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Zweifelhafte Revolution

Der Neo-Extraktivismus und die Bürgerrevolution – Rohstoffwirtschaft und soziale Ungleichheiten in Ecuador
Christopher Raue

In diesem Sommer flammten in Ecuador erneut landesweite Proteste gegen die wirtschaftsliberale Regierung auf. Die Forderungen nach niedrigeren Benzinpreisen und weiteren Sozialprogrammen sowie deren Entstehungshintergründe sind dabei keineswegs neu, wie Sebastian Matthes bereits 2019 in seiner Dissertation ausführlich darlegt.

Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise und der zeitgleiche Rohstoffboom zu Beginn des 21. Jahrhunderts beförderten die Weltmarktpreise für natürliche Ressourcen auf einen historischen Höchststand. Viele rohstoffreiche Staaten Lateinamerikas sahen (und sehen) sich mit einer immensen sozialen Ungleichheit konfrontiert. Deswegen stellte der Boom eine Gelegenheit dar, mit einem rohstoffbasierten Entwicklungsmodell, im akademischen Diskurs als Neo-Extraktivismus bezeichnet, gegen die kolonialen Folgewirkungen wie Armut und soziale Disparitäten vorzugehen. Neugewählte (Mitte-)Links-Regierungen in Südamerika versprachen gesellschaftliche Transformationsprozesse, die durch eine hohe staatliche Beteiligung an den Rohstoffrenditen finanziert werden sollten. Darüber hinaus sollten politische Partizipation und soziale Inklusion ausgeweitet und das Wirtschaftsmodell nachhaltig gestaltet werden. Durch den Primärgüterexport konnten zwar relative soziale Entwicklungserfolge verzeichnet werden, jedoch nahmen sozio-ökologische Spannungen insbesondere in den von Abbau betroffenen Regionen zu. Nicht erst seit gestern weisen Kritiker*innen des Neo-Extraktivismus auf die Ambivalenz des Modells hin. So sei der Rohstoffreichtum nicht nur nicht die Lösung von Armut, Ungleichheit und Unterentwicklung, sondern vielmehr deren zentrale Ursache.

Vor diesem Hintergrund untersucht der Autor Sebastian Matthes in seiner 2019 veröffentlichten Dissertation „Der Neo-Extraktivismus und die Bürgerrevolution“ mittels einer politikwissenschaftlichen Analyse langfristige wirtschaftliche und ökologische Perspektiven sowie Risiken des (neo-)extraktivistischen Wirtschaftsmodells. Ecuador als zentraler Referenzpunkt eignet sich besonders gut für seine Untersuchung, da zum einen der Rohstoffwirtschaft eine besonders hohe Bedeutung in der politischen Ökonomie zukommt und zum anderen die Gesellschaft stark von strukturellen Ungleichheiten geprägt ist. Zudem hat die 2007 gewählte Mitte-links-Regierung unter Rafael Correa 2008 eine neue Verfassung verabschiedet, in der das durch die sogenannte Revolución Ciudadana (Bürger*innenrevolution) geforderte nachhaltige Entwicklungsmodell des „Guten Lebens/Buen Vivir“ festgeschrieben wurde. Durch die Einnahmen der Rohstoffrenditen sollte die Wirtschaft diversifiziert werden, um perspektivisch das extraktivistische Modell zu überwinden. Matthes geht der zentralen Frage nach, ob die Veränderung des wirtschaftlichen und politisch-institutionellen Rahmens zum Abbau sozialer Ungleichheiten geführt hat oder ob das Modell soziale Ungleichheiten eher perpetuiert und/oder vertieft. Damit knüpft er an den aktuellen Diskurs an, ob der Rohstoffreichtum Ecuadors eher Fluch oder Segen ist. Des Weiteren schlägt er vor, die Untersuchung um eine symbolisch-kulturelle und eine politische Dimension der Partizipation zu erweitern und bezieht sich dabei auf die politikwissenschaftliche Analyse von Nancy Fraser (vgl. S. 86f). Anhand des Vergleichs der zwei Bergbauprojekte Junín/Llurimagua und Quimsacocha/Loma Larga veranschaulicht Matthes die durch den Bergbau entstehenden sozio-ökologischen Konflikte.

Mit dem Amtsantritt von Rafael Correa 2007 wurde eine neue politische Ära in Ecuador eingeleitet (Kapitel 4.3). Allen voran das Konzept des „Buen Vivir“ gab der politischen Teilhabe und den kulturellen Rechten indigener Bevölkerungsgruppen Verfassungsrang. Darüber hinaus nahm der Staat eine funktionalere Rolle hinsichtlich der Verfügungsgewalt der Ressourceneinnahmen ein, sodass die Regierung größere Investitionen in die Infrastruktur und in Sozialprogramme tätigen konnte. So wurden die gesamten Sozialausgaben von 4,7 (2006) auf 8,3 Prozent 2012 angehoben, sodass der nationale Armutsindex 2013 von 43 (2006) auf 33,6 Prozent der Bevölkerung sank (vgl. S. 162f). Dies führte zu einer beschränkten sozialen Aufwärtsmobilität für Teile der Bevölkerung. Matthes stellt jedoch die Krux dabei heraus: Laufende Fixkosten wie Sozialausgaben oder Gehälter sollten gesetzlich nicht von den stark preis- und nachfrageabhängigen Rohstoffrenten finanziert werden. Insofern konnte durch die Rohstoffeinnahmen zwar in die Infrastruktur investiert werden, laufende Zahlungen mussten jedoch über Steuern und Sozialausgaben bezogen werden. „Dass die Rohstoffrente für die Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit eingesetzt würde, sei demnach ein Trugschluss, der vor allem auf den Diskurs der Regierung zurückgehe, welche die Armutsbekämpfung mit den Rohstoffeinnahmen verknüpfte.“ (S. 187) Ferner brachen die Rohstoffpreise ein, wodurch die ecuadorianische Regierung gezwungen war, neue Kredite aufzunehmen, die wiederum China als größtem Gläubiger einen privilegierten Zugang zum lateinamerikanischen Rohstoffmarkt ermöglichten. Die Reformierung des Bergbaugesetzes von 2013 liberalisierte den Bergbausektor für ausländische Investitionen, verschärfte aber zugleich das sozio-ökologische Konfliktpotenzial in den Abbauregionen enorm (vgl. S. 225ff). Zudem konstatiert Matthes eine autoritäre Machtkonzentration beim Präsidenten Correa und resümiert ein nicht ausgeschöpftes Potenzial der Umverteilungspolitik, sodass das primärgüterbasierte Wirtschafts- und Entwicklungsmodell des Extraktivismus eher vertieft wurde und den progressiven Verfassungsprinzipien der Bürger*innenrevolution entgegensteht (vgl. S. 228f).

Matthes veranschaulicht im fünften Kapitel durch den Vergleich der Untersuchungsergebnisse zu zwei Bergbauprojekten in Ecuador die Widersprüche innerhalb des ecuadorianischen Neo-Extraktivismus. Unterstrichen werden diese durch qualitative Interviews aus den betroffenen Regionen, welche die sozio-ökologischen Folgekosten des Abbaus weiter ausführen. Zentrale Kritikpunkte sind in beiden Fällen das enorme Risiko einer möglichen Verschmutzung des Grund- und Flusswassers der Regionen und die Konkurrenz um die Wasserressourcen zwischen dem Landwirtschaftssektor und den Minenbetreibenden. Ökonomische Kompensationsleistungen berücksichtigen zudem keine möglichen ökologischen Folgeschäden. Die in den Abbaugebieten lebende ländliche Bevölkerung ist dabei in besonderer Weise negativ vom neo-extraktivistischen Modell betroffen. Die sozialen Proteste werden vom Staat kriminalisiert und die mit dem „Buen Vivir“ festgehaltenen sozialen und kulturellen Rechte, vor allem der indigenen Bevölkerung, werden nicht oder ungenügend umgesetzt. Entscheidungsprozesse finden letztendlich vertikal statt, weshalb Matthes eine mangelhafte politische Partizipation registriert (vgl. S. 339ff). Hinsichtlich der gestellten Forschungsfrage kommt Matthes zu dem Ergebnis, dass das neo-extraktivistische Modell partiell positive Auswirkungen hat, wie Ausbau und Modernisierung der Infrastruktur, jedoch politische, soziokulturelle und ökologische Ungleichheiten generiert beziehungsweise intensiviert werden, von denen marginalisierte Bevölkerungsgruppen in den Abbauregionen in besonderer Weise betroffen sind. Die ökonomische Verteilung der Rohstoffrenditen vergleicht er mit einem „gesamtgesellschaftlichen Fahrstuhleffekt“ (S.351) und attestiert dem Neo-Extraktivismus ein zweifelhaftes Potenzial, strukturelle soziale Ungleichheiten abzubauen (vgl. S. 352).

Das Buch bietet eine aufschlussreiche und detaillierte Einführung in den nach wie vor aktuellen Diskurs über Neo-Extraktivismus. Gerade der sozio-ökologische Konflikt zwischen dem „Buen Vivir“ und dem Bergbau verdeutlicht die Diskrepanzen der bestehenden ungleichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Zudem gelingt es dem Autor durch den Einsatz eigener grafischer Darstellungen und Tabellen ökonomischer Kennzahlen, (positive und negative) Veränderungen zu kontextualisieren, auch wenn einige Tabellen bestimmte Ländervergleiche vermissen lassen (wie zum Beispiel zum Nachbarland Kolumbien). Methodologische Schwachstellen sind in der Untersuchung der Fallbeispiele zu beobachten, und eine höhere Anzahl an Interviews hätten die Ergebnisse valider gestaltet. Konkrete geschlechterbezogene und ethnisch-kulturelle Auswirkungen hätten ebenfalls eine tiefergehende Beobachtung benötigt, jedoch verweist Matthes im „Vorläufigen Fazit“ auch auf eine konsequente Erweiterung der Analysekategorien. Sprachlich ist die Auseinandersetzung auch für Menschen außerhalb der akademischen Sphäre zugänglich, allerdings sind eine fehlende genderneutrale Sprache und Bezeichnungen wie „Indianer“ nicht mehr zeitgemäß. Dass eine Menge an Zitaten und Gesetzesverweisen im Original-Spanisch gelassen wurde, wirkt zudem etwas ausschließend. Insgesamt unterstreicht die Untersuchung jedoch bestehende Erkenntnisse und sammelt bedeutende Daten für eine sachdienliche Betrachtung hinsichtlich des Diskurses zur Problematik des neo-extraktivistischen Entwicklungsmodells. Daher ist die Analyse ein wichtiger Beitrag und sollte in keiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung zur Thematik fehlen.