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Weibliche Perspektiven

Die lateinamerikanischen Filme auf der Berlinale 2022

Endlich wieder im Kino! 2022 fanden die Internationalen Filmfestspiele Berlin wieder in Präsenz statt. Für die einen war das schwierig, für die anderen war es toll und wurde es Zeit. Auf jeden Fall war es ein Zeichen, dass das Kino wichtig ist, dass wir das Kino brauchen und dass Kino möglich ist. Auch die Filmauswahl war gelungen. Gerade die Filme aus Lateinamerika haben zudem wieder deutlich gemacht, wie gut es ist, dass die Filme auf der großen Leinwand und im Kino vor Publikum gesehen werden.

Verena Schmöller

Es war ein etwas schmaleres Programm als sonst. Die Verleihung der Bären wurde in diesem Jahr vom üblichen Samstag auf den Mittwoch vorgezogen, die Publikumstage wurden dafür erweitert. Die Anzahl der Filme war geringer, damit diejenigen Produktionen, die eingeladen waren, auch oft genug gezeigt werden konnten bei weniger Publikum im Saal.

Insgesamt konnten Lateinamerikabegeisterte deshalb nur 13 Langfilme, eine Serie und neun Kurzfilme auf der Berlinale sehen, aber auch ein kanadischer und ein portugiesischer Film beschäftigten sich mit der lateinamerikanischen Kultur. Die Filme wiesen wie gewohnt eine große Bandbreite an Formen, Genres, Inhalten und Stilen auf – vom experimentellen Film hin bis zur absurden Komödie, vom Spionagethriller bis zum Drama. Auffällig aber war die starke Präsenz der Frauen hinter und vor der Kamera. Überraschend viele Filme nahmen den Blickwinkel von Frauen und auch von Kindern ein.

Als einziger lateinamerikanischer Beitrag war Natalia López Gallardos „Robe of Gems“ (Mexiko/Argentinien/USA 2022) in den Internationalen Wettbewerb des Festivals eingeladen und wurde am Ende mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Mit dem Preis würdigte die Jury die kühne und innovative „Erneuerung der Sprache des Kinos“ sowie die „Beschreibung des Innersten der Charaktere und des sozialen Umfelds und ihrer Communities“.

„Robe of Gems“ ist der erste Langfilm der mexikanisch-bolivianischen Filmemacherin, die schon mit Lisandro Alonso und Carlos Reygadas zusammengearbeitet hat. Er erzählt von drei Frauen im ländlichen Mexiko, die jeweils Menschen auf unterschiedliche Weise verloren haben und versuchen, damit zurechtzukommen, etwas zu tun, sich zu wehren, und lernen zu akzeptieren.

Der Ensemblefilm thematisiert in kunstvoller Verschränkung die verschiedenen Formen sozialer und psychischer Gewalt, die vor allem die Frauen, Isabel, María und Roberta, betreffen. Das Besondere ist auch die Perspektive dieser Frauen, die der Gewalt und dem organisierten Verbrechen, die in der Region vorherrschen, trotzen.

Man merkt dem Film in Details an, dass Natalia López Gallardos weiß, wovon sie erzählt. Sie hat selbst 15 Jahre auf dem Land in Mexiko gelebt und Verrohung und ansteigende Gewalttätigkeit erlebt. Im Film webt sie Gewalt, Angst und Verletzung ganz subtil in den Alltag der Figuren ein, macht sie in Gesten oder nur einer Mimik erkennbar, lässt ihre Figuren hoffen und kämpfen, aber auch scheitern und Erkenntnisse machen.

Von ähnlichen Entwicklungen erzählt „El norte sobre el vacío“ (Mexiko 2022) von Alejandra Márquez Abella, der in der Sektion Panorama gezeigt wurde. Auch hier schleicht sich nach und nach eine fremde Macht in das beherrschende System, der Film beschreibt den Beginn eines Wandels. Die alten Hierarchien haben ausgedient, das Patriarchat im ländlichen Mexiko neigt sich seinem Ende zu, auf der Ranch von Don Reynaldo ist nichts mehr, wie es einst war. Wir beobachten diesen Wandel allerdings auch mit den Augen der Gegenseite, die dabei ist, das Steuer zu übernehmen.

Rosa, Angestellte auf Don Reys Ranch und dort Mädchen für alles, entpuppt sich als Drahtzieherin und Verbindungsglied zur kriminellen Unterwelt. Gleich in der ersten Sequenz des Films wird dies deutlich: Als Rosa mit Don Rey auf Hirschjagd ist, nimmt sie das Gewehr in die Hand und trifft, am Ende des Tages aber ist es der Patrón, der stolz vor dem toten Tier posiert. Der Schein wird noch gewahrt, in Realität hat Rosa aber schon längst die eigentliche Macht übernommen.

Die Regisseurin erzählt ihre Geschichte mit einem guten Gespür für Timing und Symbolik. Immer wieder nimmt die Kamera die Tiere der Farm oder des Umlands in den Fokus, die dem Geschehen auf der Ranch zuschauen, durch ihre Blicke kommentieren, vor allem aber auch auf die kommenden Gefahren hinweisen. Die Frösche, die ausgestopften Hirsche, die Ziegen und die Schweine wirken wie stille Komplizen und teuflische Vorboten und unterstützen die Spannung auf besondere Art und Weise.

Auch „Fogaréu“ (Brasilien 2022) von Flávia Neves, ebenfalls im Panorama und auch ein Debüt, erzählt vom Wandel in ländlichen Gegenden aus dem Blickwinkel einer Frau, allerdings in Brasilien. Der Film schildert die Geschichte von Fernanda, die nach vielen Jahren auf die Ranch ihres Onkels Antônio in Goiás im mittleren Westen des Landes zurückkehrt.

Fernanda bringt die Asche ihrer Adoptivmutter Cecilia, Antônios Schwester, in deren Heimat zurück, klärt ihre Ansprüche als Hinterbliebene und sucht gleichzeitig nach ihren eigenen Wurzeln. Denn in der Provinzstadt wurde und wird viel vertuscht: inzestuöse Beziehungen innerhalb der Familien, Lügen, Missbrauch und Ausbeutung. Wer waren Fernandas leibliche Eltern, warum hat Cecilia die Stadt im Streit verlassen?

Antônio, Großgrundbesitzer und Bürgermeister der Provinzstadt, steht vor der Wiederwahl, weshalb ihm Fernandas Fragen mehr als ungelegen kommen. Doch Fernanda lässt sich nicht von ihren Nachforschungen abhalten und kämpft für Wahrheit und Gerechtigkeit und einen damit einhergehenden Wandel der Machtverhältnisse.

Wie auch vor drei Jahren in „Bacurau“ (Brasilien/Frankreich 2019) ist Darstellerin Bárbara Colen eine starke Hauptfigur. Mit eisernem Blick und ihrer kraftvollen Ausstrahlung ist sie die ideale Besetzung für die Rolle der Fernanda. Darüber hinaus überzeugt in „Fogaréu“ der surrealistisch-fantastische Ansatz, der an den Magischen Realismus eines Gabriel García Márquez erinnert, wenn „Zauberer“ Ezequiel einen Baum auflodern lässt und auch an anderer Stelle für wahre Feuerwerke sorgt. „Fogaréu“ unterliegt einer permanent bedrohlichen Stimmung, die von der Farb- und Lichtdramaturgie ebenso unterstützt wird wie von den Landschaftsaufnahmen. Der Film begeisterte auch das Publikum und belegte den dritten Platz beim Panorama-Publikumspreis.

Mit Lucrecia Martel war eine der prominentesten Frauen des lateinamerikanischen Kinos auf der Berlinale vertreten. Die Argentinierin ist seit ihrem Debütfilm „La ciénaga“ (Argentinien/Frankreich/Spanien/Japan 2001) dort wohlbekannt, hatte sie damals doch den Alfred-Bauer-Preis für das beste Erstlingswerk gewonnen. Die Vertreterin des Nuevo Cine Argentino kam nun zurück mit einem dokumentarischen Kurzfilm, „Terminal Norte“ (Argentinien 2021), der allerdings nicht im Kurzfilmprogramm, sondern in der Sektion Berlinale Special gezeigt wurde.

Zusammen mit der Sängerin Julieta Laso reist Martel in ihre Heimat Salta zurück und trifft auf andere Künstlerinnen und Musiker. Jede und jeder von ihnen trotzt der Welt mit seiner Kunst. Jedes Musikstück, so unterschiedlich sie alle sind, ist kraftvoll und zeugt von unglaublicher Kreativität und Schaffenswillen. Das ist ein Film, den man sich am liebsten gleich noch einmal ansehen möchte. Im Kino wird er mit einer Spielzeit von nur 37 Minuten vermutlich nicht zu sehen sein, aber vielleicht zeigen ihn die Streamingdienste oder ein Fernsehsender, verdient hätte er es.

Und noch ein wohlbekanntes Gesicht aus Argentinien machte der Berlinale seine Aufwartung: Filmemacher Daniel Burman präsentierte auf dem Festival seine Miniserie aus der Amazon Prime-Schmiede, „Iosi, el espía arrepentido“ (Argentinien 2022). Das Publikum konnte sich in einer Vorstellung die ersten drei von acht Folgen der Spionagegeschichte ansehen und alleine die erste Folge hätte gereicht, um zu zeigen: Filmemacher Burman weiß auch, wie man Serien macht.

Inspiriert von wahren Begebenheiten erzählt die Serie aus dem Leben eines jungen Geheimagenten, José Pérez, der in den 1980er-Jahren als Iosi die jüdische Gemeinde in Buenos Aires unterwandert. Das Setting kennt Creator und Showrunner Burman gut, da er sich auch in seinen früheren Filmen dem jüdischen Geschehen in Argentinien gewidmet hat. Und so lebt auch „Iosi, el espía arrepentido“ von Burmans scharfem Blick und seinem Gespür für Traditionen und Kulturen.

Hat er sich in seinen Filmen auf Dramen und Komödien konzentriert, wechselt Burman mit „Iosi, el espía arrepentido“ in das Genre Politthriller und meistert dieses hervorragend. Ausgehend vom Bombenanschlag auf die israelische Botschaft 1992 erzählt er in vielen Strängen und auf mehrere Zeitebenen verteilt von der Rolle eines einzelnen Geheimagenten als Spielball der Mächte und Machenschaften. Und wer auf der Berlinale einen Einblick in die Serie erhalten hat, wird sich schon jetzt auf die Veröffentlichung auf der deutschen Plattform freuen.

Es waren allerdings nicht nur die bekannten Namen oder die Filme in den Hauptsektionen, die begeisterten. Auch die kleineren Filme in den Nebenreihen des Festivals überzeugten mit ihren Geschichten, so zum Beispiel der Kinderfilm „El reino de dios“ (Mexiko 2022) von Claudia Sainte-Luce in der Sektion Generation Kplus und das Coming-of-Age-Drama „Sublime“ (Argentinien 2022) von Mariano Biasin oder „Alis“ (Kolumbien/Chile/Rumänien 2022) von Claire Weiskopf und Nicolas van Hemelryck im Generation 14plus-Programm.

Der Dokumentarfilm „Alis“ stellt eine Gruppe von Jugendlichen vor, die in einer Einrichtung eine zweite Chance erhalten, eine Ersatzfamilie erleben und ihr Selbstbewusstsein zurückgewinnen dürfen. In La Arcadia werden junge Frauen und Mädchen aufgenommen, um die sich deren Eltern aus verschiedenen Gründen nicht mehr kümmern können: Misshandlung, Vergewaltigung, Drogen, Alkohol, Gewalt in der Familie. Das alles ist diesen Mädchen passiert, das bringen sie mit, tragen sie im Gepäck, wenn sie nach La Arcadia kommen, wo sie neu anfangen dürfen.

„Alis“ stellt diese Mädchen in der Frontalansicht vor. Sie setzen sich vor die Kamera, den Blick in das Objektiv gerichtet, und beantworten die Fragen der Filmemacher. Der Coup: Sie sollen sich eine imaginäre Freundin vorstellen, Alis, und erzählen, wie diese Alis so ist, was sie ihnen als ihre Freundinnen erzählt, wovon sie träumt, welche Geheimnisse sie hat.

Das ist ein großartiger Schachzug, denn in der Auseinander­setzung mit Alis, die für einige der Mädchen real wird, für die anderen erfunden bleibt, kommen sie sich selbst ein Stückchen näher. Für seine „beeindruckende Ehrlichkeit und Direktheit“ wurde der Film mit dem Gläsernen Bären für den Besten Film in der Sektion Generation 14plus ausgezeichnet und darüber hinaus in der Kategorie Dokumentarfilm mit dem Teddy Award, dem queeren Filmpreis auf der Berlinale, geehrt.

Auch das Debüt von Mariano Biasin, „Sublime“, ist ein sehr feinfühliges Portrait. Im Fokus steht der 16-jährige Manu, der sich zwischen seiner Freundin Azul und dem besten Freund Felipe hin- und hergeworfen fühlt. Der Film nimmt seine Perspektive ein, erzählt aber nicht nur aus seinem Blickwinkel, sondern auch auf Augenhöhe mit der jugendlichen Hauptfigur. Das ist die Stärke des Films, die Lebenswelt eines 16-Jährigen von innen heraus zu erzählen.

Dazu dient auch die Musik des Films. Sie ist diegetisch, kommt also aus dem Filmraum und wird gespielt von der Band, zu der auch Manu gehört, für die er textet und den Bass übernimmt. Die Musikstücke dienen dabei nicht nur dem Soundtrack, sondern erzählen, transportieren Gefühle und beschreiben die Hauptfigur – oft noch viel deutlicher als die Dialoge oder seine Mimik. Das gelingt dem Film überaus gut und macht ihn noch authentischer.

In „El reino de dios“ macht sich der junge Neimar auf die Suche nach Gott. Im Unterricht wird er auf seine Erstkommunion vorbereitet, das Fest ist eine große Sache für ihn. Doch dann passieren Dinge, die Neimar noch einmal ganz schön durcheinanderwirbeln. Auch dieser Film zeigt, wie Kinderfilme funktionieren können, indem sie die Perspektive seiner jungen Figuren einnehmen, mit den Augen von Kindern und Jugendlichen auf die Welt blicken, sie Fragen stellen und erleben lassen, dass die Erwachsenen nicht immer alle Antworten parat haben.

Naturgemäß erzählen die Filme der Generationensektion Geschichten mit dem Fokus auf Kinder und Jugendliche. Aber auch Beiträge anderer Sektionen haben in diesem Jahr vermehrt den Kinderblick eingenommen, so zum Beispiel „La edad media“ (Argentinien 2022) von Alejo Moguillansky und Luciana Acuña. Hier übernimmt die zehnjährige Tochter Cleo die Erzählung und später auch das Regime. Sie erzählt vom Alltag im Lockdown, von Home Schooling und virtuellem Klavierunterricht, von Eltern im Home Office und Eltern, die einen Lagerkoller kriegen. Als die Preise für Teleskope (Cleos Traum) in die Höhe schnellen, wird das Mädchen erfinderisch.

Auch „Três tigres tristes“ (Brasilien 2022) von Gustavo Vinagre setzt sich auf originelle Weise mit der Pandemie auseinander und registriert mit scharfem Blick, was eine solche aus und mit den Menschen macht. Aber er thematisiert auch ein anderes Virus, das in Vergessenheit zu geraten sein scheint, das HIV. Darüber hinaus wirft er einen dystopischen Blick auf die Realität des Landes, lässt drei queere Menschen durch São Paulo ziehen und sie auf weitere kuriose, aber immer liebenswerte Menschen treffen. Für diese wunderliche wie faszinierende Collage erhielt Gustavo Vinagre wohlverdient den Teddy Award in der Kategorie Spielfilm.

Noch ein weiterer Preis ging nach Brasilien. Für seinen Kurzfilm „Manhã de Domingo“ (Brasilien 2022) erhielt Bruno Ribeiro den Silbernen Bären als Preis der Jury. Der Film zeigt eine Frau am Klavier, die für ein Konzert übt, das Stück immer und immer wieder spielt, mal für sich allein, mal für den Mann an ihrer Seite, mal für die Mutter. Dabei kommen Erinnerungen hoch und verbinden sich auf spannende Weise mit der Gegenwart.

In den meisten der gezeigten Filme stehen Frauen oder Mädchen im Mittelpunkt, mit ihren Erfahrungen und Erinnerungen, ihrem Alltag, ihren Ängsten und Herausforderungen, mit ihrer Sicht auf die Dinge. Stärker als sonst treten Frauen auch als Filmemacherinnen in den Vordergrund. Bei den 13 Langfilmen führten in fünf Fällen Frauen alleine und in dreien gemeinsam mit einem Partner Regie, eine Quote von 50 Prozent. Der weibliche Blick auf die Welt zeigt sich in der verstärkten Thematisierung von Alltag, aber auch von Gewalt, Identität und Vergangenheitsarbeit.

Und noch eins wurde wieder deutlich auf der 72. Berlinale, dass Filme ins Kino gehören. Viele der erzählten Geschichten entfalten erst dort ihre Wirkung, viele der Filmbilder müssen in Groß gesehen werden, um ihre volle Kraft zu entwickeln. Oder wie Kulturstaatsministerin Claudia Roth es bei der Eröffnung der Filmfestspiele formulierte: „Wir brauchen das Kino.“