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Ein Road Movie der anderen Art

Im Roman „Kramp“ der Chilenin María José Ferrada melden sich die Gespenster der Diktatur
Gaby Küppers

Es braucht Mut, Leute zu überzeugen. Wer traut sich schon mit einem Köfferchen voller Kataloge für Nägel, Fuchsschwänze und Türspione in die größte Eisenwarenhandlung vor Ort, um selbige in Kommission zu verkaufen? D., Eisenwarenvertreter in spe, erst einmal nicht. Doch dann hat er eine eher überraschende Erkenntnis: „In jedem Leben kommt es irgendwann zur Mondlandung.“ Wie das? Neil Armstrong hat gerade den Mond betreten. Wer will, der kann. Dergestalt beflügelt wagt sich D. am nächsten Tag in den Laden. Er behält Recht. Und landet einen vollen Erfolg.

Ein Romanauftakt, der schmunzeln lässt. Auch auf den folgenden Seiten bleibt das Gefühl, dem Kindesalter zwar entwachsen zu sein, aber immer noch genau nachvollziehen zu können, wie die Kleinen durch sorglose Vergleiche aus überhaupt nicht zueinander passenden Kategorien Dinge genau auf den Punkt bringen.

Denn es spricht eine Kleine. Ein Mädchen natürlich, und zwar über ihren Vater. Kleine Kinder sprechen oft von sich selbst in der dritten Person, so macht es auch M. Fast wähnt man sich in einem Kinderbuch – von denen die chilenische Autorin María José Ferrada tatsächlich um die 30 veröffentlicht hat, bevor sie den Erstlingsroman „Kramp“ vorlegte. Doch da sind ein paar Hinweise, die stutzig machen, wenn man zwischen den Zeilen der altklug-lustigen Darstellungen liest: 1969 betrat der erste Mensch den Mond. Die Welt geriet aus den altbekannten Angeln. Alles schien möglich. In Chile begann bald das sozialistische Experiment Salvador Allendes. Im November 1973 – das sind zwei Monate nach dem Putsch, was nicht erwähnt wird – lernt D., besagter Vater, seine zukünftige Frau kennen, eine offensichtlich traumatisierte Studentin. Ein Jahr darauf heiratet er sie und M., das Mädchen, wird geboren.

Sieben Jahre lang genießt es eine durchaus eigenwillige Erziehung, fast ohne Außenkontakte. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die Befähigung zur Kategorisierung der Welt, die es im Schnelldurchgang resümiert, ganz nach dem Motto des Vaters: „... alles lässt sich erklären, wenn man die Schubfächer einer Eisenwarenhandlung aufzieht ... Oder man nimmt die Sägen und Hämmer dafür, die dort an der Wand hängen.“ Alles, das bedeutet: „Die Funktionsweise kompletter Ökosysteme, das Gesetz von Ursache und Wirkung, die Relativitätstheorie“. Tatsächlich alles also.

Nachdem M. mithin weiß, was die Welt im Innersten zusammenhält, Erzeugnisse der Firma Kramp nämlich („Unwahrscheinlich, ... dass ein zu achtzig Prozent aus Kramp-Produkten errichtetes Haus bei einem Erdbeben oder Wirbelsturm einstürzt“, meint der Vater), ändert sich die Erzählinstanz und M. steigt als Ich-Erzählerin ein. Ach was: als ausgebuffte Assistentin ihres Vaters, des reisenden Kramp-Eisenwarenvertreters. Dafür schwänzt sie mithilfe ihres Vater-Komplizen die Schule und beschummelt die daheim irgendwie abwesend-traurige Mutter.

Man kann das Buch nun nicht zu knapp belustigt als Road Movie à la „Paper Moon“ lesen. Wer anbeißen will: Ein erst einmal abgedreht wirkendes Zitat aus dem Film ist Programm („Du schuldest mir immer noch zweihundert Dollar“), M. fordert wie im Film ihren Anteil am Geschäft des Vaters, das kleine Mädchen raucht wie Addie in „Paper Moon“. Aber Köder sind auch Fährten.

So wie M. ihre, wie sie sagt, „Parallelerziehung” im Nagel-, Fuchsschwanz- und Hammerverkauf erlebt, die sie zweifellos lebenstüchtiger macht als ihre Mitschüler*innen, kann die Leserin, während sie bequem im Sessel sitzt, hinter der vordergründigen Geschichte eine Parallelwelt entdecken. Denn dahinter liegt die wirkliche Wirklichkeit, die für die realen Chilen*innen der Zeit lebensgefährlich bis tödlich war. „... meine zu fünfundneunzig Prozent aus Kramp-Produkten errichtete Konstruktion war in sich zusammengefallen, wie ein Kartenhaus“ – wer will, kann das nur als Notiz nach dem Erdbeben von 2010 lesen, doch zur Erinnerung: Wir befinden uns Anfang/Mitte der 1980er-Jahre in Pinochets Chile.

Vater und Tochter freunden sich mit E., einem Filmvorführer in der Universität, an, der ihnen auch außerhalb der normalen Kinozeiten Filme zeigt. E. ist auch Schwarz-Weiß-Fotograf, spezialisiert auf das Fotografieren von Gespenstern in verlassenen Dörfern. Das liest sich wie eine Kinderfantasie. Doch dann ruft E. einmal an und will sich von Vater und Tochter von dort abholen lassen. Schnell, unauffällig, bitte. Er hat die gesuchten Gespenster fotografieren können. Das geht, man ahnt es, schlimm aus. Das Auto wird gestellt, die Männer werden herausgezerrt. M. weiß, dass ihre üblichen Charmeoffensiven jetzt nutzlos sind. E. wird erschossen, D. gefoltert. Eins der Gespenster auf E.s Fotos ist, erfährt M. später, die Leiche von Jaime Andrés Suárez Moncada, der ersten Liebe von M.s Mutter. Der, den sie schon jahrelang suchte, als sie D. traf und einen Strich unter ihr bisheriges Leben zu machen versuchte. Der von der Diktatur Ermordete ist der Einzige, der in dem Buch einen vollständigen Namen trägt. Nicht zufällig.

M.s Road-Movie-Zeit ist zu Ende. Die nächsten Jahre lebt sie bei ihrer Mutter, die D. verlässt, wieder heiratet und ein zweites Mädchen bekommt. Die Zeit scheint stillzustehen. Und doch. Während eines Besuchs bei ihrem Vater erfährt M., dass die Firma Kramp nicht mehr existiert. Es ist ihr letzter Besuch, wie beide wissen. Sie steigt in den Zug. Der Mond ist noch derselbe wie bei Neil Armstrongs ersten Schritten auf ihm, „andere Dinge hatten sich jedoch für immer verändert“, sagt M. Der Zug fährt an. M. schläft ein.

María José Ferradas Roman erschien 2017, zwei Jahre vor dem Ausbruch der sozialen Rebellion in Chile. Im Oktober 2019 wagten sich endlich massenhaft Menschen auf die Straßen Chiles, das auch mehr als zwei Jahrzehnte nach seinem offiziellen Ende immer noch herrschende Wirtschaftsmodell der Pinochet-Diktatur zu überwinden. Der Schluss des Romans deutet diese Möglichkeit an. Es macht Mut, dass eine Autorin, die erst 1977, vier Jahre nach Pinochets Putsch, geboren wurde, den Vorhang einer Zeit aufreißt, der wie ein Schleier des Nichtwissenwollens über allem lag. Und es ist ein Genuss, wie sie für den Akt selbst und das, was dahinter zum Vorschein kommt, unerhört packende Worte und Bilder findet, die über das Erzählte hinausweisen. Der Roman, von Peter Kultzen sehr treffend übersetzt, hat gerade mal 129 Seiten, noch viel weniger, wenn man die großzügigen Abstände zwischen den knappen Kapiteln herausrechnet. Wer aber sein Kopfkino einschaltet, für den und die werden es viermal so viele Seiten. Mindestens.