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Gold, Öl und Avocados – Die neuen „offenen Adern“ Lateinamerikas

Andy Robinson hat die Spuren von Eduardo Galeano weiterverfolgt
Alix Arnold

Vor fast 50 Jahren erschien das Buch „Die offenen Adern Lateinamerikas“ von Eduardo Galeano, in dem er die Plünderung der Rohstoffe des Kontinents durch die europäischen Kolonialmächte und später durch die USA beschreibt. Er kommt zu dem Schluss, dass die Ursache für die Armut der Menschen in Lateinamerika gerade in dem Reichtum an Bodenschätzen liegt. Das Buch wurde zu einem Standardwerk für die Linke in Lateinamerika und für die Solidaritätsbewegung hier.

Der englische Journalist Andy Robinson, der als Korrespondent für „La Vanguardia“ (Barcelona) arbeitet, ist den Spuren dieses Buches gefolgt. Er hat einige der von Galeano beschriebenen Orte besucht, aber auch andere, die mit neuen Rohstoffen in Verbindung stehen. Er geht der Frage nach, welche Rolle die Bodenschätze und Rohstoffe heute spielen. Wie funktioniert heute die (häufig subtilere) Ausplünderung der „offenen Adern“? Galeano hatte 2014 bei der Buchmesse in Brasília sein Buch selbst als zu vereinfachend bezeichnet. Er habe damals nicht genug Ahnung von Wirtschaftstheorie gehabt und könne auch die damalige Sprache der Linken nicht mehr ertragen. Gegen die darauf folgenden hämischen Kommentare einiger rechter Autoren nimmt Robinson Galeanos Werk in Schutz. Er hat es auf seinen Reisen noch einmal gelesen, knüpft immer wieder an die damaligen Gedanken an und fühlte sich vor allem durch Galeanos Anspruch inspiriert, über politische Ökonomie im Stil eines Liebes- oder Abenteuerromans zu schreiben (wobei er sofort einräumt, dass er nicht über die geniale Feder des Uruguayers verfügt).

Das Inhaltsverzeichnis lässt eine systematische Abhandlung vermuten. Jedem Rohstoff ist ein Kapitel gewidmet, unterteilt in die drei Teile Minerale (Gold, Eisen, Niob, Coltan, Diamanten und Smaragde, Silber, Kupfer, Lithium), Lebensmittel (Quinoa, Kartoffeln, Avocados, Bananen, Soja, Fleisch) und Energie (Öl, Wasserkraft). Innerhalb der Kapitel werden jedoch verschiedenste Geschichten erzählt. Berichte von Reiseerlebnissen wechseln sich ab mit Zitaten aus Büchern, historischen Exkursen und der Wiedergabe von Gesprächen mit den unterschiedlichsten Leuten (Wissenschaftler*innen, Politiker*innen, Verantwortliche aus Unternehmen und immer wieder Indigene und Dorfbewohner*innen). Neben den jeweiligen Rohstoffen werden eine Reihe anderer Themen behandelt, die ebenfalls mit Ausplünderung zu tun haben, wie etwa der Massentourismus. Im Kapitel zum Silber in San Luis Potosí, Mexiko, geht es auch um den halluzinogenen Peyote-Kaktus und die Europäer*innen, die sich dort auf der Suche nach Erleuchtung wie neue Invasor*innen verhalten. Im Kapitel zum Lithium, dessen größtes Vorkommen unter der faszinierenden Salzwüste Salar de Uyuni in Bolivien liegt, stellt Robinson die Frage, ob 60 000 Tourist*innen auf der Suche nach Instagram-Bildern wirklich kompatibel sind mit dem Buen Vivir. Das Kapitel zu den Kartoffeln zeigt ebenfalls ein perverses Beispiel von Tourismus in Peru, enthält eine Abrechnung mit den Lebensmittelmultis und der Fastfood-Industrie und geht auf den Klimawandel ein, von dem Peru wegen der Gletscherschmelze besonders betroffen ist.

Das Buch erhebt nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Arbeit. Es ist journalistisch geschrieben und sehr gut lesbar. Die Reportagen transportieren dennoch eine Menge an Informationen, zeigen Hintergründe und Zusammenhänge auf. Leser*innen, die sich noch nicht viel mit Lateinamerika beschäftigt haben, bekommen einen umfassenden Eindruck, wie sich die Ausplünderung auch gegen den Willen linker Regierungen immer wieder durchgesetzt und verschärft hat und welche Akteure dahinter stehen. Aber auch Kenner*innen des Kontinents werden neue Aspekte und Zusammenhänge entdecken. Robinson schreibt aus einer undogmatisch linken Perspektive, gelegentlich auch polemisch, aber immer mit genauem Blick für widersprüchliche Situationen und Interessenlagen.

Anhand von verschiedenen Bodenschätzen und Ländern zeigt Robinson, dass es auch den Mitte-Links-Regierungen nicht gelungen ist, der Abhängigkeit von den Rohstoffexporten zu entkommen. Zwar konnten mit den Geldern aus dem Verkauf der Bodenschätze Sozialprogramme finanziert und die Armut in teils beeindruckender Weise zurückgedrängt werden. Aber abgesehen von dieser Umverteilung der Rohstoffrendite kam es zu keiner Änderung des Systems. Es gelang nicht, innerhalb der Länder Weiterverarbeitung und Wertschöpfung aufzubauen, und mit dem Verfall der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt geriet auch dieses Modell in die Krise.

Besonders genau zeichnet er dies am Beispiel des Lithiums in Bolivien nach. Im bolivianischen Potosí liegt der Cerro Rico, in dem sieben Millionen indigene Bergarbeiter beim Silberabbau starben und der zum stärksten Symbol für die Ausplünderung des Kontinents wurde. Mit dem riesigen Vorkommen von Lithium, dem „weißen Gold“ der Zukunft, sollte es nach den Vorstellungen der Regierung von Evo Morales anders laufen. Statt den Rohstoff auf den Weltmarkt zu werfen, sollte in Bolivien eine Verarbeitungs- und Produktionskette von Batterien bis hin zu Elektroautos entstehen. Im November 2019 wurde Evo Morales jedoch vom Militär zum Rücktritt gezwungen und ging außer Landes. In der Folge gab es eine polarisierte Diskussion, ob dies als Putsch zu werten sei. Manche Linke, auch in Bolivien, verneinten dies. Sie machten Morales, der sich mit fragwürdigen Methoden an den Regierungssessel geklammert hatte, für das Scheitern verantwortlich. Andere sahen vor allem die Interessen der USA am Lithium als Hintergrund des Putsches. Robinson beschreibt dagegen detailliert die unterschiedlichen und widersprüchlichen Interessen von Umweltschützer*innen, lokalen Akteuren, organisierten Rechten, unzufriedenen Mittelschichten und Bergarbeitern, die als selbstständige Kleinunternehmer gegen Verstaatlichung mobil machten. Außerdem stellt er fest, dass der Wert des Lithiums in Bolivien erheblich überschätzt worden sei, da es nur schwer abzubauen ist. Der Rohstoff habe daher beim Putsch eher eine symbolische als eine reale Rolle gespielt.

Thema des Buches ist die Ausplünderung, aber es finden sich immer wieder Hinweise auf den jahrhundertelangen Widerstand dagegen. Sehr aktuell ist der Bericht über den Aufstand in Chile, der im Oktober 2019 begann und zurzeit wegen der Corona-Pandemie nur unterbrochen ist (im Kapitel zum Kupfer). Bei den Lebensmitteln geht es mit der „Bananenrepublik Honduras“ noch um einen der „klassischen“ Rohstoffe. Besonders für jüngere Leser*innen dürften die Kapitel zu den neuen Exportstoffen Soja, Quinoa und Avocados interessant sein, Lebensmittel, die in der alternativen Szene hoch im Kurs stehen. Seitdem Avocados durch Marketing zum „Superfood“ wurden, steigt die Nachfrage. Die gigantische Ausweitung der Avocadofelder in Form von Monokulturen führt zu drastischen Umweltschäden. In Michoacán (Mexiko) ist inzwischen die organisierte Kriminalität in diesem Geschäftszweig aktiv.

In dem Buch kommen viele Indigene zu Wort und es geht immer wieder um die Auswirkungen des Extraktivismus auf die indigenen Gemeinden. Im letzten Kapitel zur Wasserkraft beschreibt der Autor, wie die brasilianischen Munduruku1 die Kartierung der eigenen Territorien als Waffe gegen die Vertreibung einsetzen. Auch die PT-Regierungen hatten auf Staudämme und Wasserkraft im Amazonasgebiet gesetzt sowie auf die Erweiterung von Wasserwegen, um den Transport der Rohstoffe zu den Häfen zu erleichtern. In diesem Zusammenhang weist Robinson auf ein verbreitetes Vorurteil hin. Wenn von indigenen Völkern die Rede ist, herrscht bei vielen das Bild der „edlen Wilden“ vor, von Jägern und Nomaden, von Ursprünglichkeit und einfachem Leben. In Xingú, wo der umstrittene Staudamm Belo Monte gebaut wird, lebten die Menschen jedoch vor der Ankunft der Europäer in Gemeinschaften von Hunderttausenden in einer Mischung aus Stadt, Parks und Urwaldgebieten. Erst nach der gewaltsamen Eroberung sahen sich die Überlebenden gezwungen, wieder als Sammler und Jäger zu leben. Archäologische Forschungen weisen auf ein enormes damaliges Wissen zu Landwirtschaft und Umweltschutz hin. Dies ändert nicht nur die Sichtweise auf einen Begriff von Fortschritt, der angeblich mit den Schiffen aus Spanien und Portugal ins Land kam. Es bedeutet auch, dass wir heute von diesen Erfahrungen eines ökologischen selbstverwalteten Zusammenlebens auf Gemeinschaftsboden viel lernen könnten.

Der Unrast Verlag bereitet für 2021 eine deutsche Ausgabe des Buches vor.