In der gerade überstandenen Karnevalssession im Rheinland lief in der einen oder anderen Kneipe der Reggaesong „En dr Nohbarschaff“ vom kölschen Rapper Def Benski. Darin wird das Zusammenleben im Viertel gefeiert. Im ansprechend produzierten Videoclip wird einem bunten, internationalen Köln gehuldigt. Sinngemäß heißt es: „Wer hier nicht jeck ist, hat ‚nen Knall, ich fühl mich hier so schön normal, was soll ich denn woanders?“ Die Originalversion des Songs, „Man next door“, stammt von der jamaicanischen Rocksteady-Combo „The Paragons“ aus dem Jahr 1968 und ist in den letzten 55 Jahren zahlreich gecovert worden (unter anderem von Massive Attack). Im englischsprachigen Original ist das nachbarschaftliche Zusammenleben weniger idyllisch. Die Rede ist vom Nachbarn, der spät nach Hause kommt (wahrscheinlich betrunken), Lärm und Streit von nebenan bringen die Nachbar*innen um ihren Schlaf. „Ich muss hier weg“, beklagt sich Sänger John Holt. Gleicher Song, diametrale Botschaft. Sind die Kölschen einfach meisterhaft darin, sich die Realität schön zu reden (beziehungsweise zu trinken)?
Aber gut, Nachbarschaft ist stets beides. Je näher die Menschen beieinander wohnen, desto mehr bekommen sie von den anderen (ungewollt) mit. Im schlechteren Fall gehen sie sich damit auf die Nerven, aber im besten Fall kann es Grundlage für Zusammenhalt sein, das berühmte „Man kennt sich, man hilft sich“. Oder, wie es eine der Autorinnen in diesem Schwerpunkt auf den Punkt bringt: „Man muss wissen, wenn die Nachbarin Zahnschmerzen hat.“ Diese Überzeugung ist heute leider vielerorts verloren gegangen.
In der Nachbarschaft leben wir, mehr oder weniger nah, zusammen. Menschen, die sich für gemeinschaftliches Wohnen begeistern, gibt es überall auf der Welt. Sei es im kollektiven Conventillo im Stadtteil La Boca (Buenos Aires) oder im ersten, noch in Planung befindlichen, feministischen Wohnprojekt in Montevideo, ausgeheckt von Feministinnen, die im Alter nicht allein oder im Pflegeheim leben wollen. Die außerdem mit ihrem „Alterswohnsitz“ einen Treffpunkt, ein soziales und kulturelles Zentrum für die Nachbarschaft etablieren wollen.
Aus dem Cono Sur, vor allem aus den Großstädten in Argentinien und Chile, sind die Stadtteilversammlungen (Asambleas respektive Cabildos) bekannt geworden, die jeweils aus starken sozialen Protesten hervorgegangen sind und um eine gesellschaftliche Organisierung von unten ringen. Zwei politisch sehr rührige Schwestern aus La Alborada in Santiago de Chile stellen uns den Cabildo aus ihrem Viertel vor und erzählen, warum sie trotz prekärer Lebensbedingungen niemals ihre Nachbarschaft verlassen würden: „Wenn ich weggehe, dann um auf dem Land zu leben. Was soll ich als alleinerziehende Mutter von drei Kindern in einem Apartment, wo ich keine Unterstützung habe? Wo meine Söhne nicht mit ihren Freunden auf der Straße spielen können? Das hier ist mein Leben!“
In unserem Stadtteil gehen wir einkaufen, vielleicht auf einem Wochenmarkt, auf dem Produkte aus der Region zu erschwinglichen Preisen angeboten werden. Wenn sich die Händler*innen zusammenschließen, wie etwa im Stadtteil Santa Rita im kolumbianischen Cartagena, um für den Erhalt und Neubau der Markthalle gegen (touristische) Stadtentwicklungsprogramme und Gentrifizierung zu kämpfen, zeigt sich die Stärke kollektiver Bemühungen.
Wenn wir ganz viel Glück haben, verfügen wir in der Nachbarschaft über einen kleinen Garten. Improvisation, wie im bolivianischen La Paz, wäre eine andere Option: Miniparzellen auf Terrassen am Hang unter der eigenen Wohnung. Davon erzählt der Beitrag über die Wiederbelebung des „Ayllu“, der traditionellen (ursprünglich ländlichen) Gemeindeorganisation in der Großstadt, wo praktischerweise aus dem Fenster heraus die Kartoffeln bewässert werden können.
Im eigenen Stadtteil wissen wir, wo wir gut und günstig essen gehen können. Behutsame Stadtentwicklung in touristisch interessanten Gegenden kann bestenfalls den Läden und Lokalen einen Aufschwung geben. Wenn aber, wie am Cerro Santa Ana im ecuadorianischen Guayaquil, protzige Luxushochhäuser mitten in ein Armenviertel geklotzt werden und den Alteingesessenen Zugänge und Aussicht verbauen, wird ersichtlich, wie Gentrifizierung lokale Bedürfnisse plattmacht.
Im allerbesten Fall gibt es in unserer Nachbarschaft (sozio)kulturelle Einrichtungen – einen Jugendtreff mit Theaterprojekten, eine Bibliothek oder vielleicht sogar ein Gemeindemuseum, das das kulturelle historische Gedächtnis bewahren hilft. Auch darüber bringen wir Geschichten in diesem Schwerpunkt. Darin konzentrieren wir uns überwiegend auf die Hoffnung machenden Beispiele des nachbarschaftlichen Zusammenlebens (ohne die Schattenseiten auszublenden). Schließlich ist die ila-Redaktion im Rheinland verankert. Und hier hat Def Benski einer diversen Nachbarschaft mit ihren bedürftigen, schrulligen oder ganz normal verrückten Vertreter*innen ein Denkmal gesetzt.