintegration kollektiv erfolgen würde“, stellt Tanja ernüchtert fest. „Und so viele sind in den letzten Jahren nach dem Friedensabkommen umgebracht worden.“ Die Zahlen geben ihr Recht. Eine aktuelle Studie des Forschungsinstituts Indepaz hat im März 2023 veröffentlicht, dass von der Unterzeichnung des Friedensprozesses im Jahr 2016 bis März 2023 1450 Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen getötet wurden. „Ich wollte die Strukturen dieses Landes verändern, aber das ist nicht passiert. Es ist, als ob wir in all diesen Jahren nichts erreicht hätten“, bedauert Tanja Nijmeijer gegen Ende des Films. Immerhin sind letztes Jahr in Kolumbien mit Gustavo Petro und Francia Márquez ein Präsident und eine Vizepräsidentin angetreten, die das Projekt eines anderen, gerechteren Kolumbiens anstreben. Doch dabei stoßen sie immer wieder an Grenzen, wie die jüngste Koalitionskrise Ende April erneut gezeigt hat. Was Tanja Nijmeijer wohl von der aktuellen Regierung und ihrer Reformagenda hält? Darauf gibt der Film keine Antwort. Muss er auch nicht. Dafür sorgt er für eine Menge anderer Einblicke und Einsichten.