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Es lebe die Ambivalenz

Von der Unmöglichkeit, Cuba zu verstehen

Morgendlicher Dialog am Kiosk der staatlichen „DiTú“-Kette an der Ampel von Guanabacoa, Havanna: „Macht ihr auf?“ - „Ja, wir machen gerade auf!“ - „Was gibt es heute?“ - „Nichts, es gibt nichts zu kaufen.“ - „Kommt noch was rein?“ - „Mal sehen“, sagt die Verkäuferin, die nichts verkauft, wie im Bemühen, die eigene Existenz zu rechtfertigen. Eine ehrlichere Antwort wäre gewesen: „Nein, da kommt nichts mehr, genauso wenig wie gestern oder vorgestern“. Cuba – eine Chiffre für absurdes Theater?

Andreas Hesse

Ein leerer Kiosk geht noch, eine leere Apotheke schon weniger. Importkapazitäten fehlen für Medikamente wie für Rohstoffe für die pharmazeutische Produktion. Ergebnis: eine Teilprivatisierung der Medikamentenversorgung. Neben dem bekannten Schwarzmarkt – unter der Theke der Apotheke – holen jetzt die privaten Mulas (Maultiere) Antibiotika etc. aus dem Ausland und verkaufen sie zu einem Mehrfachen des Normalpreises. Was bleibt übrig, als den Gürtel noch enger zu schnallen und zu zahlen? Ab Juni soll sich die Medikamentenversorgung wieder verbessern, so man den Verlautbarungen Glauben schenkt.

Andererseits: Die Erfolge im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie mit den selbstentwickelten Impfstoffen Abdala und Soberana/Soberana plus sind inzwischen hinlänglich bekannt, und der Stolz der Menschen darauf ist mit Händen zu greifen. Die Anerkennung durch die WHO steht noch aus, trotzdem wird Abdala bereits in mehrere Länder exportiert. Kein Wunder: Cuba exportiert schon lange Medikamente, Impfstoffe – so gegen Meningitis B – und Naturheilprodukte. In der Krebsforschung ist man an der Weltspitze. Die Liste der Länder, in die das Diabetesmedikament Heberprot P exportiert wird, verlängert sich mit Südkorea ab sofort auf 25 Empfänger. Eine Erfolgsgeschichte. Noch in diesem Jahr soll ein neues, vielversprechendes Arthritismedikament an den Start gehen. Handelt es sich wirklich um dasselbe Land?

Die Probleme nehmen kein Ende. Für manche liegt das an der Unfähigkeit des staatlichen Systems, für andere am Zusammenwirken von Pandemie und verschärfter US-Blockade. Man kann es so sehen, dass von den humanitären Idealen der Revolution nur noch nostalgische Erinnerungen übrig und an deren Stelle pathetische Symbolik, Mangel und Repression getreten sind. Man kann es auch so sehen, dass das Land vehement gegen die Auswirkungen der verschärften US-Blockade ankämpft und unter schwierigsten Bedingungen das Überleben der Menschen garantiert, soziale Rechte bewahrt und obendrein noch hochwirksame Impfstoffe entwickelt. Jede(r) kann die eigene Projektionsleinwand mit „Beweisen“ füllen. Doch je voller die Leinwand, desto unschärfer wird das reale Cuba im Bild.

Die Produktion und die gekürzten Importe decken die Bedarfe nicht. Die Geldentwertung erinnert an die traumatischen 90er-Jahre. Der Migrationsdruck ist groß. „Vulkane gucken“ ist das Synonym für die Auswanderung via Nicaragua, wo man visumfrei einreist und sich dann Richtung Norden bewegt. Im März 2022 wurden laut Washington Post 32000 Cubaner*innen an der Südgrenze der USA aufgegriffen. Nicht alle sind Habenichtse, manche hatten auch Haus und Auto verkauft, um ein Startkapital zu haben. Es kursieren Geschichten von Menschen, die mit diesem Geld die mexikanische Mafia alimentierten und ohne einen Cent in der Tasche in den USA landeten oder gar umkehrten und nun wieder zu Hause sitzen, nur jetzt ohne Haus und Auto. Auch in Cuba gibt es bereits eine (Pass-)Mafia. Gutgläubige Menschen erscheinen mit teurem Visum und Ticket für das Land der Wahl am Flughafen, und dort endet die Reise. Die Dokumente waren gefälscht.

Andere bewegen sich geschickter in der globalisierten Welt, ganz ohne Auswanderung. Eine Familie aus Havanna reist nach Mexiko, kauft in großem Stil ein und verkauft die Waren mit Gewinn daheim. Es läuft gut, das Haus ist voller Statussymbole, der Kühlschrank groß wie ein Wandschrank. Innovativ ist eine Reiseführerin aus Havanna. Sie erteilt in der tourismusarmen Coronazeit mexikanischen Neumigrant*innen in den USA Englischunterricht im virtuellen Format. Das Honorar kommt per mexikanischer Heimatbank der Schüler*innen nach Cuba. Ein Mann aus Santiago de Cuba arbeitet öfters für ein paar Monate in Spanien und steckt alles in sein zunehmend schönes Haus. Arbeiten in Europa und leben in Cuba, ein Zukunftsmodell?

Die Doppelwährung ist abgeschafft? Nicht wirklich. Nach der Währungsreform gibt es ein Angebot in Peso und ein Angebot in MLC, was für Moneda libremente convertible - frei konvertierbare Währung - steht, der Wert entspricht dem US-Dollar. Manche Produkte des täglichen Bedarfs findet man nur in diesen so begehrten wie verhassten teuren Läden, in denen mit MLC-Karte bezahlt werden muss, was den Zugang erschwert. Wirtschaftsminister Alejandro Gil Fernández erklärte jüngst, diese Geschäfte stellten aktuell die einzige Möglichkeit dar, Devisen abzuschöpfen, das Allernötigste zu importieren und somit auch die subventionierten Basisprodukte der Libreta für die Normalbevölkerung zu garantieren. Schließe man die Läden, sei man binnen weniger Tage pleite.

Ein etwas abgenutzter Witz erklärt die Errungenschaften und die Probleme der Revolution. Die letzteren seien genau drei: Frühstück, Mittag- und Abendessen. Das neue Jahr startete durchwachsen. Treibstoff- und Wartungsprobleme führten zur schlechtesten Zuckerrohrernte überhaupt. Beim Grundnahrungsmittel Reis blieben die Erträge bis Ende Februar hinter den Planungen zurück, ebenso bei Rind- und Schweinefleisch. Gut läuft es bei Fisch und Meeresfrüchten, Honig und nach Erhöhung der Erzeugerpreise nun auch bei Milch. Von den bis Ende März neu zugelassenen knapp 3000 selbstständigen kleinen und mittelgroßen Betrieben ist ein Teil auch in Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie aktiv. Das Monopol der logistisch überforderten Ankaufs- und Vertriebsgesellschaft Acopio wird endgültig beseitigt. Und man will den Anbau von Erbsen und Kichererbsen fördern, bei letzteren gibt es schon positive Ergebnisse. Man braucht Alternativen zur Bohne, die unter Schädlingsbefall leidet, dem ferner auch mit biologischer Schädlingsbekämpfung aus Tabakresten begegnet wird. Und man setzt auf Getreide. Sorghumhirse wird schon angebaut, doch nun richten sich die Erwartungen sogar auf Weizen. Das Zentrum für Agrarstudien CIAP hält das für machbar. Man muss sich etwas einfallen lassen, denn der Weizenpreis geht durch die Decke. Das in der Karibik seit indianischer Zeit bekannte Maniokbrot Casabe, das in der DomRep jeder Supermarkt anbietet, wurde in Cuba vernachlässigt. Das rächt sich heute.

Die Nerven liegen blank. Eine harmlose Pointe des Schauspielers Patricio Wood im Fernsehen („Was bietet ihr mir Milchkaffee an, es gibt doch gar keine Milch“) führte hinter den Kulissen zu Wutausbrüchen. Der Wirtschaftsminister darf im Fernsehen über Versorgungsengpässe reden, aber doch nicht irgendein Studiogast. Wenn die großen Medien die Abbildung von Realität verweigern, verwundert nicht, wenn junge Menschen im Smartphone nach alternativen Fakten suchen und prompt in die Fänge der Gegenpropaganda geraten. Der Staat versteht nicht, dass die beharrliche und unentwegte positive Bejahung der Verhältnisse deren Ablehnung beim Empfänger der Botschaft schon in sich birgt. Überpolitisierung führt per dialektischem Umschlag zu Apolitisierung (oder Gegenpolitisierung). Dabei geht es auch anders. Das kleine Studierendenmagazin Alma Mater befragte namhafte cubanische Ökonom*innen zu den MLC-Läden, und diese verwarfen prompt die Argumentation des Wirtschaftsministers. Das Konzept entbehre der Nachhaltigkeit, und der politische Flurschaden sei viel zu hoch.

Denn der soziale Zusammenhalt wird porös. Wer Geld hat, und das sind einige, für den und die geht fast alles, ob Devisenladen, ob Kurzurlaub in Varadero. Zynisch zugespitzt: Korruption lohnt sich. Das Thema der wuchernden Korruption flackert in den Medien alle paar Jahre auf und verschwindet wieder. In der Bevölkerung verschwindet es nicht. Das Problem ist zum Beispiel in Behörden notorisch, die mit den Behausungen zu tun haben, also Vivienda und Planificación física, trotz Verfolgung durch das Strafrecht. Auch die Zunahme von Gewaltkriminalität beunruhigt. Mag es im lateinamerikanischen Vergleich auf der Insel noch sehr friedlich zugehen, hat die Krise dennoch Regellosigkeit fördernde Prozesse im Schlepptau. Die Polizei wird wegen ihrer so empfundenen Passivität kritisiert, die Polizeipräsenz in den Straßen ist auch erstaunlich gering.

Das würde Guillermo „Coco“ Fariñas, bekennender Dissident aus Santa Clara, wohl anders sehen. Im konservativen EU-Parlament liebt man ihn und verlieh ihm einst, 2013 war‘s gewesen, den Sacharow-Preis. Fariñas war jetzt erneut in Europa zu Gast und nannte im Gespräch mit EU-Parlamentspräsidentin Metsola die Repression sowie den Lebensmittel- und Medikamentenmangel als Hauptargumente gegen das cubanische System. Im EU-Ambiente muss er mit kritischen Nachfragen nicht rechnen, weder zur Gewaltfrage und warum er in Miami ausgerechnet zum Grab des exilcubanischen Terrorfinanziers Jorge Más Canosa pilgerte, noch ob er als Verfechter der US-Politik gegen Cuba nicht selber zum dortigen Mangel beiträgt.

Fariñas‘ logische Widersprüche illustrieren ungewollt das gegensätzliche Verhalten der Bevölkerung am 11. Juli und am 15. November letzten Jahres. Cubanxs sprechen vom spontanen Charakter der Erhebung am 11. Juli, entgegen der von Regierungsseite behaupteten von außen orchestrierten Kampagne. Der Höhepunkt der Pandemie mit vielen Todesfällen und die Engpässe bei Lebensmitteln, Medikamenten und Stromversorgung – tote Kühlschränke und Ventilatoren im Hochsommer! – hätten das Fass zum Überlaufen gebracht. Man habe gar nicht mehr anders gekonnt, als auf die Straße zu gehen.

Der 15. November hatte einen anderen Charakter: Patria y Vida-Opposition und radikales Exil trommelten wochenlang und sahen eine große Erhebung voraus, und es geschah ... nichts. Die perplexe internationale Öffentlichkeit konnte sich dies nur mit zunehmender Repression erklären. Dabei hätte man leicht die von der Opposition geforderten Zeichen setzen können: Fernseher ausschalten, weiße Kleidung tragen, Töpfe schlagen. Oder die Kinder am ersten Schultag mit Präsenzunterricht zu Hause lassen. Tatsächlich aber sehnten sich die Menschen nach Normalität. Der symbolträchtige Tag stand für Wiederhochfahren von Schule und Tourismus, nicht für Revolte. Dem hatte die Opposition nur Ideologie entgegenzusetzen: keine Normalität, keine Schule, Ausnahmezustand statt Tourismus, weiter so mit der Blockade. Wer wie Fariñas für eine Verschärfung der Situation durch internationalen Druck trommelt, macht sich daheim keine Freunde. Doch auch der Rückhalt für den etwas gemäßigteren Yunior García, der sich kurzzeitig zum Oppositionsführer aufschwang, um dann schnell nach Spanien zu verschwinden, war und ist gleich Null. García sagt, er wolle nach Cuba zurückkehren. Nun ja. Wahrscheinlicher sei „Jesus Christus‘ Rückkehr zur Erde“, spottet der Satiriker Eduardo del Llano.

Blickt man von einer x-beliebigen Dachterrasse nahe des Malecón in Centro Habana hinab, so lässt der Zustand der Gebäude an bewohnte Geröllhaufen denken. Wer dort leben muss, hat nichts mehr zu verlieren, sagt der Schaupieler Yasmany, der vorübergehend im Centro lebt. Ähnlich sieht es im Cerro aus. Anders im Municipio Regla. In dem Bezirk auf der anderen Seite der Bucht wird gehämmert und gestrichen, renoviert und restauriert. Die Plaza soll bald wieder ansehnlich sein, sogar unter Mitwirkung einer der neuen privaten Firmen, sagt das Informationsschild.

Gerade hier waren die Unruhen am 11. Juli besonders heftig, viele in prekären Umständen lebende Menschen waren dabei. Hinterher machte sich Erschrecken über das Ausmaß der Gewalt breit. Während international nur die Polizeigewalt benannt wird, zielt das Entsetzen in Regla auf eine nicht friedliche Minderheit von Demonstrant*innen. So sei ein Abgeordneter des Gemeindeparlaments krankenhausreif geschlagen worden. Die 17-jährige Analay aus Regla beschreibt ihre Generation: Ein aktives Eintreten für die Revolution finde man an ihrer Schule nur bei einer winzigen Minderheit. Andererseits sei die Identifikation mit Regime-Change-Trommlern wie Otaola auch nur bei einer Minderheit gegeben. Die große Mehrheit ihrer Mitschüler*innen sei apolitisch und wolle sich halt durchwuseln oder auswandern, für Politik sei da kein Platz.

Besagter Alex Otaola ist in aller Munde. Das Fernsehen greift den bekanntesten Hassprediger des Exils in „Con Filo“ an, Zielgruppe der Sendung sind die Jüngeren. Quer durch alle (Bildungs-)Schichten trifft man auf Ablehnung des Propagandisten, der sich durch extreme Intoleranz auszeichnet und gern so tut, als spreche er für eine Mehrheit von Cubaner*innen. Die im Medienbereich tätige Consuelo kritisiert hingegen, dass es auch auf der Insel Ausprägungen von Hasskultur gebe, vor allem die archaischen Spektakel der organisierten Actos de repudio (Akte der Verachtung) gegenüber angeblichen oder tatsächlichen Systemgegnern.

Vor einem Jahrzehnt stellte der bekannte Ökonom Juan Triana Cordoví von der Uni Havanna fest, dass infolge der über die Jahre immer weiter verschärften US-Aggression gegenüber Cuba sich auf der Insel im Rahmen der Konfrontationslogik eine Wagenburgmentalität herausbilde, die zu systemischen Dysfunktionen im ökonomischen und gesellschaftlichen Bereich führen müsse (J.Triana Cordoví: „Cuba 2010-2011: del crecimiento posible al desarrollo necesario“). Cuba wird nun seit über 60 Jahren konstant bedroht. Die Obsession Washingtons, das Land wirtschaftlich und politisch zu erdrosseln, ist rational nicht erklärbar. Joe Biden hat keine einzige von Trumps 243 zusätzlichen Sanktionen gekippt. Obama hatte die Blockadewand angeknackst, es gab Aufschwung und Hoffnung. Doch das war ein Betriebsunfall der Geschichte, längst herrscht wieder Business as usual, und das in negativer Verstärkung. Die Verschärfung brachte auf der Insel die – von Washington erhoffte – innere Verhärtung. So gibt es zum Beispiel mehr Zensurfälle im Kino. „Was wäre denn passiert, wenn bestimmte Filme gelaufen wären?“, fragt der Regisseur Fernando Pérez und antwortet selbst: „Nichts wäre passiert, das Leben wäre einfach weitergegangen. Aber man hätte bestimmte Produktionen nicht durch ein Verbot aufgewertet.“ Ein souveräner Umgang mit der permanenten Aggression von außen wäre schön, ist aber unrealistisch. Das dialektische Verhältnis von Bedrohung und Verhärtung wird weder vom traditionalistischen (DKP-nahen) Teil der Solidaritätsbewegung und seinen Medien noch von den deutschen Hegemonialmedien reflektiert. Die eine Seite verschweigt die Missstände, die andere ist nicht bereit, diese zu kontextualisieren. Alle wollen Eindeutigkeit und neigen zu Komplexitätsreduktion, was einen systemischen Blick auf die Akteure und ihre Interaktionen verhindert. Plakative Zuschreibungen blockieren Auseinandersetzung. Statt den Cubanxs mit ihren Nöten, Wünschen und ihrer Kritik zuzuhören, ist bei den einen nur von „Konterrevolutionären“ oder „Feinden Cubas“ die Rede, was ein Verstehen dessen, was auf der Insel passiert, unmöglich macht, und auf der anderen Seite hält eine Tageszeitung aus dem grün-alternativen Mainstream, die mit kleinen Ausnahmen sehr negativ über Cuba berichtet, mit eigenem Wortgeklingel dagegen. Auslandsredakteur Bernd Pickert verteilt in einem wutschnaubenden Kommentar zum 15. November ein Brandzeichen: die Insel sei „eine der letzten Stasi-Diktaturen“. Selbiges Blatt war übrigens am kritiklosen Hype in Deutschland um die Dissidentin Yoani Sánchez nicht unbeteiligt. Als Sánchez sich in Brasilien zum blanken Entsetzen der dortigen Menschenrechtsszene von Jair Bolsonaro durchs Land führen ließ und ihren Ruf als Oppositionsikone ruinierte, gab es von dem Blatt dazu nur gesammeltes Schweigen. Es gibt Dinge, die man seiner Leserschaft lieber nicht zumutet. Wer derzeit am differenziertesten aus Cuba zu berichten versteht, ist Andreas Knobloch („nd“).

Der auf Lateinamerika spezialisierte Tobias Käufer hingegen arbeitet für konservative Medien wie die Welt oder das Kölner Domradio und wittert überall eine linkslastige Journaille am Werk, die Cuba alle Menschenrechtsverletzungen durchgehen lasse. Das könnte man auch umgekehrt sehen. Die Erhebung des 11. Juli kostete tragischerweise ein Menschenleben und ist international bis heute ein Medienthema. Die gewaltsame Niederschlagung der Hungeraufstände in Kolumbien einen Monat zuvor mit über 70 Todesopfern wurde von den großen deutschen Medien dagegen nur kurz zum Thema gemacht und schnell wieder vergessen, die 28 Todesopfer eines Polizeieinsatzes ungefähr zur gleichen Zeit in einer Favela in Rio de Janeiro wurden nicht einmal erwähnt.

Eine Bewertung des 11. Juli und seiner Folgen ist infolge fehlender seriöser Quellen nicht einfach. Den tendenziösen offiziellen Verlautbarungen stehen tendenziöse Angaben systemkritischer Herkunft gegenüber. Die gern zitierte Organisation Cubalex erhält Gelder aus dem US-Staatshaushalt und scheidet als glaubwürdige Quelle aus. Die auch von Cubalex mal gehandelte dreistellige Zahl angeblich nach dem 11. Juli Verschwundener entbehrte jeglicher Seriosität. Als ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft begann, die Liste abzutelefonieren, konnte er mehrere „Verschwundene“ zu Hause antreffen. Gut, dass es noch Festnetz gibt. Andererseits erscheint die Kritik an den im März erfolgten Verurteilungen zu drakonischen Strafen zwischen sechs und 30 Jahren wegen Gewalt und Sachbeschädigung allzu berechtigt. Landeskundige ahnen zwar, dass die Haft nicht so lange dauern wird, gemäß den Gepflogenheiten auf der Insel wird eher nur ein kleiner Teil der Strafe verbüßt (das genau ist der Unterschied zu politischen Langzeitgefangenen in den USA). Doch die moralische und auch taktische Fragwürdigkeit der Urteile bleibt, denn Cuba zeigt hier sein hässliches Gesicht und liefert seinen Kritiker*innen einen Steilpass.

Ein ganz anderer Ausblick zur Menschenrechtsfrage bietet sich mit dem geplanten neuen Familiengesetz. Es soll die Rechte von Frauen, Kindern, Behinderten und Alten stärken und die Ehe und ein Adoptionsrecht für Gleichgeschlechtliche ermöglichen. Ein für lateinamerikanische Verhältnisse fortschrittliches Gesetz. Falls es denn in Kraft tritt. Für September ist ein Referendum geplant. Die evangelikalen Kirchen laufen Sturm gegen die Pläne und finden Unterstützung beim radikalen Exil. Am anderen Ende des Spektrums zeigt sich die LGBTIQ-Gemeinde verstimmt über das Referendum. Man stellt doch Menschenrechte nicht zur Abstimmung! Das Verhältnis formaldemokratischer Verfahren zu menschenrechtlichen Inhalten ist nicht spannungsfrei. Mal zu wenig, mal zu viel Demokratie: die Kritik an Cuba ist vielschichtig. Wie bringt man das auf einen Nenner?

Das Meinungsspektrum auf der Insel ist heterogener denn je. Heterogen bedeutet auch, dass die flächendeckende Regime-Change-Stimmung eine Wunschprojektion des Westens ist und so nicht existiert. Das ist kein Grund zur Entspannung. Die Haltung zur eigenen Gesellschaft verändert sich im Zuge des Generationenwechsels. Fragen zu Medientransparenz, Partizipation, wirtschaftlicher Effizienz, Korruption oder Funktionärswillkür werden heute aggressiver gestellt. Die Jüngeren verfügen nicht mehr über die Erfahrung persönlicher Emanzipation durch die Revolution. Sehen sie sich mit ihren Fragen nicht ernst genommen, werden sie leicht zum Opfer der Exilscharfmacher. Generationenübergreifend wollen alle wirtschaftliche Ergebnisse sehen, vor allem in der Lebensmittelproduktion. Ob es diesmal gelingt?

Je unsicherer man sich mit einer solchen Frage fühlt, desto besser. Wer glaubt, Cuba verstanden zu haben, hat keine Fragen. Doch wer keine Fragen hat, hat nichts verstanden.