Befreien, Erinnern, Unterrichten, mit dem Herzen Denken, Feiern und Dekolonisieren – was hat das alles miteinander zu tun? Das Gemeinsame: Um diese Handlungen kreisen die Beiträge im aktuellen Schwerpunkt „Philosophie“, für den wir viele Autor*innen „vom Fach“ aus Lateinamerika gewinnen konnten.
Ein weites Feld haben wir uns vorgenommen, dementsprechend ausufernd sind die redaktionellen Diskussionen um Eingrenzungen und Fokussierungen verlaufen. Als die Suche nach potenziellen Autor*innen beginnt, stellen wir fest, dass einige wichtige zeitgenössische Philosoph*innen aus Lateinamerika schon längst in der ila besprochen werden beziehungsweise selbst zu Wort kommen: Maristella Svampa, Verónica Gago und Laura Rita Segato aus Argentinien, Yuderkys Espinosa Miñoso aus der Dominikanischen Republik oder Bolívar Echeverría (Mexiko/Ecuador), um nur einige wenige zu nennen. Wenn wir etwas weiter zurückgehen, ist Enrique Dussels „Philosophie der Befreiung“ wichtige Referenz und Inspirationsquelle für die ila gewesen. Und wenn wir noch ein bisschen weiter zurückgehen, führt kein Weg vorbei an einem globalen Top-Philosophen, der zwar an der Mosel geboren wurde, dessen Werk aber in Lateinamerika mindestens genauso rezipiert wurde und wird: Karl alias Carlos Marx.
Ein Best of Philosophy ist also sowieso in der ila vertreten, was sollten wir dem Neues hinzufügen?
Was ist überhaupt Philosophie? Die Lexikon-Definition besagt, dass diese Disziplin, die „Liebe zur Weisheit“, die menschliche Existenz, das Leben und die Welt hinterfragen, verstehen und deuten möchte. Philosophie ist also das Streben nach Erkenntnis über den Sinn des Lebens, das Wesen der Welt und die Stellung des Menschen in der Welt.
Die meisten unter uns mussten im Philosophieunterricht das Höhlengleichnis von Platon durchkauen, Kants Kategorischen Imperativ verinnerlichen oder John Lockes „Abhandlungen über die Regierung“ interpretieren. Dass diese Klassiker (fast ausnahmslos Männer), die Erfinder des Universalismus sowie der Idee von der Gleichheit der Menschen und der Menschenwürde, selbst in die Macht- und Gewaltverhältnisse ihrer Zeit verstrickt waren, lernten wir in der Schule nicht: Aristoteles war Sklavenhalter, Kant ein Rassist und Locke Mitglied der Royal African Company, einer Handels- und Aktiengesellschaft, die aus Versklavung und Verschleppung von Menschen aus Afrika Profit schlug. Denken im luftleeren Raum ist nicht möglich, Philosoph*innen sind nun mal „Kinder ihrer Zeit“.
Das heutige Schulfach „Praktische Philosophie“ hat ein anderes Curriculum. Darin geht es auch um Werte und Ethik, aber konkret angedockt an den Lebensalltag der Schüler*innen. Das Verständnis von Philosophie befindet sich also im steten Fluss, im Prinzip kann über alle wichtigen menschlichen und gesellschaftlichen Themen philosophiert werden. Dass Philosophie auch ganz praktisch und aktuell die Politik mitgestaltet, wird spätestens dann deutlich, wenn hierzulande der Ethikrat Empfehlungen zu politischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-Pandemie abgibt.
In der Lehre, an den Universitäten sind die (westlichen, europäischen) etwas verstaubten „Klassiker“ aber immer noch präsent. In Lateinamerika gelten diejenigen als Philosoph*innen, die sich der klassischen Philosophie widmen; ist dies nicht der Fall, lautet die Bezeichnung Aktivist*in, Politiker*in, Autor*in und so weiter.
Philosophie ist somit, das schreiben auch einige Autor*innen in dieser ila, eine Disziplin, die stark vom Eurozentrismus geprägt ist. Und den gilt es zu überwinden, indem die Philosophie aus dem akademischen Elfenbeinturm herausgeholt und neuen Subjekten Platz und Gehör eingeräumt wird.
Ein weiteres Diskussionsergebnis lautet, dass Philosophie mit einer kritischen Haltung verbunden sein sollte. Schließlich bleibt Philosophie ohne Kritik blutleer. Und Kritik berücksichtigt die soziale Frage, will nicht nur zum Denken, sondern auch zum Handeln mobilisieren, dazu anregen, dass Individuen, aber auch Gesellschaften Verantwortung übernehmen: dass mögliche gesellschaftliche Veränderungen nicht nur analysiert und dargestellt, sondern auch Wege dahin entworfen werden. Oder wie es der oben erwähnte Moselaner ausdrückte: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an sie zu verändern.“ Mit dieser ila wollen wir einen kleinen Baustein dazu beisteuern.