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Ein guter Flötenspieler

Gary Victors hochkomische Politsatire „Die Zauberflöte“
Klaus Jetz

Homosexualität ist in Haiti nicht strafbar, doch Homosexuellenfeindlichkeit und Transphobie sind weit verbreitet und meist religiös motiviert. Gleichgeschlechtliche Paare werden nicht anerkannt, Schutz vor Diskriminierung gibt es nicht. Im Jahr 2017 stimmte der Senat einem Gesetzentwurf zu, der „öffentliche Unterstützung für Homosexualität“ und gleichgeschlechtliche Eheschließungen verbietet. Die Haitianer*innen seien der Auffassung, so Senatspräsident Latortue, dass Homosexualität eine westliche Praxis sei, die nichts mit ihrem Land zu tun habe, das sich auf seine „Werte und Traditionen konzentrieren“ müsse. Solche Äußerungen kennen wir auch von Putin, Orban oder afrikanischen Potentaten.

Bald nach dem verheerenden Erdbeben im Jahr 2010 begannen evangelikale Gruppen und von ihnen beeinflusste Politiker*innen, die Masisi – eine stigmatisierende Bezeichnung für schwule Männer – für die Katastrophe verantwortlich zu machen. Sie sei eine göttliche Strafe für die Sünden der LSBTI-Community. Die sah sich bald einer verstärkten Ausgrenzung und Übergriffen ausgesetzt. Menschenrechtsorganisationen dokumentierten Fälle, in denen LSBTI-Personen der Zugang zu Notunterkünften, Lebensmitteln und medizinischer Versorgung verweigert wurde. Der junge Aktivist Charlot Jeudy gründete die Organisation Kouraj (Mut), um für haitianische LSBTI mehr Rechte und Schutz zu erstreiten: „Wir wollen einen anderen Diskurs über Homosexualität in Haiti anstoßen, denn viel zu lange haben nur Homophobe über uns und unsere Situation geredet“, so Jeudy 2011.

In den folgenden Jahren wurde Kouraj zu einer NGO, die rechtliche und psychosoziale Beratung anbot sowie Schulungen für die LSBTI-Community durchführte, wichtige Akzeptanzarbeit leistete und für LSBTI-Rechte und Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität kämpfte. Kouraj-Mitglieder kaperten den Begriff Masisi für die eigene Community und drehten ihn ins Positive: Aus der Beleidigung sollte ein Ausdruck des Stolzes werden. Immer wieder gab es Morddrohungen, Hasspredigten und Übergriffe gegen Kouraj und Mitglieder der Organisation. Im Jahr 2016 musste ein LSBTI-Festival in Port-au-Prince wegen Drohungen abgesagt werden. Charlot Jeudy lehnte es damals ab, für eine Weile Schutz im Ausland zu suchen. Ende November 2019 wurde er tot in seinem Haus aufgefunden. Die Ermittlungen zu den Umständen seines Todes wurden nie abgeschlossen, der oder die Mörder blieben straffrei.

Vor diesem Hintergrund ist Gary Victors neuer Roman „Die Zauberflöte“ („Masi“ im Original) angesiedelt. Victor schrieb ihn 2017, erschienen ist er 2018 in Montreal. Der Autor wurde im deutschsprachigen Raum bekannt durch seine Dieuswalwe Azémar-Krimireihe, durch Romane wie „Suff und Sühne“, „Im Namen des Katers“ oder „Schweinezeiten“, in denen Inspektor Azémar als Antiheld immer wieder an den haarsträubenden Zuständen in seiner Heimat zu scheitern droht. In diesen Krimis thematisiert Victor die Probleme seines Landes, die Perspektivlosigkeit und Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen, die schlechte Regierungsführung, grassierende Kriminalität, Korruption und Abhängigkeit vom Ausland, das prekäre Gesundheitssystem und die horrenden Naturkatastrophen, alles Aspekte, die er auch in der „Zauberflöte“ streift.

„Die Zauberflöte“ ist eine Parodie auf die Scheinheiligkeit, eine Satire, in der sich Victor über die Verklemmtheit der haitianischen Gesellschaft lustig macht. Die kommt in der Schaffung eines „Ministeriums für moralische und staatsbürgerliche Werte“ und in den Umtrieben religiöser Moralapostel zum Ausdruck. An die Spitze des neuen Ministeriums gelangt, eigentlich gegen seinen Willen, Dieuseul Lapénuri, der, wie sein Familienname zum Ausdruck bringt, zu den weniger betuchten Menschen gehört. Er ist zufrieden mit seiner ruhigen, untergeordneten Stellung als Buchhalter im Finanzministerium. Es ist seine ehrgeizige Ehefrau, die mehr Engagement von ihm verlangt, um sich gegen Armut und Bedürftigkeit zu wappnen. Sie nennt ihn „Minister“ und erinnert ihn immer wieder daran, „dass ein Ministerposten eine eher flüchtige Angelegenheit war. (…) Man musste daher seine Zeit im Ministerium so gut wie möglich nutzen, um sich eine gesicherte Zukunft zu schaffen.“

Der Onkel der Ehefrau verschafft Dieuseul das Vorstellungsgespräch beim Präsidenten, das zu dessen vollster Zufriedenheit verläuft. Im Mittelpunkt steht ein Blowjob, den Gary Victor und sein Übersetzer Peter Trier in anschaulich derben und zugleich poetisch einfühlsamen Worten zu schildern vermögen: „Dieuseul Lapénuri hatte das Ding in der Hand. Trotz seiner Härte pulsierte es. Er war erstaunt, wie schwer es war. Es war bedrohlich auf ihn gerichtet, wie ein Schwert, bereit ihn zu enthaupten (…). In einem Schluchzen spielte er mit der Zunge und begann zu saugen, was bei ihm ein angenehmes Gefühl erzeugte. Eine Art Leichtigkeit, Schwerelosigkeit. Eine Leere. Auch den Eindruck zu schmelzen. Diese Wärme. Fleisch, das sich darbietet und das man besitzt.“ Der Lewinsky von Port-au-Prince scheint ein Naturtalent: „Sie haben bei Ihrem Präsidenten und damit bei der Nation Gefallen gefunden. Sie sind ein guter Staatsbürger“, so die Worte des anonymen haitianischen Staatspräsidenten, die Ludwig XIV. nicht schöner zum Ausdruck hätte bringen können. Und er verlangt nach mehr: „Sie haben Fingerspitzengefühl, Herr Minister. (…) Sie sind ein guter Flötenspieler. Sie müssen mein Instrument noch einmal verzaubern.“
Wegen seiner außerordentlichen Gabe erregt Dieuseul bald den Konkurrenzneid seiner Ministerkollegen, insbesondere des Innenministers, der speziellen Wert darauf legt, mehr über Dieuseuls Geheimtechnik zu erfahren, denn „wenn alle die Technik kennen, dann sind die Chancen wieder gleich.“ Dieuseul ist also nicht der einzige Minister, der seinen Präsidenten oral befriedigt. Der Innenminister droht ihm, versucht ihn aus dem Weg zu räumen, organisiert mehrere Attentate auf seinen Konkurrenten. Die sorgen in dieser Politsatire für die krimihaften Elemente, die wir aus den anderen Romanen Victors kennen.

Die komischste Szene ist bester Slapstick: Die First Lady taucht mit einem Dildo in Dieuseuls Ministerbüro auf und will von ihrem Konkurrenten wissen, wie „er es anstellt“. Sie zwingt ihn, es ihr an dem riesigen Plastikteil zu zeigen. In 27 Jahren sei es ihr nicht gelungen, ihren Mann so zum Höhepunkt zu bringen. Ob ihr Mann Verse rezitiert habe, er träume davon, „bei einem Blowjob zu kommen und dabei Verse aufzusagen. Baudelaire? Whitman? Rimbaud?“ Wer das denn sei, fragt Dieuseul. „Du Miststück (…), er hätte dich zum Kulturminister ernennen sollen“, zischt die First Lady.

Dieuseul ist ein gebeutelter Mann. Im Internat wurde er von einem Pater missbraucht, sein Vater traktierte ihn mit Fußtritten, er steht unter dem Pantoffel seiner Frau und wird von einer evangelikalen Kirchengemeinde manipuliert. Immer wieder passt er sich an, nie legt er Widerstand an den Tag. Er gehorcht, buckelt und lebt antriebslos in den Tag hinein. So wird er Minister, ganz ohne Ambitionen. Bis es ihm am Ende seiner Laufbahn wie Schuppen von den Augen fällt. Es geht um das geplante Kulturfestival der LSBTI-Gemeinde, das Festi Masi. Alle erwarten von ihm, dass er es verbietet, die Evangelikalen, der Innenminister, seine Frau, der Präsident. Es handele sich um ein trojanisches Pferd des Nordens zur Einführung der Homoehe, um Haiti zu schaden. Victor thematisiert also die Rolle und den Einfluss von Geberländern, Kulturkämpfe, Entwicklungszusammenarbeit und Nord-Süd-Beziehungen, Menschenrechte und Konditionalität: „(Er) verstand die Vorsicht des Staatschefs. Die Herkunft eines Teils der Gelder, mit denen das Festival finanziert werden sollte: Vereinigte Staaten! Kanada! Europäische Union! Diese Weißen wollen uns wirklich ihre liederlichen Sitten aufzwingen, dachte Dieuseul Lapénuri angewidert.“

Der Protagonist wird schließlich doch noch zum Helden. Gegen alle Widerstände, selbst gegen seine eigenen ursprünglichen Bedenken setzt er sich durch und erteilt die Genehmigung zur Durchführung des Festivals, da es legitimer Ausdruck der Meinungsfreiheit einer zu oft stigmatisierten Minderheit sei. Er lädt ein zu einer Pressekonferenz und spricht die wunderbaren, aufmunternden Worte: „Wenn wir die Energie unserer Intoleranz darauf verwendeten, die Herausforderungen zu meistern, vor denen wir stehen, würde unser Land die verlorenen Jahre aufholen. Wir würden zehntausenden jungen Menschen, die nur davon träumen, zu freundlicheren Ufern aufzubrechen, neue Hoffnung geben.“

So endet Dieuseuls Karriere als Minister, und Gary Victors kurzweiliges, komisches kleines Meisterwerk endet mit einem Happy End, das hier aber nicht verraten werden soll.