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Keine Winterpause mehr fürs blaue Gold

Wie die Blaubeeren in Argentinien zum Exportschlager wurden

Bei einer Wanderung in den Vogesen im letzten September stellten sich Kindheitserinnerungen ein: Auf einer Hochebene gab es Heidelbeeren en masse. Klein, blauviolett, säuerlich und zum Selbstpflücken. Die schmackhaften Kügelchen sind in den letzten Jahren zu Recht zum Superfood geadelt worden: voller Vitamine und Mineralstoffe, kalorienarm und dazu superlecker, ideal für Muffins, Pfannkuchen, Quarkspeisen oder auch als Saft. Allein zwischen 2015 und 2020 hat sich der jährliche Prokopfkonsum in Deutschland laut der Agrarmarkt Informationsgesellschaft (AMI) von 210 auf 663 Gramm verdreifacht. Und da wir in einer globalisierten Welt leben, in der Bedürfnisse und Gelüste das ganze Jahr über, auch jenseits der hiesigen Erntezyklen, befriedigt werden wollen, haben Agrarunternehmen im globalen Süden dieses nichttraditionelle Agrarprodukt entdeckt und dessen Anbau in den letzten 30 Jahren kontinuierlich ausgebaut.

Britt Weyde

„Bei denen gibt es jetzt keine Winterzeit mehr“, sagt der freundliche Wochenmarktverkäufer auf die Frage hin, ob ein Foto von seinen Importheidelbeeren erlaubt sei. Die Blaubeeren, die wir hierzulande im Herbst, Winter und Frühling im Supermarkt oder auf Märkten kaufen, sind in puncto Geschmack und Aussehen ganz anders als die Heidelbeeren aus den Kindertagen: größer, blassblauer, fleischiger und auch süßer. Die Sorten dieser Kulturheidelbeeren stammen zu über 90 Prozent aus den USA. Bei den spottgünstigen Preisen auf dem Markt in Kombination mit der Erinnerung, dass die blauen Superkügelchen früher ein solch exklusiver Genuss waren, beschränkt auf wenige Wochen im Jahr und nur in bestimmten Gebieten zu finden, hat sich die Frage aufgedrängt, wie und unter welchen Bedingungen die Blaubeere zum Weltmarktprodukt geworden ist.

Zwar haben sich auch hierzulande die Anbauflächen in den letzten zehn Jahren verdoppelt auf über 3000 Hektar, aber noch stärker sind die Importe gestiegen: Seit 2010 verzehnfachten sie sich auf über 57 000 Tonnen. Die meisten nach Deutschland importierten Heidelbeeren stammen zwar aus Spanien, aber auch südamerikanische Länder sorgen gerade im Winter für die Befriedigung der gestiegenen Nachfrage: Peru, Chile, Argentinien sind (in der Reihenfolge) die wichtigsten Lieferanten; auch Uruguay hat Anfang der Nullerjahre mit dem Anbau und Export der Beeren begonnen, allerdings mit dem Hauptexportziel USA.

In Argentinien etwa begann der Anbau der Heidelbeeren Mitte der 90er-Jahre. Mit der Abwertung des Peso infolge der Wirtschaftskrise 2001 startete der Sektor richtig durch, so dass Argentinien sieben Jahre später zum zweitwichtigsten Exporteur der Südhalbkugel (nach Chile) wurde. Zwischen 2000 und 2010 stieg die Anbaufläche für Blaubeeren in Argentinien von 400 Hektar auf 3500 Hektar. Die wichtigsten Exportmärkte für Argentinien sind die USA, Kanada, Großbritannien, Holland und Deutschland (Blaubeeren mit dem Exportziel USA werden zuvor noch mit dem – übrigens ziemlich giftigen – Nervengas Brommethan besprüht). Letztes Jahr hat Argentinien mit Saudi-Arabien über die Direktvermarktung von Blaubeeren zu verhandeln begonnen. Die Hälfte der Ernte wird mittlerweile per Flugzeug, die andere Hälfte per Schiff exportiert.

Erst in jüngster Zeit beginnen Blaubeeren auch für den Binnenmarkt Argentiniens eine Rolle zu spielen. „Blaubeeren gehören noch nicht zu den Konsumgewohnheiten der Argentinier, was auch mit dem geringen Angebot an frischen und verarbeiteten Früchten zu erschwinglichen Preisen zusammenhängt“, hieß es zum Beispiel noch vor einigen Jahren in einer Studie.1 Für den Konsum im Land selbst spielen Erforschung und Entwicklung lokaler Sorten eine wichtige Rolle. So hat letztes Jahr die Nachricht von einer neuen Sorte die Runde gemacht: „Naike“ soll resistenter gegenüber regionalen Schädlingen und Krankheiten sein und auch besser geeignet für den agrarökologischen Anbau.2
Die wichtigsten Anbaugebiete liegen in den Provinzen Tucumán, wo die Ernte im September beginnt, und Entre Ríos, wo sie Mitte Oktober startet. Weitere Anbaugebiete, allerdings in weit geringerem Maße, liegen in der Provinz Buenos Aires, wo im November und Dezember geerntet wird, und in Patagonien (Río Negro und Chubut), wo die Ernte zwischen Januar und März stattfindet. Die dort angebauten Sorten benötigen mehr Kälte.

Unternehmen, die auf Blaubeeren setzen, haben zunächst hohe Investitionskosten, da die Büsche erst drei Jahre nach ihrer Pflanzung Früchte zu tragen beginnen; jährlich werden es dann mehr, bis zum siebten Jahr. Nach etwa zehn Jahren endet die Lebensdauer eines Blaubeerbusches.

Nach dem ersten expansiven Jahrzehnt kam es zu einer Krise im argentinischen Blaubeersektor, was unter anderem an gesunkenen Weltmarktpreisen wegen des Aufkommens weiterer Wettbewerber wie Peru lag. Das Andenland produziert und exportiert inzwischen mehr als Argentinien. Auch im ersten Pandemiejahr 2020 gingen in Argentinien Anbau und Export von Blaubeeren zurück. Mittlerweile hat sich der Sektor wieder etwas berappelt, schließlich sind zwischenzeitlich die Exportsteuern auf das Produkt abgeschafft worden, wie das Unternehmerportal On24 kürzlich jubilierte. Angesichts intensiver Kosten und hohem Weltmarktdruck lautet die Lösung wie überall in unserer kapitalistischen Welt: Kosten einsparen. Was dann auf dem Rücken der Beschäftigten geschieht, indem die Personalkosten „optimiert“ werden.

Die Erntesaison beschränkt sich auf ein recht enges Zeitfenster von etwa 60 Tagen. Da die Früchte unterschiedlich schnell reifen, wechseln die Erntemengen wöchentlich, wenn nicht sogar täglich. Dieser Unsicherheitsfaktor wirkt sich auf die Arbeitszeiten und -bedingungen aus. In der Provinz Entre Ríos, traditionell eine Anbaugegend für Zitrusfrüchte, wurden im Blaubeersektor tätige Unternehmen nach dem optimalen Profil von Erntearbeitskräften befragt. Sie gaben an, dass sie ländliche Herkunft, weibliche und junge Arbeitskräfte bevorzugen würden. Bei Personen vom Land wird davon ausgegangen, dass sie die harten Arbeitsbedingungen in der Ernte gewohnt sind beziehungsweise besser aushalten; bei den weiblichen Kräften wird erwartet, dass sie behutsamer mit den sensiblen Früchtchen umgehen. Die meisten der befragten Erzeuger sagten allerdings auch, dass sie häufig nicht wirklich auswählen könnten, sondern dass „sie diejenigen einstellen, die sie bekommen können“.

Die Arbeitstage sind meistens länger als die vertraglich ausgemachten acht Stunden und erreichen mitunter 12 bis 13 Stunden. Oder es passiert das Gegenteil, weil, wie erwähnt, doch nicht genügend Früchte reif sind. So werden die Tage gekürzt, was sich später als weniger Arbeitstage und somit weniger Geld auf dem Gehaltszettel zeigt. Um den hohen Qualitätsansprüchen der Exportmärkte zu genügen, dürfen die Erntearbeiter*innen weder Sonnen- noch Insektenschutz auftragen – was bei langen Arbeitstagen im Sommer einer Körperverletzung gleichkommt. Andere Klagen von Erntearbeiter*innen beziehen sich auf ungenügende Versorgung mit Wasser und, im Fall von Erntehelfer*innen, die aus anderen Provinzen herangekarrt werden (etwa aus Misiones, Chaco oder Santiago del Estero) oder die aus Nachbarländern stammen, über erbärmliche Unterbringung und unzureichende Essensversorgung. Aufgrund des kurzfristigen und hohen Arbeitskräftebedarfs haben Unternehmer beziehungsweise Personalvermittler keine Scheu, auch Minderjährige anzustellen (und deren Papiere zu fälschen, wie ein Gewerkschaftsvertreter in der Zeitung Nuevo Diario kritisierte).
In anderen Anbauländern sehen die Arbeitsbedingungen nicht besser aus. In Chile zum Beispiel wurde letztes Jahr ein Skandal publik, der die argentinischen Verhältnisse um Längen toppte: Einem Bericht von Ciper Chile3 zufolge hat die Staatsanwaltschaft nach einer Anzeige wegen massenhafter Zwangsarbeit von Immigrant*innen bei der Blaubeerernte ermittelt. So sollen zwischen 2016 und 2019 mindestens 29 Venezolaner*innen und Haitianer*innen systematisch ausgebeutet worden sein. Betrügerische Vereinbarungen zu den Löhnen, Überausbeutung, miserable Unterbringung und Einbehalten der Löhne sind einige der untersuchten Aspekte.

Der Ciper-Bericht erzählt die Geschichten verschiedener Personen, etwa von Paola, der ein Gehalt zwischen 600 000 und einer Million Pesos angeboten worden war (das waren am 1. Januar 2022 umgerechnet zwischen 815 und 1355 Euro). Später tauchten in ihren Verträgen 288 000 Pesos (390 Euro) auf. Auch die ursprünglich vereinbarte Arbeit entsprach nicht den Abmachungen: Es handelte sich nicht um das Säubern der Sträucher, sondern um die Ernte von Blaubeeren. Die tatsächlich ausgezahlten Monatsgehälter beliefen sich im Endeffekt nur auf skandalöse 30 000 bis 90 000 Pesos (40 bis 120 Euro!). Die Arbeit endete nach sechs Monaten abrupt, nachdem der Geschäftsführer des Unternehmens Soluciones Agrícolas SpA, Francisco Mendoza Berríos, sein Büro leergeräumt hatte und mit Millionen Pesos nicht gezahlter Löhne einfach verschwand.

Bei solchen Arbeitsbedingungen, bei denen auch vor Zwang und Erpressung nicht zurückgeschreckt wird, wie in dem Bericht nachzulesen ist, verwundern die hiesigen Dumpingpreise nicht mehr länger. Aber dafür kann der nette Verkäufer auf dem Wochenmarkt nun wirklich nichts.

Weitere Quellen: https://ri.conicet.gov.ar/handle/11336/52294, Greenpeace-Magazin, La Izquierda Diario, infoagro.com.ar