Neben Brasilien ist Peru das lateinamerikanische Land, das es in den letzten Jahren am häufigsten in die Schlagzeilen internationaler Medien schaffte. Meistens ging es dabei um die Absetzung amtierender oder die Verhaftung vormaliger Präsidenten, oft auch um Unruhen, die den Präsidentenstürzen vorausgingen oder auf diese folgten. Der letzte Staatschef, der seine Amtszeit regulär zu Ende brachte, war Ollanta Humala, der von 2011 bis 2016 amtierte. Doch nach seiner Amtszeit war auch Humala zeitweilig in Haft, ebenso wie sein Vor-Vorgänger Alejandro Toledo oder seine Nachfolger Pedro Pablo Kuczynski (derzeit in Hausarrest) und Pedro Castillo. Humalas direkter Vorgänger Alan García entzog sich der Verhaftung durch Suizid. Mit Ausnahme Castillos wird den Ex-Präsidenten Korruption im Amt vorgeworfen.
Politiker*innen genießen in Peru einen denkbar schlechten Ruf. Sie gelten als bestechlich und nur auf den persönlichen Vorteil bedacht. Die indigene Bevölkerung des Hochlands erlebt zudem viele Politiker*innen in Lima als rassistisch. „Que se vayan todos – Alle (Politiker*innen) sollen verschwinden“ ist eine beliebte Parole auf Demos. Das hält der Politikwissenschaftler Maurico Zavaleta für verkürzt, denn wenn die alten Politiker*innen weg sind, ist die Frage, ob es irgendwo bessere gibt. Nicht nur er, sondern viele kritische Beobachter*innen in Peru sehen zwar bei den Politiker*innen aller Couleur massive Defizite und Eigeninteressen, halten jedoch die Schwäche einer organisierten Zivilgesellschaft für das weitaus größere Problem. Als Folgen der Fujimori-Diktatur und der neoliberalen Politik seien es gerade die ärmeren Bevölkerungsgruppen, die sich nicht oder zu wenig für die Verteidigung ihrer Interessen organisierten.
Zu diskutieren ist aber auch die Frage, welche Organisierung wahrgenommen wird, wenn es nicht
klassische Parteien oder – oft vom Ausland unterstützte – Nichtregierungsorganisationen sind.
Die Unternehmer haben fraglos ihre Verbände und Lobbygruppen und setzen darüber massiv und rücksichtslos ihre Interessen im Bergbau und in der Exportlandwirtschaft durch. Bäuerliche, gewerkschaftliche oder andere soziale Organisationen sind dagegen schwach und gehen in den Medien unter. Wohl auch deshalb gibt es keine Parteien, die den sozialen Bewegungen verpflichtet sind. Das hat sich in der jüngeren Vergangenheit gerade bei den linken Parteien gezeigt.
Doch egal ob die Kandidat*innen im Wahlkampf einen progressiven oder einen (ultra)konservativen Diskurs pflegten, einmal gewählt sind sie den „faktischen Mächten“ zu Diensten.
Die recht geläufigen Amtsenthebungen von Staatsoberhäuptern waren stets von Demonstrationen
begleitet, aber dann war wieder Ruhe. Dieses Ritual wurde aufgebrochen, als im Dezember 2022 Präsident Pedro Castillo abgesetzt wurde, nachdem er versucht hatte, das Parlament aufzulösen. Trotz progressiver Rhetorik im Wahlkampf hatte er als Präsident wenig positive Akzente gesetzt (lediglich in der kurzen Amtszeit von Premierministerin Mirtha Vásquez gab es einige Reformansätze). Sein Sturz mobilisierte dennoch die Bevölkerung in den andinen Regionen. Für sie waren das Dauerfeuer der Eliten gegen Castillo und seine Absetzung ein weiterer Versuch der alten (weißen) Machtgruppen, ihre Herrschaft und die Ausgrenzung der indigenen Bevölkerung zu zementieren. Dabei gingen insbesondere die Frauen auf die Straße – und tun dies auch weiterhin. Nicht für Castillo, sondern für Neuwahlen und die Forderung nach einer Verfassunggebenden Versammlung, die einen neuen Gesellschaftsvertrag aushandeln soll. Ihre Demonstrationen wurden und werden mit brutaler Gewalt niedergeschlagen, die viele an die Zeit des „Kampfs gegen die Subversion“ erinnert. Bereits 60 Menschen starben, unzählige wurden verwundet – und das in einem Staat, der sich „demokratisch“ nennt. In Südamerika hat es seit Jahren nicht mehr ein solches Ausmaß an politischer Repression gegeben. Das zeigt aber auch, dass Perus Machtgruppen und das Militär die sich formierende Bewegung ernst nehmen und in ihr weit mehr als ein Strohfeuer sehen.
Peru braucht einen politischen Neuanfang. Übergangspräsidentin Dina Boluarte, die viele in Peru nur noch „Dina Asesina“ (Dina Mörderin) nennen, hat jeglichen politischen Kredit verspielt. Noch versucht die Rechte, vor allem die Anhänger*innen des Ex-Diktators Fujimori, sie im Amt zu halten, aber das wird auf Dauer nicht funktionieren. Wie es in Peru weitergeht, hängt stark davon ab, ob und wie es gelingt, neue Formen politischer Organisierung zu finden.
In unserem Schwerpunkt gehen wir auf die unterschiedlichen Konflikte in diesem gespaltenen Land ein, berichten aber auch über Küche, Humor und Musik. In einem Land, wo bekannte Chefköche für politische Spitzenämter ins Spiel gebracht werden, sind das keineswegs unpolitische Themen.
In eigener Sache: Anfang September haben wir einen großen Freund und genialen Layouter verloren. Aldi (Hans-Georg Aldenhoven) ist tot. In dieser Ausgabe erinnern wir mit einem Nachruf und mit einigen seiner wunderbaren Arbeiten an ihn. Sein Tod geht uns indessen näher, als wir es damit ausdrücken können.