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As bicicletas quebradas (Die kaputten Fahrräder)

Der Krieg in der Ukraine beschäftigt uns alle. Die meisten spüren ein Gefühl von Ohnmacht. Gleichzeitig geht uns eine Menge durch den Kopf. Auch Gedanken über andere furchtbare Kriege, im Jemen, in der Westsahara, in Kaschmir, Kurdistan, Kolumbien, Libyen, Syrien, Mexiko, im Sudan, in Äthiopien, Brasilien und zahlreichen anderen Regionen dieser Welt. Obwohl vieles über diese Kriege bekannt ist, werden sie von der deutschen Öffentlichlichkeit nahezu vollständig ignoriert. Einige wenige werden nicht müde, auf diese erklärten und unerklärten Kriege hinzuweisen, doch meist verhallen ihre Stimmen ungehört. Nur manchmal sind sie kraftvoll genug, um durchzudringen und wenigstens einige zu erreichen. Eine dieser Stimmen ist die der brasilianischen Autorin Viviane de Santana Paulo. Sie wurde in São Paulo geboren, lebt seit 1988 in Deutschland. Zunächst studierte sie in Bonn, war dort Mitglied der Redaktion der ila-latina, einer spanisch-portugiesischsprachigen Beilage der ila, die bis Ende der neunziger Jahre erschien. Seit fast 30 Jahren lebt Viviane de Santana Paulo in Berlin, wo sie längst die wichtigste literarische Stimme der brasilianischen Diaspora ist. Inzwischen hat sie mehrere Lyrikbände sowie einen Roman veröffentlicht, zahlreiche ihrer Texte wurden in Zeitschriften und Anthologien publiziert. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine hat sie das Gedicht As bicicletas quebradas (Die kaputten Fahrräder) geschrieben, das sie uns für die Veröffentlichung in der ila zur Verfügung gestellt hat.

Viviane de Santana Paulo

As bicicletas quebradas

Nestes tempos,

tem gente que está arrumando o porão,

armazenando enlatados nas prateleiras,

para o caso da guerra chegar até Berlim.

O meu porão está uma bagunça

e só tem brinquedos, livros e três bicicletas quebradas!

Não sei ser uma pessoa preparada para a guerra,

creio que nunca serei.

 

No meu país natal as guerras são camufladas, sutis, subjacentes,

e o inimigo é o favelado, o negro, o pobre.

 

A guerra no meu país natal não usa canhão,

                          nem caças aéreos, nem joga bombas,

usa apenas camburões e metralhadoras,

                          e matam dezenas e dezenas.

 

A guerra no meu país natal não se chama guerra,

chama-se operação contra o crime organizado.

E crianças brincando na porta de casa – morrem.

Adolescentes indo para a escola – morrem.

Jovens voltando do trabalho – morrem.

E as pessoas não têm porão para se esconder das agressões.

E não têm dinheiro para comprar muitos enlatados

                          e armazenar para um ou dois meses.

E as moradias onde vivem são frágeis como tudo o que diz respeito

                          à vida delas.

As moradias não precisam de bombas para ser destruídas,

basta uma chuva mais forte ou simplesmente a intempérie.

Ou basta o pouco dinheiro não ser suficiente

para necessitarem migrar para outro lugar, outra cidade,

                          levando apenas o essencial.

 

Um refugiado sem refúgio.

 

A guerra na Europa é diferente, aqui as pessoas se organizam,

ajudam-se, solidarizam-se com as vítimas.

 

No meu país natal são poucos aqueles que se solidarizam com as vítimas,

                          a maioria ignora.

 

Não sei ser uma pessoa preparada para esta guerra,

para nenhuma guerra.

 

Penso que os brinquedos podem ter alguma utilidade

quando as bombas caem sobre nossas cabeças.

Os livros são uma espécie de alimentos e não posso

me livrar deles.

E as bicicletas quebradas…

Realmente, as bicicletas quebradas só serviriam

para me deixar com saudades de andar de bicicleta

pelas ruas sem bombas, sem destruições, sem mortes,

pelas ruas tranquilas da civilização!

 

Mas quando as bombas caem sobre nossas cabeças

e precisamos passar horas,

talvez dias, protegidos no porão,

não há espaço para bicicletas,

somente para a saudade.

 

Aliás, quando bombas caem,

a saudade ocupa todo e

qualquer espaço

em nossas cabeças.

 

Die kaputten Fahrräder

In diesen Zeiten

gibt es Leute, die den Keller aufräumen,

Konserven in den Regalen lagern,

falls der Krieg nach Berlin kommt.

Mein Keller ist ein Chaos

und da befinden sich nur Spielzeug, Bücher und drei kaputte Fahrräder!

Ich weiß nicht, wie ich eine Person sein soll, die auf den Krieg vorbereitet ist,

und ich glaube nicht, dass ich es jemals sein werde.

 

In meiner Heimat sind Kriege getarnt, subtil, unterschwellig,

und der Feind sind die Favelados, die Schwarzen, die Armen.

 

Der Krieg in meinem Heimatland verwendet weder Panzer

                          noch Kampfflugzeuge, noch wirft er Bomben ab.

Er verwendet nur Sonderwagen und Maschinengewehre,

                          und er tötet Dutzende und Aberdutzende.

 

Der Krieg in meinem Heimatland wird nicht als Krieg bezeichnet,

sondern als Operation gegen das organisierte Verbrechen.

Und spielende Kinder vor der Haustür – sterben.

Teenager, die zur Schule gehen – sterben.

Junge Menschen, die von der Arbeit zurückkehren – sterben.

Und die Menschen haben keinen Keller, um sich vor Angreifern zu schützen.

Und sie haben nicht das Geld, um viele Konserven zu kaufen,

                          um sie ein oder zwei Monate zu lagern.

Und die Häuser, in denen sie leben, sind zerbrechlich wie alles, was

                          ihr Leben betrifft.

Ihre Häuser brauchen keine Bomben, um zerstört zu werden.

Es reicht ein stärkerer Regen oder einfach der Zahn der Zeit.

Oder das wenige Geld reicht nicht aus, um an einen anderen Ort,

in eine andere Stadt zu ziehen,

                          mit nur dem Nötigsten bei sich.

 

Ein Flüchtling ohne Zuflucht.

 

Der Krieg in Europa ist anders, hier organisieren sich die Menschen,

helfen sich gegenseitig, solidarisieren sich mit den Opfern.

 

In meiner Heimat solidarisieren sich nur wenige mit den Opfern,

                          die meisten ignorieren sie.

 

Ich weiß nicht, wie ich eine Person sein soll, die auf diesen Krieg vorbereitet ist,

oder auf irgendeinen Krieg.

 

Ich glaube, Spielzeug kann von Nutzen sein, wenn Bomben auf unsere Köpfe fallen.

Bücher sind eine Art Nahrung, und ich werde mich nicht von ihnen trennen.

Und die kaputten Fahrräder…

In der Tat, die kaputten Fahrräder würden nur dazu dienen,

dass ich es vermisse, mit meinem Fahrrad

durch die Straßen ohne Bomben, ohne Zerstörung, ohne Tote,

durch die friedlichen Straßen der Zivilisation zu fahren!

 

Aber wenn uns die Bomben auf den Kopf fallen und wir Stunden,

vielleicht Tage geschützt im Keller verbringen müssen,

ist kein Platz für Fahrräder,

nur für Sehnsucht.

 

Tatsächlich, wenn Bomben fallen,

nimmt die Sehnsucht allen Raum ein

in unseren Köpfen.

Übersetzung: Viviane de Santana Paulo