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Das ist hier wie auf dem Dorf

Eine Población in der Millionenstadt Santiago de Chile

In Chile werden die Armenviertel Poblaciones genannt. La Alborada ist eine Población in der Gemeinde La Florida, im Südosten der Hauptstadt Santiago. Die Schwestern Verónica Miranda Bustos und Maria Paz Miranda Bustos sind hier aufgewachsen und in ihrem Stadtteil politisch aktiv. Sie erzählen, was das Besondere am Leben in der Población ist und warum sie trotz aller Nachteile nicht von dort wegziehen wollen.

Alix Arnold

Kennengelernt haben wir uns im Dezember 2019. Seit Oktober 2019 befand sich Chile im Aufstand. Verónica und Maria Paz organisierten mit zwei weiteren Freund*innen das Cabildo La Alborada, die Stadtteilversammlung, die dort jede Woche auf dem Platz stattfand. Es war die Idee von Maria Paz gewesen, nach den ersten Aufstandstagen ein Schild zu malen „Cabildo. morgen 18 Uhr hier“ und es auf den Platz zu stellen. 80 Menschen aus ihrem Barrio folgten diesem Aufruf. Es war der Anfang von großen Mobilisierungen im Stadtteil (siehe ila 432). Drei Jahre später treffen wir uns wieder, nachdem die Pandemie den Aufstand auf der Straße beendet hat und der Versuch, Chile eine progressive Verfassung zu geben, gescheitert ist. Der Verfassungsentwurf wurde im September 2022 per Referendum abgelehnt. Diese Niederlage war für die Aktivist*innen ein herber Schlag. Aber sie machen weiter, auch wenn die Beteiligung an den Versammlungen stark zurückgegangen ist. Verónica macht inzwischen auch institutionell Politik. Sie ist seit 2021 parteiunabhängige Stadträtin in La Florida. Ihr Grüppchen unterstützt sie bei den Basisaktivitäten in der Población.

Verónica und Maria Paz leben in der dritten Generation in La Alborada. Ihre Großeltern haben sich bei der Gründung in den 50er-Jahren als Bauernfamilie dort angesiedelt. Mit der Agrarreform von 1962 bekamen sie etwas Land zugesprochen. „Auf diesem Territorium leben viele aus unserer Familie, unsere Großeltern hatten 14 Kinder“, erzählt Verónica. „Hier wohnten vor allem Arme, es war ein ständiger Kampf, ökonomisch und sozial voranzukommen. Das führt zu einem Gefühl der Zugehörigkeit. Wenn wir von unserer Población sprechen, sagen wir damit nicht nur, dass wir an diesem Ort wohnen, sondern wir sind auch stolz darauf, weil unsere Vorfahren das erkämpft haben. Das tragen wir als Verantwortung und wir sind dafür dankbar. Auch wenn wir von den Eliten stigmatisiert werden, ist uns doch klar, dass das hier viel mehr ist als der Begriff von Población, den sie mit ihrem tendenziösen und vorurteilsvollen Blick haben. Hier zu leben, das bedeutet einen täglichen Kampf, um den nächsten Generationen neue Möglichkeiten zu eröffnen. Wir haben uns als Kinder noch mit Flusswasser aus den Kanälen gewaschen, die für die Landwirtschaft angelegt wurden. Das ist heute undenkbar. Hier war nichts asphaltiert. Unsere Großmutter hatte Hühner, hat geschlachtet und in großen Töpfen gekocht, weil wir so viele Enkel waren. Das habe ich in den 90er-Jahren noch miterlebt. Es gibt hier eine öffentliche Schule, auf die wir alle gegangen sind, unsere Eltern, Onkel und Tanten, alle waren auf dieser Schule, und es gibt eine Kapelle, in der wir alle getauft wurden, wo alle heiraten und die Toten aufgebahrt werden. Das ist hier wie auf dem Dorf. Alle kennen sich und vieles findet auf dem Platz statt. Während der Diktatur ist viel kaputtgegangen und Misstrauen entstanden. Mit dem Aufstand 2019 haben wir uns das wieder zurückerobert.“

Ein großes Problem der Poblaciones ist die Enge. Um Platz für die großen Familien zu schaffen, werden die Gelände immer mehr zugebaut. „Wir lebten mit den Großeltern und Eltern zusammen. Dann wurden auch wir Eltern und lebten weiter zusammen. Trotzdem glaube ich, dass das auch vorteilhaft für uns war, weil wir wie in einer Herde aufgewachsen sind, gemeinsam mit den Cousinen und Neffen. Wenn eine Frau aus der Familie eine Arbeit fand, hatte sie ein unterstützendes Netz, das sich um die Kinder kümmerte“, meint Verónica.

Maria Paz problematisiert den Fortschritt, denn die Verbesserung der Lebensverhältnisse habe zu einem Niedergang des Gemeinschaftslebens geführt. Viele ihrer Neffen seien drogenabhängig. Schießereien auf der Straße wegen Drogenhandel, wie sie uns aus anderen Poblaciones berichtet wurden, gebe es hier aber nicht. Hier würde nur geschossen, um die Ankunft einer neuen Drogenlieferung im Viertel anzukündigen. Aber mit Feuerwerk, wie sie lachend erzählen. Die Häuser und Grundstücke in La Alborada sind eingezäunt, vergittert und stark gesichert, aber Maria Paz fühlt sich auf den Straßen des Viertels sicher: „Für uns ist das hier nicht gefährlich, weil wir sie alle kennen. Sie schnorren uns an, aber sie tun uns nichts, weil wir von hier sind. Wenn es Raubüberfälle gibt, sind das meist keine Leute von hier.“

Statistiken zufolge ist La Florida eine der Gemeinden mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen in Chile. Verónica erklärt, wie das mit den Armutsproblemen in ihrer Población zusammenpasst: „Wir sind mit 400 000 Einwohner*innen eine der größten Gemeinden in Chile, mit einem großen Haushalt, aber die Ressourcen sind sehr ungleich verteilt. Viele Mittel für die Reichen und wenige für die Armen, insofern ist diese Gemeinde ein Abbild von Chile. Es gibt einen Sektor in La Florida, wo die Leute bequem leben oder sogar sehr privilegiert, und einen anderen, sehr armen, ausgegrenzten und vernachlässigten Sektor. Ein deutliches Beispiel, das alle hier kennen: In den armen Sektoren gibt es auf den Plätzen kein Gras, nur staubige Erde. Jenseits der Avenida Florida findest du Rasenflächen, die von der Gemeinde jeden Tag bewässert werden. Es gibt die Behörde für Kindergärten, Junji, die staatliche Kindergärten betreibt. In den armen Sektoren sind die völlig vernachlässigt, mit Taubendreck und Rattenplagen. Wenn du die Kindergärten derselben Institution im Osten besuchst, wo die Reichen leben, findest du die beste Ausstattung.“

Trotz allem zählen sich viele Menschen in La Alborada zur Mittelschicht. Für Verónica ist das ein problematischer Begriff, der schon bei den Versammlungen im Aufstand, als Nachbar*innen sich ehrlich über ihre Nöte austauschten, ins Wanken geriet: „Durch die Pandemie ist uns die Armut, in der wir leben, noch mehr bewusst geworden. Ein Teil der Bevölkerung sieht sich als Mittelschicht, weil sie eine Wohnung haben und sich ein Auto kaufen konnten. Aber alles über Kredite. Als in der Pandemie Unternehmen pleitegingen, wussten all diese Familien nicht mehr, wie sie die Raten für ihre Häuser oder die Lebensmittel bezahlen sollten. Sie fanden sich in absoluter Armut wieder. So haben wir verstanden, dass der Begriff Mittelschicht erfunden wurde, um letzten Endes das kapitalistische Modell zu stützen. Wir sollen glauben, dass wir in einem System leben, das gut für uns ist. Die Leute schämen sich zu sagen, dass sie arm sind. Also ist es ein Ausweg, sich als Mittelschicht zu bezeichnen. Aber während der Pandemie mussten wir Essen verteilen, auch in Gegenden, wo die Leute in schönen Häusern leben. Sie konnten ihre Kredite nicht mehr bezahlen.“

Die „Ollas Comunes“, selbstorganisierte Gemeinschaftsküchen für die Armen, haben in Chile seit den 70er-Jahren Tradition. In der Pandemie wurden sie an vielen Orten neu gegründet. In La Alborada gab die Mutter der beiden Schwestern zusammen mit Jugendlichen aus der katholischen Kirche den Anstoß. Verónica und Maria Paz beteiligten sich mit ihrer Versammlungsstruktur, besorgten Lebensmittel und halfen bei der Verteilung. An drei Tagen pro Woche wurden jeweils 250 Portionen Essen ausgegeben. Die „Olla“ war damit auch ein Treffpunkt für 250 Menschen. Außerdem wurden als Nachbarschaftshilfe Lebensmittelpakete zu den Familien gebracht, für die Tage zwischen den Versammlungen und für Infizierte, die das Haus nicht verlassen durften.

Gleichzeitig mussten unter den erschwerten Bedingungen der Pandemie Kampagnen zu den zwei Referenden betrieben werden: das erste zur Frage, ob es eine neue Verfassung geben solle, und das zweite über den ausgearbeiteten Verfassungsentwurf. In der ersten Kampagne waren Demonstrationen wegen der Pandemie verboten. In der Población veranstalteten sie Auto- und Fahrradkorsos, aber im Oktober 2020 trotz Verbot auch einen Tanz mit einer bekannten Cueca-Band. Nach sieben Monaten Pandemie-Regime feierten und tanzten 500 Leute ausgelassen auf dem Platz. Kurz darauf stimmte eine große Mehrheit in Chile dafür, dass es eine neue Verfassung geben solle.

In der zweiten Kampagne waren Treffen auf der Straße wieder erlaubt, was die Aktivist*innen ausgiebig nutzten. Sie organisierten Versammlungen zu verschiedenen Themen, Kaffeetrinken in der Metrostation, Kultur-, Sport- und Kinderaktivitäten oder auch die Verlosung eines „Asado“, einer großen Portion Grillfleisch. Für die Teilnahme sollten die Leute aufschreiben, was ihrer Meinung nach in der neuen Verfassung stehen sollte. Angesichts des beliebten Preises beteiligten sich viele Nachbar*innen. Inhaltlich war diese zweite Kampagne jedoch wesentlich schwieriger. Die Rechte machte propagandistisch Stimmung gegen den Verfassungsentwurf, mit ständig neuen Fake-News, gegen die kaum anzukommen war. „Wir haben einen Flyer zu den wichtigsten Punkten herausgebracht. Wir sind damit von Haustür zu Haustür gegangen und das lief gut. Aber wir waren zu wenige. Das hätte überall laufen müssen. Da hatten wir auch zu wenig Unterstützung von der Regierung. Alondra Carrillo, die für unseren Bezirk in der Verfassunggebenden Versammlung war, hat immer gesagt, dass du für das ‚Apruebo‘, für die Zustimmung zur neuen Verfassung, lesen und Aktivist*innen kennen musstest, die dir das erklären konnten, während es für das ‚Rechazo‘, für die Ablehnung, ausreichte, den Fernseher einzuschalten. Wir haben alles gegeben, aber auch hier hat das ,Apruebo‘ verloren, wenn auch nur knapp. Es war ein Irrtum zu glauben, dass Chile für eine so progressive Verfassung bereit sei. Wir leben in einem konservativen Land“, meint Verónica traurig.

Maria Paz fügt selbstkritisch hinzu, dass es ihnen auch auf Social Media, wo die 18-Jährigen unterwegs sind, die zum ersten Mal abgestimmt haben, nicht gelungen ist, den unverschämten Lügen entgegenzutreten. Vor allem aber sieht sie die Diskussion um die neue Verfassung als Klassenfrage: „Der Verfassungskonvent war ein Ort der Elite. Die armen Leute haben sich gefragt, warum eine neue Verfassung in einem Palast ausgearbeitet wird. Ich finde den Verfassungsentwurf großartig und es ist schade, dass er nicht angenommen wurde. Aber es geht darin mehr um die Bedürfnisse der Elite als um die der Menschen in den Territorien, an der Basis. Die Menschen in Chile haben immer noch kein Recht auf kostenlose und gute Bildung, auf Gesundheitsversorgung, auf eine Wohnung oder eine würdige Rente. In dem Verfassungsentwurf kommen diese vier fundamentalen Punkte vor, aber er enthält noch viel mehr Themen. In einem Land, in dem es keine gute Bildung gibt, in dem wenig gelesen wird, konnte man nicht erwarten, dass sich die Leute mit Themen anfreunden, die nicht zu ihrer unmittelbaren Realität gehören. Sie müssen zunächst sehen, wie sie über die Runden kommen. Viele Linksradikale gehören selbst zur Elite. Die Diskussionen waren sehr ausschließend, auf hohem Niveau. Sie können doch zu einer Bewohnerin einer Población nicht mit Fremdwörtern und akademischem Vokabular sprechen! Das ist keine gleichberechtigte Sprache.“

Als alleinerziehende parteilose Frau aus der Población ist Verónica auch als Abgeordnete mit Stigmatisierung konfrontiert. Und ebenso an der Uni, wo sie jetzt Jura studiert: Allein schon an der Sprache würden die Leute ihre Herkunft aus der Población erkennen. Sie ist entschlossen, ihren Posten im Stadtrat zu nutzen, um Mittel der Gemeinde zugunsten der Ärmsten umzuverteilen. Um den Kontakt zu ihrer Basis zu halten, ist sie zusammen mit ihren Aktivist*innen jeden Samstag von morgens bis abends im Stadtteil unterwegs. Sie betreiben die Politisierung und Mobilisierung an der Basis weiter, um dann vielleicht irgendwann doch alles ändern zu können.

Auf die Frage, ob sie in den schicken Stadtteil Ñuñoa ziehen würden, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten, antwortet Verónica ohne Zögern: „Ich bleibe in La Florida! Wenn ich weggehe, dann um auf dem Land zu leben. Was soll ich als alleinerziehende Mutter von drei Kindern in einem Appartement, wo ich keine Unterstützung habe? Wo meine Söhne nicht mit ihren Freunden auf der Straße spielen können? Ich will nicht, dass sie den ganzen Tag am Handy hängen und mit falschen, machistischen, misogynen, kolonialistischen Informationen bombardiert werden. Das hier ist mein Leben! Hier steht mein Bäumchen und ich bin stolz auf meine Pflanzen. Natürlich hätte ich schon gerne eine Wohnung mit mehr Platz.“ Maria Paz wirkt nachdenklicher, aber Stadtteile wie Ñuñoa wären für sie auch keine Alternative: „Hier haben wir das Gespür für die Dinge bekommen. Hier haben wir gelernt und erkannt, was zu tun ist. Man kann viel studieren, Soziologie, Anthropologie und solche Sachen. Aber die Erfahrung auf der Straße ist was anderes. Ich arbeite jetzt als Kassiererin. Vorher war ich Hausmädchen, habe geputzt und Kranke versorgt. Solche Erfahrungen machst du nicht an der Uni. Das ist der Unterschied, dass ich die Realität kenne und verstehe, weil ich sie gelebt habe, nicht weil ich darüber gelesen habe. Obwohl Lesen auch nicht schadet. Ich weiß nicht genau, wohin es geht, aber ich glaube, wir sind auf einem guten Weg.“

Das Interview führte Alix Arnold am 1. Dezember 2022 in La Alborada.