Sprache ist in der ila ein häufiges Diskussionsthema: Wie drücken wir etwas aus, um es möglichst exakt zu fassen, welche Begriffe benutzen wir für neue Phänomene, welche Schreibweisen verwenden wir, wenn wir vermeiden wollen, Menschen auszugrenzen oder zu verletzen, wie vertragen sich veränderte Schreibvereinbarungen mit unserem Sprachgefühl und dem unserer Leser*innen?
Warum diese Überlegungen am Anfang des Editorials einer Ausgabe, in der es um religiöse Entwicklungen in Lateinamerika geht? Nun, weil wir selten so viel um Sprache und Begrifflichkeiten gerungen haben wie in dieser Ausgabe. Uns mit dem anscheinend unaufhaltsamen Aufstieg der „evangelikalen“ Kirchen in Lateinamerika und deren wachsendem Einfluss zu beschäftigen war zunächst eine politische Entscheidung. Doch bereits bei der Suche nach und der Korrespondenz mit potenziellen Autor*innen bekam das Ganze auch eine sprachliche Dimension. In Lateinamerika werden diese Kirchen und ihre Mitglieder gemeinhin als evangélicos bezeichnet. Doch unter „evangelisch“ versteht man in Deutschland in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich, die protestantischen Großkirchen. Die Autor*innen in dieser Ausgabe verwenden vorwiegend die Begriffe pfingstlerisch, (neo-)pentekostal oder evangelikal. Interessanterweise wird der letzte Begriff mit dem Bezug auf das Evangelium vor allem von den Autor*innen verwendet, die keinen theologischen Hintergrund haben und insgesamt religionsfern sind (das gilt auch für die Mehrheit der ila-Redaktion, aber wiederum nicht die ganze).
Doch der sprachlichen Unsicherheiten damit nicht genug. Ist es angemessen, Begriffe zu gendern, wenn man über Leute schreibt, die Geschlechtergerechtigkeit bekämpfen und überall die Existenz einer die Grundfesten der christlichen Familie bedrohenden „Genderideologie“ am Werk sehen? Oder die Anregung einer Autorin, für diese eine Ausgabe wieder zu dem fast 20 Jahre in der ila verwendeten großen Binnen-I zurückzukehren, um auszudrücken, dass Frauen und Männer gemeint sind. Davon waren wir vor vier Jahren anlässlich unseres Schwerpunkts über LGBTQI-Bewegung in Lateinamerika abgerückt. Queere Aktivist*innen hatten uns darauf hingewiesen, dass das Binnen-I eine harte Dichotomie ausdrücke, hier weiblich, dort männlich. Es gebe aber Personen, die sich nicht als eindeutig männlich oder weiblich sehen, deswegen sei das Sternchen adäquater. Aber für die meisten Evangelikalen gibt es nur eindeutig männlich oder weiblich (was mittlerweile in gendersensibler Sprache cis-männlich oder cis-weiblich genannt würde).
Oder die Frage, wie man das erste Buch der Bibel bezeichnet; einige Autor*innen benutzten den Begriff „Altes Testament“, mit dem auch eine sehr lange Tradition christlichen Antijudaismus‘ transportiert wird. Evangelikale meinen zwar in der Regel, sie seien davon frei, aber wer beansprucht, nun „das neue Israel“ zu sein, wird von Jüdinnen und Juden wohl zu Recht des Antijudaismus geziehen werden können. Antisemitismus dagegen ist bei Evangelikalen tatsächlich selten anzutreffen, Rassismus und religiöse Intoleranz aber sehr wohl, die sich aber vor allem gegen den Islam und speziell in Brasilien auch gegen die afroamerikanischen Religionen richten. Es gibt aber durchaus auch schwarze Evangelikale, die beides praktizieren.
Bevor wir mit der Arbeit an dem Schwerpunkt begannen, hatten die meisten von uns ein relativ klares Bild: Die Evangelikalen sind reaktionär, misogyn, homophob, lustfeindlich und auf jeden Fall ein zentraler Teil des rechten Rollbacks in den Amerikas. Inzwischen sind sie in zahlreichen Regierungen vertreten, es gab und gibt eine Reihe evangelikaler Präsidenten, deren Bilanz mehr oder weniger katastrophal ist (Bolsonaro in Brasilien, Abdo Benítez in Paraguay, Efraín Ríos Montt und Jimmy Morales in Guatemala). Die chilenische Sozialistin Michelle Bachelet und Nayib Bukele, der Sohn des Imams der schiitischen Gemeinde von San Salvador, sahen sich bemüßigt, Feiertage auszurufen, um die evangelikalen Kirchen zu feiern. Die Annahme der ausgehandelten Friedensverträge in Kolumbien, die wesentlich mehr Potenzial für einen echten Frieden boten als die später in Kraft getretenen, wurde maßgeblich durch Evangelikale im Verein mit einer erzkonservativen katholischen Kirche verhindert.
Aber wir haben auch gemerkt, dass die evangelikale Szene in Lateinamerika sehr viel differenzierter ist, als wir zunächst gedacht hatten, und vor allem dass es vielfältige Gründe und Bedürfnisse gibt, warum so viele Menschen ihr Heil in diesen Kirchen suchen und offensichtlich auch finden. Das sollte, gerade auch von nicht-religiösen Menschen, ernst genommen werden.
Es freut uns, dass wir so viele kompetente Autor*innen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen zur Mitarbeit an dieser Ausgabe gewinnen konnten. So breit und interdisziplinär wurde sich im deutschsprachigen Raum wohl selten mit den Evangelikalen in Lateinamerika auseinandergesetzt.