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Der Körper als Waffe des Widerstands

Der unabhängige Tanz während der Militärdiktatur in Chile

„Am Anfang wussten wir nicht, wie wir diese Barriere der Unwirklichkeit und Idealisierung durchbrechen sollten, welche die Tänzer vom Publikum trennte und dazu führte, dass es den Menschen schwer fiel zu verstehen, dass sie mitmachen konnten.“ Dieser Satz stammt von Joan Turner, einer der Mitbegründer*innen der freien Tanzszene Chiles in den 60er-Jahren.

Valeska Díaz Soto

Die Geschichte des Tanzes in Chile ist im Vergleich zu anderen Ländern relativ jung. Dessen Entwicklung zu rekonstruieren ist eine schwierige Aufgabe, da kaum Material dazu vorhanden ist. Es gibt nur wenige Forschungsarbeiten zum Tanz und obwohl noch einige Fragen offen sind, liegt genau darin die aktuelle Relevanz: den Tanz vor dem Hintergrund des jeweiligen Landes und historischen Moments zu analysieren und zu interpretieren. Somit wird Forschung zu einem Werkzeug, um die Gesellschaft zu verstehen und zu untersuchen, wie diese Kunstform ein politisches Druckmittel sein kann.

Für Chile ist hierbei das beste Beispiel die Rolle der unabhängigen Tanzszene in Opposition zur Militärdiktatur (1973-1990). Der unabhängige Tanz entstand in Chile ungefähr ab Mitte der 60er-Jahre als Alternative zum institutionalisierten, vom Staat subventionierten Tanz. Damit versuchten die Choreograf*innen und Tänzer*innen, andere Realitäten sowie ihren eigenen Standpunkt zum nationalen und regionalen Geschehen aufzuzeigen. Eine der ersten Kompanien war das „Ballet Popular“. Gegründet wurde es von der englischen Tänzerin Joan Turner (später bekannt als Joan Jara, Witwe des Cantautor1 Victor Jara) und dem Tänzer Alfonso Unanue. Das Ziel dieser Kompanie bestand darin, mit der Vorstellung des institutionellen Tanzes als Aktivität der Elite zu brechen. Nach dem Motto „Tanz ist für alle“ wollten sie diese Kunstform in die Gesellschaft tragen, neue Stücke schaffen und in die abgelegenen Gegenden Santiagos bringen.

Das „Ballet Popular“ wurde 1970 gegründet.  Es orientierte sich, ähnlich wie die Musiker*innen der Nueva Canción Chilena2 sowie andere Künstler*innen und Intellektuelle Chiles, am politischen Programm Salvador Allendes und seinem linken Wahlbündnis Unidad Popular. Ab dem Zeitpunkt wirkten die Tänzer*innen, gemeinsam mit Victor Jara und Inti Illimani, aktiv an der Präsidentschaftskampagne mit und erreichten große Bekanntheit mit ihrem choreografischen Werk „Venceremos“. Dieses Stück entwickelte sich zu einem kulturellen Aushängeschild der Unidad Popular. Nach dem Amtsantritt Allendes wurden das „Ballet Popular“ und die Musiker*innen der Nueva Canción Chilena zu Schlüsselelementen des Regierungsprogramms Arte para todos („Kunst für alle“). Dieses Programm sollte verschiedene künstlerische Disziplinen in die abgelegenen Regionen des Landes bringen und die elitären Vorstellungen von Musik, Tanz, Literatur, Theater etc. aufbrechen.

Der größte Vorteil des „Ballet Popular“ bestand darin, nicht viel zu benötigen, was die Bühne, das Bühnenbild, die Musik oder Kostüme betrifft. Häufig fungierten Bolzplätze oder Gemeindezentren als Bühne. So schaffte es das „Ballet Popular“ spielend, die Leute zu erreichen. Außerdem sollten sich die Gemeinden aktiv in das Projekt einbringen. Gastón Baltra erinnert sich im Interview mit Camila Ponce3 an seine Rolle als Tänzer und die Herausforderung, die damit einherging: „Wir waren eigentlich an Bühnen mit Umkleide, Duschen und Toiletten gewöhnt, aber wir ließen uns darauf ein und kamen dadurch an Schauplätze, die uns viel abverlangten, wo das Publikum zum Beispiel Arbeiter oder Jugendliche aus marginalen Vierteln waren, die noch nie zuvor Tanzaufführungen gesehen hatten.“ Joan Turner kommentiert in einem Interview: „Das ‚Ballet Popular‘ trug den Geist der Unidad Popular, den sozialen Zusammenhalt in sich. Alle wollten kreativ daran teilhaben, sei es mit Gesang, mit Tanz oder Theaterstücken.“ Verschiedene Zweigstellen des „Ballet Popular“ wurden als Tanzschulen für Kinder in den Randbezirken von Santiago eröffnet.

Nach dem Putsch von General Pinochet im September 1973 begann eine Militärdiktatur, unter der der unabhängige Tanz genauso wie alle anderen Kunstformen in Mitleidenschaft geriet. Viele Tänzer*innen, vor allem von der Universidad de Chile, gingen ins Exil, wurden gefoltert oder umgebracht; in Chile vollzog sich ein „kultureller Stromausfall“. Das „Ballet Popular“ verschwand komplett. Joan Turner ging nach London ins Exil, nachdem Victor Jara ermordet worden war. Das gleiche Schicksal erlitten andere politische Künstler*innen, wie zum Beispiel der Tänzer und Choreograf Patricio Bunster, der zu dem Zeitpunkt Direktor des „Ballet Nacional Chileno“ war. Er ging in die DDR ins Exil.

Die ersten Jahre der Pinochet-Diktatur wirkten sich nicht nur auf die Künstler*innen und Kompanien negativ aus. Auch in den Institutionen stand die Arbeit still. Schließlich versuchte die Politik alle Spuren der Vergangenheit mit Gewalt auszulöschen, damit sich auch ja niemand an das Erbe der Unidad Popular erinnere. Deshalb wurden auch Choreografien des Nationalballetts, des Folkloreballetts und des städtischen Balletts zensiert oder Titel geändert. Außerdem waren die meisten Ensembles wegen der Verfolgung ihrer Mitglieder stark ausgedünnt. Daher griffen Presse und Ausland auch das Konzept des „kulturellen Stromausfalls“ auf, mit dem dieses Moment der Repression und des kompletten Stillstands im künstlerischen Schaffen bezeichnet wurde.

Trotz alledem bot dieser kulturelle Stromausfall Chiles unabhängiger Tanzszene eine Chance, zu experimentieren und Stücke zu erschaffen, die ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck brachten. Die Choreograf*innen und Tänzer*innen, die zum Großteil von Joan Turner und Patricio Bunster ausgebildet worden waren (die wiederum stark vom deutschen Expressionismus beeinflusst waren), hielten es für unabdinglich, eine soziale Form des Tanzes zu erschaffen und damit die damals aktuelle chilenische Realität widerzuspiegeln. Obwohl die Künstler*innen in den Anfangsjahren der Diktatur extrem eingeschüchtert waren, entwickelte sich ab Ende der 70er-Jahre eine neue Form des politischen und experimentellen Tanzes. Daraus entstanden über das ganze Land verteilt verschiedene Kompanien, wie zum Beispiel die Agrupación de Danza Mobile (1976), geleitet von Hernán Baldrich, Grupo Danza del Centro (1978), geleitet von Gregorio Fassler, Vértice (1979), geleitet von Ingeborg Krussel, Grupo Calle (1982), später Compañía Teatro del Cuerpo genannt, geleitet von Vicky Larraín, Grupo Tedat (1982), geleitet von Germán Silva, Grupo Andanzas (1982), geleitet von Nelson Avilés, Compañía de Danza Calaucan (1983), geleitet von Manuela Bunster und Joan Turner sowie Centro de Danza Espiral (1985), das von Joan Turner und Patricio Bunster gegründet wurde, nachdem sie aus dem Exil zurückgekehrt waren.

Was die meisten dieser Kompanien gemeinsam hatten, war die Ähnlichkeit zum „Ballet Popular“. Wegen der Zensur und der Repressalien des Regimes waren die Künstler*innen dazu gezwungen, verschiedene inszenatorische Techniken zu nutzen, wie zum Beispiel audiovisuelle Elemente, Yoga, Akrobatik, Theater, Pantomime etc.. Damit erschufen sie einen experimentellen Tanz mit einer neuen Sprache, der für die Kulturagenten Pinochets schwierig zu entziffern war. Zu diesen Strategien bemerkt Macarena Rubio4: „Wir griffen auf Abstraktionen zurück, was durch die neuen Tendenzen aus den Vereinigten Staaten möglich gemacht wurde, die das Verständnis der Zensurbehörden der Diktatur überstiegen. Außerdem nutzten wir Tänze aus dem Barock und der Renaissance. Experimentierfreudigkeit und das kleine Format waren vorherrschend.“

Mit diesen neuen Werkzeugen widersetzten sich die Tänzer*innen und Choreograf*innen dem düsteren sozialen Panorama der Diktatur. Der Tanz wurde zu einer Form des Protests gegen die Schikane im Land. Eines dieser Werke in diesem Kontext war A pesar de todo…, eine Hommage von Patricio Bunster an Victor Jara und die Opfer der Diktatur. Es entstand während seines Exils in der DDR (unter dem Namen „Trotz alledem – Venceremos“) im Jahr 1975 und wurde nach seiner Rückkehr nach Chile von der Grupo Espiral aufgeführt. Dieses Werk kam in der DDR sehr gut an, vor allem bei den Exil-Chilen*innen und den Kulturbehörden im Zuge der Solidaritätsbewegung für Chile. In Chile wurde das Stück im Jahr 2006 erneut aufgeführt: als großer künstlerischer Meilenstein für die von der Gewalt geprägten Generationen, aber auch als „Geschichtsunterricht“ für die Jüngeren, die in der Demokratie aufgewachsen sind. Ein anderes wichtiges Werk in diesem Zusammenhang ist In Memoriam (1986) von Vicky Lerraín und der Grupo Calle, das den Opfern des Caso Degollados5 1985 gewidmet ist.

Dies sind wohl die bekanntesten Beispiele, aber bei weitem nicht die einzigen. Im Gegenteil, viele der Kompanien, einige von ihnen anonym, wagten es, den Tanz als politischen Ausdruck gegen die Diktatur zu nutzen. Sie gingen dabei immer auf eine raffinierte Art und Weise vor, die es den kulturellen Agenten schwer machte, sie zu zensieren. Durch den Gebrauch des Körpers und der Bewegung als eine schwer zu zensierender Formel entstand eine Tanzbewegung, die es schaffte, Teile der Gesellschaft für sich zu gewinnen, die sich zuvor nicht mit dem (klassischen) Tanz identifizieren konnten. So konnte sie auch in einer Parallelwelt innerhalb der großen Institutionen wie dem Ballett des städtischen Theaters oder des Nationalballetts Chiles fortbestehen.

Zuletzt gilt es zu erwähnen, dass es auch unabhängige Tanzgruppen in Chile gab, die sich nicht in politische Themen einmischten. Einige von ihnen arbeiteten neutral weiter, während andere wiederum kein Problem damit hatten, sich bei gewissen politischen Vorhaben nach der Diktatur auszurichten. Daran erkennt man das Spektrum der Möglichkeiten und Denkweisen dieser Kunstform.

Was uns diese Epoche als Erkenntnis hinterlässt, ist die Fähigkeit der Künstler*innen, sich immer wieder neu zu erfinden und sich als Bürger*innen dazu ermächtigt zu fühlen, den eigenen Körper und die Bewegung dafür zu nutzen, um Botschaften der Unzufriedenheit und der Sorge in die Gesellschaft zu tragen. Vor allem bei der Bevölkerung in den von der Regierung aufgegebenen randständigen Stadtteilen regten die Tänze einen aktiven Austausch zwischen den von der Diktatur geschädigten Familien an.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Diktatur der 70er- und 80er-Jahre dem unabhängigen Tanz in Chile irreparable Schäden zugefügt und einen „künstlerischen Stromausfall“ ausgelöst hat. Sie führte aber auch zu einem neuen Erblühen des nationalen Tanzes. Während dieser Periode erlebte der chilenische Tanz im Vergleich zu den Vorjahren einen der kreativsten transformatorischen Prozesse und schuf somit die Basis für die folgenden Generationen von Choreograf*innen und Tänzer*innen. Die Künstler*innen schafften es, einen unabhängigen Tanz im nationalen Kontext zu kreieren, der zwar von den tänzerischen Bewegungen Europas und der Vereinigten Staaten beeinflusst, aber auch von der Realität des eigenen Landes geprägt war. Dies war auch der Ansatz für einen eigenen Spielplan, der über Reproduktionen der großen Meisterwerke des klassischen Balletts hinausging und Stücke enthielt, die im eigenen Land vor dem Hintergrund der eigenen sozialen Realität entstanden waren. Außerdem wurden Offenheit und Nähe zu einem Publikum geschaffen, das sich vorher nicht für diese Kunstform interessiert hatte.

  • 1. deutsch: Liedermacher, neudeutsch: Singer/Songwriter; beide geben die Bedeutung des Wortes nicht vollkommen wieder
  • 2. Musikalische Bewegung mit politischem Anspruch, die in den 60er-Jahren entstand
  • 3. Ponce, Camila (2015): Danza contemporánea independiente y política: movimientos y rupturas en Chile durante la década de los 70 y los 80. Revista Cátedra de Artes de la Facultad de Artes de la Pontificia Universidad Católica de Chile. N°15, p. 105
  • 4. Rubio, Macarena y Pérez, Carlos (2014). Fotografías de la Danza Contemporánea Independiente, Santiago de Chile 1973-1989. Distribución: Metales Pesados. S. 26
  • 5. Serie von drei politisch motivierten Morden an Oppositionellen, die damals einen großen Skandal in der chilenischen Gesellschaft auslöste