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Filmkunst und Dokumentarisches

Lateinamerika auf der Berlinale 2021

Es kam kein Publikum in diesem Jahr, und die Filme kamen auch nicht zum Publikum. Nur Branchen- und Pressevertreter*innen durften sich in die virtuelle Berlinale einloggen und das Filmprogramm von zu Hause aus streamen. Unsere Mitarbeiterin Verena Schmöller hat das für uns gemacht und alle Filme aus Lateinamerika im Berlinale-Programm gesichtet.

Verena Schmöller

Im vergangenen Jahr war die Berlinale das letzte Festival, das wie gewohnt und ohne Einschränkungen stattfinden konnte, bevor Pandemie und Lockdown die Filmbranche auch hierzulande zum Stillstand brachten. Die Kinos waren lange Zeit geschlossen und sind es immer noch, das Drehen von Neuproduktionen war und ist durch Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen nicht wie gewohnt möglich, viele Filmfestivals in Deutschland und in aller Welt wurden 2020 abgesagt oder in den virtuellen Raum verlegt.

Im Jahr 2021 ging es nahtlos so weiter: Ob Sundance oder Max-Ophüls-Preis – die Festivals boten angesichts der aktuellen Situation eine Online-Alternative an, und auch die Internationalen Filmfestspiele Berlin, deren Leitung lange an einer Präsenzversion festgehalten hatte, fanden nun im Online-Modus statt. Allerdings erst einmal nur für die Branche und die Presse, denn, so der Coup der Festivalleitung: Im Sommer soll es einen zweiten Teil der Berlinale 2021 geben – ein Publikumsevent, das hoffentlich in den Kinosälen und zusätzlichen Open Air-Locations stattfinden kann, die mit den Bären ausgezeichneten Filmschaffenden über den roten Teppich schickt und die im März online präsentierten Filme dann auf der großen Leinwand zeigt.

Aus Lateinamerika waren es in diesem Jahr weniger Filme als sonst, die auf dem Festival vorgestellt wurden: insgesamt sieben Langfilme – darunter nur zwei Spielfilme und fünf Dokumentationen – und zwei Kurzfilme sowie zwei Serien. Eine kleine Auswahl, die vor allem eins zeigte: den Mut zum Experimentieren und den Spaß an der Filmkunst. Und so war es auch folgerichtig, dass der Silberne Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung an einen lateinamerikanischen Film ging: Die Netflix-Produktion „Una película de policías“ (Mexiko 2021) von Alonso Ruizpalacios aus Mexiko hatte es als einziger Film aus Lateinamerika in den Internationalen Wettbewerb geschafft und dann direkt einen Preis mit nach Hause genommen.

Der Film zeigt auf originelle Weise, was es heißt, Polizist in Mexiko-Stadt zu sein. Er stellt eine Polizistin vor, nicht großgewachsen, aber resolut, die für jede Situation eine Lösung findet und sogar dabei hilft, ein Kind mit auf die Welt zu bringen. Teresa (Mónica Del Carmen) erzählt, wie hart der Alltag ist, wie stark die Konkurrenz und wie gering die Wertschätzung sind, vor allem die ihres Vaters, der nicht wollte, dass seine Tochter in seine Fußstapfen treten würde. Auch Montoya (Raúl Briones) berichtet aus seinem Alltag als Polizist, man sieht, wie er in den Straßen provoziert und angegangen wird und wie er versucht, ruhig zu bleiben und seinen Job zu machen. Erst später erfährt man, dass die beiden ein Paar sind – die patrulla del amor.

Noch später enthüllt der Film, dass die beiden von Schauspieler*innen dargestellt werden: Sie stellen die von Teresa und Montoya erlebten Episoden nach und mimen auch deren Erzählen – was wiederum deutlich wird, als am Ende die realen Personen im Bild gezeigt werden und selbst berichten. Mit am eindrücklichsten ist darüber hinaus, dass die Schauspieler*innen nicht nur darstellen, sondern in einem Teil des Films ihre eigene Arbeit reflektieren: „Keiner will hier Polizist sein“. Sie erzählen davon, wie sie sich auf die Rollen vorbereitet und ein Training für Polizist*innen mitgemacht haben, um sich bestmöglich in die Figuren hineinversetzen zu können. Diese Zusammenschau verschiedener Blickwinkel auf das eine Thema macht den Film zu einem besonderen Seherlebnis, zumal die Umsetzung grandios ist. Wohlverdient war deshalb auch die Auszeichnung der Internationalen Jury an Yibrán Asuad für die Montage: Er erhielt den Silbernen Bären für „das meisterhafte Montagekonzept eines gewagten, innovativen Kinowerks, das die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen lässt“. Spannend dabei ist, dass das Festival einen Film aus dem Hause Netflix für seine Innovation und Originalität kürt und damit zeigt, dass Neuerungen tatsächlich gerade auch im Streaming-Bereich passieren.

Aus Mexiko waren außerdem der Dokumentarfilm „Dirty Feathers“ (USA/Mexiko 2021) von Carlos Alfonso Corral zu sehen, der in der Sektion „Panorama Dokumente“ lief, ebenso wie „A Última Floresta“ (Brasilien 2021) von Luiz Bolognesi aus Brasilien. „Dirty Feathers“ ist ein Dokumentarfilm in Schwarzweiß, der die Obdachlosen in den Grenzstädten El Paso (USA) und Ciudad Juárez (Mexiko) in den Fokus nimmt: ein 16-jähriges Mädchen, einen trauernden Vater, einen Veteranen. Die Nacht verbringen sie in den Unterkünften des Opportunity Center for the Homeless in El Paso, tagsüber streifen sie durch die Straßen und versuchen zu überleben. Sie erzählen aus ihrem Alltag, ihrer Vergangenheit, von ihren Träumen und Wünschen. Besonders bezaubernd sind die Passagen, wenn die junge Ashley mit ihren lyrischen Worten durch die Straßen zieht, immer von traurig-harmonischen Klängen aus dem Off begleitet – das hat einen Hauch von Tristesse, der die Situation dieser Menschen nicht verklärt, sondern ihnen eine Stimme und eine hoffnungsvolle Plattform gibt.

A Última Floresta“ erzählt in einer wertschätzenden Annäherung an die indigenen Yanomami vom Alltag der Menschen im brasilianisch-venezolanischen Grenzgebiet. Seitdem Jair Bolsonaro Präsident ist und die Gesetzeslage geändert hat, dringen wieder massiv Goldsuchende in die Lebenswelt der Yanomami ein und gefährden ihren Lebensraum. Auch wenn man eigentlich von diesen Dingen weiß und noch Schlimmeres vermutet, so schockieren doch die Bilder, die Luiz Bolognesi sorgfältig mit den nachgestellten Mythen der Yanomami montiert hat. „A Última Floresta“ ist ein Film, der einen auf den Boden der Wirklichkeiten zurückholt und die eigene Realität hinterfragen lässt. Denn er präsentiert dieses einfache, naturliebende Leben voller Ur-Wissen, das wir längst verloren haben, zeigt aber auch, dass es bedroht ist und unbedingt bewahrt werden sollte.

Es war das erste Mal, dass die Berlinale auch Serien aus Lateinamerika in ihrer recht jungen Sektion „Berlinale Series“ zeigte. Seit 2019 werden auf den Filmfestspielen auch Serienformate vorgestellt, und in diesem Jahr hatten es gleich zwei Produktionen aus Lateinamerika ins Programm geschafft: „Entre hombres“ (Argentinien 2020) von Pablo Fendrik und „Os últimos dias de Gilda“ (Brasilien 2020) von Gustavo Pizzi, die auf dem gefeierten gleichnamigen Einpersonenstück von Rodrigo de Roure basiert.

Os últimos dias de Gilda“ sprüht vor Einfallsreichtum, spielt kreativ mit verschiedenen Formen des Erzählens, blickt einmal direkt in das Leben von Gilda und ihrer Nachbarschaft am Rand einer Favela in Rio de Janeiro, nimmt sich dann aus der Geschichte heraus und zeigt die Protagonistin vor schwarzem Hintergrund, wie sie Messer wetzt, Gemüse schneidet, Gerichte zubereitet. Der spielfilmlange Vierteiler erzählt von Gilda (großartig gespielt von Karine Teles), einer Frau, die genau weiß, was sie will, die keine Mainstream-Meinung einfach übernimmt, nicht tut, was andere ihr sagen, und vor allem aber ein freies Leben voller Leidenschaft, ausgelassenen Feiern und vielen Liebhabern lebt. Mit dieser Art eckt sie auch an. Als eine christliche Partei das Sagen in der Nachbarschaft übernimmt, wird Gilda zunehmend Opfer von Schmierereien an ihrem Haus, von Verleumdungen und schließlich auch Gewalt.

Gustavo Pizzi hat zusammen mit Hauptdarstellerin Karine Teles das Drehbuch geschrieben. Die Figur der Gilda lebt vor allem von Teles‘ lustvollem Spiel, aber auch von der stimmungsvollen Inszenierung, die die verschiedenen Aspekte von Gildas Lebens zeigt: ihren Garten, der einem Mini-Bauernhof gleicht, die liebevolle Beziehung zu ihren Nutztieren, die sie selbst schlachtet und von deren Verkauf sie lebt, die sinnliche Zubereitung ihrer Gerichte und den anschließenden lautstarken Sex, mit dem sie sich und ihre männlichen Besucher verwöhnt, die Gewalt, die man ihr entgegenbringt, von der sie sich aber nicht unterkriegen lässt. Darüber hinaus wirft „Os últimos dias de Gilda“ einen hochaktuellen Blick auf gesellschaftspolitische Entwicklungen in Brasilien, auf die Gewaltbereitschaft der politischen Führung und die Gängelung von Andersdenkenden.

Entre hombres“ dagegen blickt zurück auf das Buenos Aires in den Neunzigerjahren, genauer ins Jahr 1996, und präsentiert eine Männerwelt voller Korruption, Gewalt und Brutalität. Pablo Fendrik macht dies mit viel Blut und schont dabei sein Publikum nicht. Gleich in den ersten Filmminuten wird kaltblütig gemordet, was eine Kette von Ereignissen auslöst, die letztlich die gesamte Unterwelt der Stadt samt Polizei vereinnahmen. Auch diese Serie basiert auf einer Romanvorlage, dem gleichnamigen Kultroman von Germán Maggiori, der selbst an der vierteiligen Adaption mitwirkte. „Entre hombres“ besticht durch eine temporeiche Erzählung, die unterschiedlichen Blickwinkel und einen tiefschwarzen Humor.

Ein anderer Beitrag mit argentinischer Beteiligung konzentriert sich ebenso auf das Funktionieren von machthungrigen Männerwelten. „Azor“ (Schweiz/Frankreich/Argentinien 2021) von Andreas Fontana aus der Schweiz lief in der Sektion Encounters und erzählt eine Geschichte, die sich zu Zeiten der argentinischen Militärdiktatur abspielt: Der Schweizer Privatbankier Ivan de Weil (Fabrizio Rongione) reist zusammen mit seiner Frau Inés (Stéphanie Cléau) nach Argentinien, um seinen spurlos verschwundenen Partner René Keys zu suchen und dessen Geschäfte weiterzuführen. Er trifft sich mit Großgrundbesitzern, Adligen, Geschäftsleuten, Militärs und Kirchenmännern, hört sich deren Geschichten an, sucht nach Hinweisen und Geschäftspartnern, muss aber die Sprache dieser Welt des Geldes und der Macht erst noch lernen. Während die Figur immer weiter in den Dschungel der Machenschaften eindringt, bleibt das Publikum allerdings außen vor. Der Film lässt die korrupte Welt dieser mächtigen Menschen erahnen, wird aber wenig konkret und erzählt durch seine Andeutungen und Atmosphäre nicht viel Neues.

Das Forum, das bekannt ist für seine künstlerischen Filmproduktionen, war die Sektion mit den meisten Filmen aus Lateinamerika: „Qué será del verano“ (Argentinien 2021) von Ignacio Ceroi und „Esquí“ (Argentinien/Brasilien 2021) von Manque La Banca aus Argentinien liefen im Internationalen Forum, „Bicentenario“ (Kanada/Kolumbien 2020) von Pablo Álvarez Mesa sowie die Videoinstallation „Se hace camino al andar“ (Brasilien 2021) von Paula Gaitán (die allerdings nicht im Streaming verfügbar war) in der Erweiterung der Sektion, Forum Expanded. Alle drei Filme wenden ihren Blick zurück auf alte Zeiten. „Bicentenario“ setzt sich mit dem 200. Jahrestag von Simón Bolívars Befreiungszug durch Kolumbien und mit dem Erbe des Befreiers im Land auseinander. Er hält Erinnerungsrituale fest, besucht die Landschaften, in denen sich die Schlachten einst zugetragen hatten, und beschwört den Geist des Nationalhelden.

Qué será del verano“ bewegt sich im Grenzraum zwischen dem Dokumentarischen und dem Fiktionalen. Filmemacher Ignacio Ceroi hat sich für seine Südfrankreich-Reise eine gebrauchte Videokamera gekauft, auf der er alte Aufnahmen entdeckt. Er ist sofort fasziniert von dem alten Videomaterial und kontaktiert den Vorbesitzer der Kamera mit der Frage, ob er dieses für einen Kinofilm verwenden dürfe. Fortan schreiben sich die beiden, Charles Louvet erzählt aus seinem Leben als Botschaftsangestellter, das auf der Kamera dokumentiert ist; Ignacio wiederum macht daraus spannende und einnehmende Erzählungen für seinen Film, bei denen man bald die Übersicht über das Innen und das Außen der Erzählung verliert – was letztendlich aber auch die Spannung von „Qué será del verano“ ausmacht.

Auch „Esquí“ changiert zwischen Geschichten erzählen und Wirklichkeit festhalten. Der Film erzählt von Monstern aus den Legenden der Mapuche, zeigt aus Österreich stammende Herrschaften, die behaupten, den Skisport ins argentinische Bariloche gebracht zu haben, und alte Skihandbücher, die den Sport erklären, sowie skifahrende Hipster und Anwohner*innen eines nahegelegenen Viertels. Für sein „elegantes Spiel mit der Komplexität“ und seine politische Einbindung erhielt der Film den Preis der FIPRESCI Jury in der Sektion Forum. „Esquí lädt den Betrachter zu einem breiten Panorama von Situationen, Porträts, Landschaften, Kontexten und unerklärlichen Sequenzen ein“, so die Jury in ihrer Begründung, „die als offene Metaphern in oft überraschenden und herausfordernden Bildern funktionieren“.

Gewöhnlich ist die Kinder- und Jugendfilmreihe Generation voller Überraschungen, in diesem Jahr aber zeigte sie nur einen Film aus Lateinamerika: „Una escuela en Cerro Hueso“ (Argentinien 2021) von Betania Cappato. Der Film erzählt auf berührende Art und Weise von der sechsjährigen Ema, die nach ihrer Autismus-Diagnose von vielen Schulen abgelehnt wird. In Cerro Hueso aber gibt es eine kleine Dorfschule, die Ema aufnimmt und alles dafür tut, dass das Mädchen seinen eigenen Weg in das Klassenleben findet. Die Familie zieht aus der Großstadt in das kleine Dorf am Paraná-Fluss, ändert ihr Leben und freut sich darüber, wie die Natur, das neue Umfeld und vor allem die Nähe zu den Tieren wiederum Ema verändern und ihr helfen, besser mit ihrer Umgebung zurecht zu kommen.

Der Film, der auf der Familiengeschichte der Regisseurin basiert, ist nicht nur das feinfühlige Porträt einer Autistin, sondern offenbart auch auf zärtliche Weise die Perspektive der Eltern eines autistischen Kindes. Ebenso wird die Sicht der Schulkameraden und Freundinnen auf das „andere“ Kind deutlich, und der Film zeigt, dass man Inklusion wirklich lernen kann. Für seine „wunderschöne, herzerwärmende und starke filmische Vision“ erhielt der Film eine lobende Erwähnung im Wettbewerb Generation Kplus: „Ein intimer und persönlicher Film, der Raum lässt und Raum schafft, nach Gemeinsamkeiten sucht, nicht nach Unterschieden, der aufgeschlossen in die Welt blickt und auf diese Weise ein feinfühliges, hoffnungsvolles Bild von Solidarität zeichnet.“

Im Kurzfilmwettbewerb präsentierte das Festival zwei lateinamerikanische Beiträge. „Al motociclista no le cabe la felicidad en el traje“ (Mexiko 2021) von Gabriel Herrera aus Mexiko zeigt einen Motorradfahrer auf seinem Fahrzeug, der stolz in die Kamera blickt. Um ihn herum blinkende Lichter, das Motorrad in einem Zelt irgendwo in der Pampa. Immer wieder dreht er eine Runde vor der Urwaldkulisse und stellt in seinem Reenactment die Hybris der kolonialen Eroberer gekonnt in sein Zentrum.

Auch „A Love Song in Spanish“ (Frankreich/Panama 2020) von Ana Elena Tejera aus Panama beschäftigt sich mit den Spuren, die die Vergangenheit hinterlassen hat. Die Regisseurin porträtiert ihre Großmutter, die einen monotonen Alltag lebt: Bohnen putzen, Essen zubereiten, sauber machen. Dabei wird deutlich, dass sie eigentlich wartet, und das Warten hat sich in ihren Körper eingeschrieben, tief sind die Wunden der Militärdiktatur Panamas.

Die Arbeiten der Filmemacherinnen und Filmemacher auf der diesjährigen Berlinale waren in diesem Jahr vor allem eins – kreativ und künstlerisch. Die Filme beziehen sich stets auf die Realität des Landes und der Kultur, auf die jeweilige Vergangenheit und die Spuren, die diese hinterlassen hat. Vielleicht war auch deshalb ein Großteil der Filme dokumentarisch. Rar gesät waren demgegenüber die erzählenden Filme, diese Geschichten, in denen man sich verlieren kann, die es schaffen, dass man sich als Zuschauerin mit den Figuren identifizieren oder sich in sie hineinversetzen und dabei die Wirklichkeit um sich herum vergessen kann. Diese Filme haben ein wenig gefehlt. Vielleicht entstand dieser Eindruck aber auch deshalb, weil man die Flucht in andere Wirklichkeiten in der aktuellen Situation so gut gebrauchen könnte.