Was man denn überhaupt noch essen dürfe, ist eine häufig gestellte Frage bei Gesprächen über die Produktion von Lebensmitteln. Sicher wird das auch der eine oder die andere denken, wenn sie in dieser ila die Artikel über so leckere und gesunde Produkte wie Avocados, Ananas, Blaubeeren, Quinoa, Cashews oder Paranüsse lesen. Es liegt nahe, auch den eigenen Konsum zu hinterfragen, wenn von katastrophalen Arbeitsbedingungen, miesester Entlohnung, übermäßigem Wasserverbrauch, dem Einsatz von Agrargiften oder dem CO2-Ausstoß beim Transport (oft per Flugzeug) von Agrarprodukten nach Europa die Rede ist. Und es ist sicher nicht verkehrt, nicht jeden Irrsinn dieses Systems mitzumachen. Aber zu glauben, durch individuelle Kaufentscheidungen etwas verändern zu können, ist leider ein Mythos. Klar, Fair-Handelsverbände pflegen den in ihrer Werbung gerne („Jeden Tag die Welt ein bisschen fairändern“) und beschwören die angebliche Macht der Verbraucher*innen durchaus auch im eigenen Interesse – jede Zertifizierung eines Produktes als „fair“ bringt Einnahmen.
Wirtschaftsforscher*innen beziffern das „ethische Marktsegment“ mit etwa drei bis fünf Prozent der Konsument*innen. Gemeint sind Menschen, die sich in ihren Kaufentscheidungen nicht nur von Qualität und Preis der Waren leiten lassen, sondern auch fragen, unter welchen sozialen und ökologischen Bedingungen sie produziert wurden. Andersherum heißt das, für 95 bis 97 der Käufer*innen spielen Arbeitsbedingungen und Umweltverträglichkeit der Produktion keine große Rolle.
Der sogenannte faire Handel hat durchaus seine Funktion, vor allem um Formen des Arbeitens zu stärken, die nicht nach der Logik der Konzerne organisiert sind, also etwa genossenschaftliche Ansätze, bäuerliche oder selbstverwaltete Betriebe. Damit werden Leute konkret unterstützt, und es wird gezeigt, dass solidarischer und weniger destruktiv zu produzieren möglich ist.
Aber die Bedingungen in den allein auf Gewinnmaximierung orientierten Betrieben – und das ist die überwältigende Mehrheit – werden durch den fairen Handel nicht verändert. Und wenn Großunternehmen unter anderem auch einen fair gehandelten Kaffee im Programm haben, um von den höheren Gewinnmargen in diesem Sektor zu profitieren, oder ausgerechnet die Unternehmen, die mit dem Elend von Menschen und Tieren in der Massentierhaltung ihre Geschäfte machen, vegane Produkte anbieten, stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Kaufs durchaus.
Aber so oder so braucht es verbesserte Regeln für alle Produkte und deren Vermarktung. Der Kampf für ein Lieferkettengesetz war dafür ein wichtiger Schritt. Dass sich die großen Wirtschaftsverbände so massiv dagegen sträubten, zeigt, dass da tatsächlich ein Veränderungspotenzial liegt. Dass es die Verbände durch ihr intensives Lobbyieren geschafft haben, die ursprünglichen Vorschläge für das Gesetz deutlich zu entschärfen und zu verwässern, bedeutet nur, dass die Arbeit der Menschenrechtsgruppen, Umweltorganisationen und Gewerkschaften weitergehen muss, um Verbesserungen zu erreichen. Übrigens nicht nur bei der Produktion im Süden. Schaut man etwa auf die Kampagnen von ver.di zu Arbeitsbedingungen und Einschränkungen gewerkschaftlicher Interessenvertretung in Supermarktketten oder die Aktionen der anarchosyndikalistischen FAU zum Naturkosthandel, sieht man, dass auch dort weiter vieles im Argen liegt.
Der Titel dieser ila „Alte und neue Kolonialwaren“ ist zweifellos provokant gewählt. Die Logik, dass Rohstoffe in den Ländern des Südens produziert werden und das technische Know How sowie die Wertschöpfung in den Industriestaaten angesiedelt sind, gilt für viele Produkte leider weiterhin. Der Kaffeehandel ist dafür ein schönes Beispiel. Dass die Schweiz einer der weltgrößten Kaffee-Exportnationen ist, gemessen an den Umsatzzahlen zeitweilig sogar der größte, liegt nicht daran, dass dort neuerdings Kaffee geerntet würde (kann mit dem Klimawandel alles noch kommen), sondern daran, dass in Europa kleine Alukapseln produziert werden, die ein Schweizer Großkonzern mit etwas Kaffee befüllen lässt, aus denen spezielle Maschinen jeweils eine Tasse Kaffee aufbrühen. So lässt sich ein Vielfaches dessen umsetzen, was vom Erlös des Kaffeeanbaus in den Herkunftsländern bleibt.
Der Fokus dieser ila liegt auf agrarischen Rohstoffen. Die gerne als „Bodenschätze“ deklarierten Produkte kommen kaum vor. Auch dazu wäre viel zu sagen. Vielleicht in einer späteren Ausgabe. Diesmal gibt es dazu nur einen Beitrag zum Gold, der ältesten Triebkraft des Kolonialismus. Das musste dann doch sein.
Wie vermutlich die meisten unserer Leser*innen treibt uns der Krieg in der Ukraine weiter um. In dieser Ausgabe blicken wir in einem kleinen Themenblock darauf, wie der russische Überfall in Lateinamerika wahrgenommen wird.