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Traditionelle Triebkräfte scheitern an neuer Weltordnung

Uruguayische Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine

Die Positionen der verschiedenen politischen Akteure in ihren ersten Reaktionen auf die russische Invasion in die Ukraine zeigen die Unsicherheit, mit der die uruguayischen Politiker*innen dieses Ereignis verarbeiten. Für eine Einschätzung, welche regionalen und lokalen Auswirkungen der Krieg haben wird, ist es noch zu früh. Aber schon in den ersten Tagen war zu erkennen, wie sich das Thema auf die konzeptionellen Rahmen auswirkte, in denen die politischen und sozialen Akteure die gegenwärtige Welt interpretieren. In diesem kurzen Text werden wir nachverfolgen, wie zwei große Fragen, die in den letzten Jahrzehnten in der uruguayischen Politik eine zentrale Rolle gespielt haben, durch die globalen Dynamiken des jüngsten Konfliktes beeinflusst werden.

Aldo Marchesi

Der Vertreter Uruguays bei der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) stimmte gemeinsam mit Argentinien und Brasilien für einen Antrag, in dem die russische Invasion in die Ukraine nicht ausdrücklich verurteilt wurde. Einige Stunden später sagte Präsident Luis Lacalle Pou, dass Uruguay in der OAS falsch abgestimmt habe. Über Twitter schloss er sich dem Antrag der Mehrheit an, mit dem die Invasion verurteilt wurde. Einige Tage später teilte der Leiter des staatlichen Kommunikationsunternehmens Antel mit, dass er RT (Russia Today) aus dem digitalen Programmangebot gestrichen habe. Zwei Tage danach stellten der Präsident und weitere Politiker*innen der Regierungskoalition diese Entscheidung infrage.

Die Mitte-Links-Opposition Frente Amplio verfasste am 24. Februar eine Erklärung, in der sie den Begriff Invasion bewusst vermied, ihre „Besorgnis über die zunehmende Verschärfung des Konfliktes zwischen Russland und der Ukraine“ ausdrückte und ihr Bekenntnis zu „Frieden, Unabhängigkeit und Souveränität als Schlüsselelemente im Zusammenleben der Völker“ bekräftigte. Einige Tage später legte dieselbe (linke) Opposition im Senat den Vorschlag einer Erklärung vor, die das Geschehen als eine Invasion Russlands in die Ukraine definierte, aber auch den Standpunkt der NATO in diesem Konflikt kritisierte. Die (rechte) Regierungskoalition stellte sich gegen die Verurteilung der NATO, unterstützte aber diejenige Russlands.
Eines der historisch größten Probleme Uruguays ist seine internationale Einbindung. Es handelt sich um ein kleines Land zwischen den zwei größten Ländern Südamerikas, die im 19. Jahrhundert expansionistische Politik betrieben. Im 19. und 20. Jahrhundert hatte Uruguay stets ein gutes Verhältnis zu einer der Weltmächte (England oder USA), was in gewisser Weise ein Gegengewicht zum Einfluss der regionalen Mächte bildete.

Seit 1990 hat Uruguay über den Mercosur den Versuch einer Strategie regionaler Eingliederung unternommen. Mehrfach gab es jedoch Proteste uruguayischer Regierungen verschiedener politischer Couleur gegen die ungleiche Erfüllung der Integrationsabkommen durch die großen Länder, vor allem Argentinien. In diesem Zusammenhang wurde versucht, Freihandelsverträge mit anderen Ländern zu erreichen. In der Regierungsperiode der Frente Amplio versuchte Tabaré Vázquez einen Freihandelsvertrag mit den USA abzuschließen (während der Bush-Regierung). Das Abkommen kam nicht zustande, weil in den USA kein größeres Interesse daran bestand und wegen der starken Opposition in der Frente Amplio, einer linken Kraft mit deutlich antiimperialistischer Tradition. Später wurde vom Mercosur aus versucht, zu einem Abkommen mit der EU zu kommen, was auch nicht gelang.

Am 1. März 2020 übernahm Luis Lacalle Pou die Präsidentschaft. Dieser Politiker der Partido Nacional steht an der Spitze einer rechten Koalition von fünf Parteien. Der Regierungswechsel bedeutete das Ende eines 15-jährigen Zyklus progressiver Politik. Der neue Präsident kritisierte die Außenpolitik der Frente Amplio unter anderem deshalb, weil sie aus ideologischen Gründen am Mercosur festgehalten und nicht versucht habe, Handelsabkommen mit anderen Teilen der Welt zu schließen.

Die Weltanschauung des angehenden Präsidenten schien mehr mit dem optimistischen Klima der Globalisierung in den 1990ern zu tun zu haben als mit der Realität im gegenwärtigen Jahrhundert. Er beschrieb eine Welt, die für Geschäfte offen stehe, wenn man nur die Zölle senke. Auf der brasilianischen Seite sei der Minister Paulo Guedes ein potenzieller Verbündeter für eine Öffnung des Mercosur, und wenn es über den Mercosur nicht gehe, solle Uruguay einen eigenen Weg einschlagen. Ende 2021 nahm Uruguay Verhandlungen für die Ausarbeitung eines Entwurfs für ein Handelsabkommen mit China auf. Der Krieg in der Ukraine begann genau in dem Zeitpunkt, als im Parlament über das mögliche Scheitern dieses Entwurfs debattiert wurde. Einigen Presseartikeln zufolge ließ sich die Positionierung des Vertreters in der OAS, der sich geweigert hatte, das Ereignis als Invasion zu bezeichnen, durch eine Annäherung an die chinesische Position zum Konflikt erklären. Andererseits wurde die schnelle Reaktion von Präsident Lacalle, den Konflikt als Invasion einzustufen, als Geste im Sinne der traditionell USA-freundlichen Sicht gewertet, die seit dem Kalten Krieg bei der Rechten vorherrscht.

Dieses Spannungsverhältnis zwischen wirtschaftlichen Interessen und globalisierten politischen Ausrichtungen hat viel mit der Erkenntnis zu tun, dass sich die globalisierte Welt der 90er-Jahre unter der Hegemonie der USA allmählich auflöst. Und die politischen Ausrichtungen werden zunehmend durch die wirtschaftlichen bestimmt. Dies ist besonders für die uruguayische Rechte schwierig, die sich seit den 50er- und 60er-Jahren als westlich orientiert betrachtet, als Verteidigerin der freien Welt, und die zentrale Rolle der USA in dieser Welt anerkannt, sich aber in den letzten Jahrzehnten wirtschaftlich stark an China angenähert hat. Im Szenario einer Welt von Sanktionen, kriegerischen Allianzen und internationalen Grundsatzdiskussionen ist dieses Gleichgewicht schwer aufrechtzuerhalten.
Auch wenn der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine weit weg ist, wärmt er doch erneut alte Interpretationsmuster auf, die einen gewissen Einfluss auf die öffentliche Meinung haben. Der erste offensichtliche historische Bezug ist die kommunistische Vergangenheit Russlands. Obwohl alle politischen Akteure über die ideologische Verbindung des neuen Russland mit dem globalen konservativen Nationalismus informiert zu sein scheinen, zeigten kleine Teile der Linken angesichts der Provokationen der NATO eine gewisse Empathie für Russland, und in Teilen der Rechten herrschte die Vorstellung, dass dies ein Konflikt zwischen der freien Welt und dem Totalitarismus sei und dass die uruguayischen Progressiven auf letzterer Seite stünden.

Der zweite historische Bezug ist die Rolle der USA in der Weltpolitik. Auch hier funktionierten die traditionellen Triebkräfte. Die gesamte Linke kritisierte die Rolle der NATO und rief zur Entspannung in diesem Konflikt auf. Die Rechten übernahmen den westlichen Diskurs und hielten die Sanktionen für richtig. Die Orientierung an dieser Vergangenheit war jedoch nicht besonders intensiv. Niemand engagierte sich besonders in diesem Konflikt. Es gab keine Anträge, um die von verschiedenen NATO-Ländern gegenüber Russland vorgeschlagenen Sanktionen zu übernehmen. Es gab auch keinen Vorstoß von irgendeinem linken Akteur zugunsten Russlands. Im Allgemeinen drehten sich die Überlegungen mehr um die Folgen, die der Konflikt für die Wirtschaft unseres Landes haben wird, als um die Positionierung Uruguays.

Das bisher Gesagte zeigt, wie schwierig es ist, sich angesichts der Veränderungen in der internationalen Ordnung, die bereits im Gange waren und durch den Krieg anscheinend noch verstärkt werden, eine Vorstellung von der Weltlage zu machen. Das Parteiensystem und die Ideen, die die politischen Debatten zwischen Progressiven und Konservativen in Uruguay bestimmten, haben sich zwischen der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre und dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts entwickelt. Diese Vorstellungen entstanden in einer von den USA angeführten neoliberalen Weltordnung, die den Freihandel über die ganze Welt zu verbreiten schien. Der aktuelle Krieg und Vorgeschichten wie die Trump-Regierung, die Wiedergeburt alter Mächte mit imperialen Absichten, der Aufstieg Chinas oder die weltweite Corona-Krise haben Risse erzeugt und scheinen zu einer neuen Welt zu führen, in der die USA nicht mehr sind, was sie einmal waren, und die Wirtschaftsbeziehungen auf eine andere Art bestimmt werden, in der die Nationalstaaten ein größeres Gewicht haben. Die politischen Akteure in Uruguay, die noch sehr an die neoliberale Ordnung gewöhnt sind, beginnen, diese Veränderungen zu verstehen und darüber nachzudenken, wie sie sich darauf einstellen können.

Aldo Marchesi ist Titularprofessor am Historischen Institut und im Zentrum für Interdisziplinäre Studien der Universidad de la República, Uruguay

aus: CALAS, La guerra en Ucrania. Miradas desde América Latina, 15. März 2022, 60 Seiten

Komplett online auf Spanisch zugänglich:

http://calas.lat/en/publicaciones/otros/la-guerra-en-ucrania-miradas-des...érica-latina

Übersetzung: Alix Arnold