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Wenn Chico Buarque nicht gewesen wäre

Hommage an einen vergangenen Mikrokosmos: die Komödie „O Pai da Rita“
Britt Weyde

Die erste Szene zeigt ein Brasilien, wie man es sich als romantisch verklärten Sehnsuchtsort vorstellen mag: Eine Gruppe Afrobrasilianer*innen, jung und alt, musizieren heiter zusammen, singen und tanzen Samba. Alles klar, Karneval in Rio de Janeiro und so weiter. Aber nein, auch andere Städte und Gegenden in Brasilien pflegen und feiern den Samba. So auch der Stadtteil Bixiga in São Paulo, wo das neueste Werk von Filmemacher Joel Zito Araújo spielt.

In Bixiga leben viele Schwarze, das Viertel gilt zudem als Hochburg der italienischen Einwanderung Anfang letzten Jahrhunderts. Hier ist, beziehungsweise war, die traditionsreiche Sambaschule Vai-Vai aktiv, um deren beiden Veteranen, den Komponisten Pudim und Texteschreiber Roque, der Film kreist. Pudim (portugiesisch für „Pudding“, was wohl auf seine Leibesfülle anspielt) und Roque (nicht nur körperlich das ziemliche Gegenteil) sind beide in ihren 60ern. Sie trauern den alten Zeiten hinterher. Mit so manch neuer Entwicklung kommen sie nicht klar: ein verändertes Stadtbild durch Immobilienspekulation, moderne Interpretationen des Samba, und auch die immer spärlicheren Gelegenheiten für Romantik oder etwas (bezahlten) Sex betrüben den Alltag. Ein Faktor aber ist stabil: ihre Freundschaft. „Seit 30 Jahren sind wir zusammen“, witzelt Pudim. Doch ihre Freundschaft wird im Verlauf der Geschichte auf eine Probe gestellt.

„Ich habe den Lifestyle eines Bohemiens, das kann keine Frau ändern“, prahlt Roque vor der jungen Gracinha aus der Nachbarschaft. Der Lieferdienst bringt ihr eine Bestellung. „Das ist modern“, sagt sie. „Was ist daran modern“, kontert Roque. „Das Fahrrad gehört ihm nicht und er verdient schlecht.“ Die junge Frau nimmt die beiden Freunde mit in einen urbanen Quilombo.1 Hier läuft kein Samba. Junge, queere, diverse Schwarze tanzen und twerken zu Reggae-Sounds, was das Zeug hält. Pudim und Roque fremdeln etwas, werden aber freundlich empfangen. Eine elegante Person im Glitzerkleid und mit tiefer, weicher Stimme moderiert – „Herzlich willkommen an alle Leute und alle Geschlechter“ – und bittet die beiden Sambalegenden ans Mikrofon. Roque bedankt sich höflich, bekennt sich dazu, oldschool zu sein, endet aber mit einer kämpferischen Ansage: „Anders zu sein, ist für uns normal, es heißt, nicht mit dem Kämpfen aufzuhören. Wir werden erst dann gleich sein, wenn wir stolz darauf sind, anders zu sein.“ Roque und Pudim kommen aus einer anderen Zeit, aber auch sie erfahren Diskriminierung und Rassismus wie die jungen Afrobrasilianer*innen. Das ist eine der politischeren Szenen des Films, der ansonsten gespickt ist mit Klamauk (etwa wenn der Barbesitzer ein Steak mit dem Bügeleisen „brät“) und Pudims polterndem Macho-Verhalten (wenn er über Schwule witzelt und auf seiner heterosexuellen Männlichkeit besteht). Das passt zum politischen Klima in Brasilien: Explizite Kritik von (linken) Kulturschaffenden, die neben LGBTIQ-Szene und Feminist*innen die Lieblingsfeinde von Bolsonaro und seinen Fans sind, wird wohl besser versteckt artikuliert. Und als schwul zu gelten, ist unter dem homofeindlichen Bolsonaro für viele, auch Nicht-Bolsonaristas, eine Horrorvorstellung.
Pudim war mal ein untreuer Womanizer. Heute schnorrt er ständig, säuft, ist laut, kifft. Und isst natürlich lieber Hühnchen als den Salat seines drahtigen Kumpels Roque. Pudim trauert seiner großen Liebe, der Sambatänzerin Rita hinterher, die auch mit Roque eng befreundet war. „Dieser Weiße hat sie mir weggenommen“, ist Pudims Mantra. Damit meint er Musiklegende Chico Buarque, der mal im Viertel zu Besuch war und danach einen Sambasong namens „A Rita“ komponierte…

Durch einen lebensbedrohlichen Zwischenfall landet Pudim im Krankenhaus, wo er von Krankenschwester Ritinha versorgt wird. Sie ist nach Bixiga gekommen, um die beiden besten Freunde ihrer verstorbenen Mutter kennenzulernen – und um herauszufinden, wer ihr Vater ist. Pudim „adoptiert“ Ritinha begeistert als seine Tochter, zeigt sie stolz im Viertel herum. Aber nicht alle sind von Pudims neu entdeckter Vaterschaft begeistert. Roque sieht sich gezwungen, ein Geheimnis zu lüften. Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten!

Einige der im Film zu sehenden Straßenzüge gibt es heute nicht mehr, die Gentrifizierung hat für die übliche Verdrängung gesorgt. Auch die Sambaschule Vai-Vai musste übrigens nach
40 Jahren umziehen.

  • 1. Quilombo: Dörfer von Menschen, die sich aus der Versklavung befreiten und sich dort selbst verwalteten und verteidigten.

Der Film läuft am 22. September um 19.30 Uhr beim Afrika Film Festival (15. bis 25. September) im Kölner Filmforum. Der Regisseur wird zum Publikumsgespräch anwesend sein. www.afrikafilmfestivalkoeln.de