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Spannende Warteschleife

Der kolumbianische Film „El Vuelco del Cangrejo“ auf der Berlinale 2010
Till Kadritzke

Daniel ist auf der Flucht. Wovor er flieht, weiß man nicht, aber das Schwarzweiß-Foto in seinem Gepäck deutet auf eine zerbrochene Beziehung hin. Zwischenstation seiner Flucht ist das abgelegene Stranddorf La Barra an der Pazifikküste Kolumbiens, von hier aus soll es mit einem Boot weitergehen. Das Problem: Es gibt keine Motorboote in La Barra. Die Fischer sind auf See, weit draußen, denn in Strandnähe und in den Flüssen gibt es längst keinen Fisch mehr. Manchmal dauert es zwei Wochen, bis sie zurückkehren. Daniel muss warten. Gezwungenermaßen dringt er in den Mikrokosmos der afro-kolumbianischen Dorfgemeinde ein, die sich mitten im Konflikt mit einem anderen Fremden befindet, der am Strand ein Hotel errichten will. Daniel hingegen bemüht sich um Unauffälligkeit, doch schnell wird ihm klar, dass seine bloße Anwesenheit den Alltag des Dorfes verändert. Das kleine Mädchen Lucía, das sich am liebsten mit einer Krebsfalle beschäftigt, will ihn als Freund gewinnen, die schöne Jasmin sucht seine körperliche Nähe, und die Dorfjugend will ihn ins Fußballspiel integrieren. Daniel lässt das alles mit sich machen, glücklich wirkt er dabei jedoch nie. Sein Ziel bleibt das Motorboot, und diesem Ziel ordnet er alles andere unter.

Während jeder Berlinale kommt er irgendwann: Der Film, der für die Enttäuschungen der Vortage entschädigt. Ein erfrischender Film, der sich Zeit nimmt für seine Geschichte, ohne dabei langatmig zu werden, und der traumhaft sicher alle falschen Töne vermeidet. Zumeist führt das „Internationale Forum des Jungen Films“ diese Filme vor, und auch dieses Mal zahlt sich der Entdeckerdrang der KuratorInnen dieser Sektion aus. „El Vuelco del Cangrejo“ (Internationaler Titel: Crab Trap) ist der Debütfilm des kolumbianischen Regisseurs Oscar Ruíz Navia und begeistert vor allem durch seine Geschlossenheit und seinen beobachtenden Realismus. Navia hat den Film mit den EinwohnerInnen La Barras gedreht, lediglich die Hauptfigur Daniel wird von einem Schauspieler dargestellt. Gekonnt mischt der Regisseur dokumentarische Elemente mit filmischer Ästhetik und lotet so die Grenzen zwischen Realität und Fiktion aus. „Filmschauspieler sollen nicht spielen, sie sollen leben“, hat der russische Meisterregisseur Andrej Tarkovsky einmal gesagt, der zu Navias Vorbildern gehört. Und tatsächlich: In einigen besonders schönen Sequenzen scheint es, als habe Navia seine Kamera einfach mitlaufen lassen, während die jüngeren DorfbewohnerInnen herumalbern und die älteren sie beim Fußballspielen beobachten.

Daniel kommt nach La Barra, weil ein Freund ihm von einem gewissen Cerebro (sp.: „Gehirn“) erzählt hat, der hier leben soll und Motorboote besorgen könne. Doch als die beiden sich kennenlernen, sorgt Cerebro, der wohl tatsächlich so etwas wie das Gehirn dieses Dorfes ist, schnell für klare Verhältnisse. Es wird teuer, sagt er gleich zu Anfang. Und es wird dauern. Weil Daniel so schnell wie möglich seine Reise fortsetzen will, wird Cerebro zu seinem Bezugspunkt in La Barra. Als der Suchende sich gegen Ende seines Aufenthalts verzweifelt an den anderen Fremden, den Hotel-Unternehmer, wendet, nachdem er gehört hat, dass auch er Boote auftreiben könne, empfindet Cerebro dies als Verrat. Daniel wird in den Konflikt um La Barra hineingezogen, dessen Wucht er nicht einzuschätzen vermag. Er ist gefangen wie die Krebse in Lucías Falle. 

Die Handlung, die dieser Film leise und mit traumwandlerischer Sicherheit entfaltet, ist erstaunlich klug konzipiert, wirft die richtigen Fragen auf und verweigert die naheliegenden Antworten.  Die Freundschaft zwischen der kleinen Lucía und Daniel ist dabei der schönste Teil der Geschichte. Am Anfang will das kleine Mädchen den Fremden lediglich dazu überreden, ein Mittagessen bei ihrer Mutter zu kaufen, und dieses Ziel verliert sie bis zum Schluss nicht aus den Augen. Doch langsam entwickelt sie auch echtes Interesse an Daniel, wirbt um seine Freundschaft, will ihn fangen wie einen ihrer Krebse. Daniel dagegen ist vorsichtig, lässt sich nicht vollständig auf diese Freundschaft ein. Zu sehr ist er mit sich selbst und seiner Reise beschäftigt. Und er weiß um das Problem, das seine Anwesenheit in La Barra darstellt: So offen und vorsichtig er auch mit den Einheimischen umgeht, bleibt er doch der Fremde, der „Tourist“, wie Cerebro ihn nennt. Aber Daniel ist kein typischer Tourist. Er nimmt die Schönheit der Pazifikküste in sich auf, ohne sie romantisch zu verklären. Er lässt sich nicht auf eine Affäre mit der schönen Jasmin ein und behält auch gegenüber der kleinen Lucía immer eine gewisse Distanz. Und doch gibt es Momente inniger Vertrautheit zwischen ihm und dem Mädchen: Wie Daniel sie mit herrlichen Buster-Keaton-Grimassen zum Lachen bringt, ist eines der elegantesten Filmzitate der letzten Zeit. 

Eine weitere Qualität des Films: „El Vuelco del Cangrejo“ spielt in einer einsamen, peripheren Region Kolumbiens und doch erfährt man viel über dieses Land. Der Konflikt zwischen Staat, FARC-Guerilla und Paramilitärs ist ständiger Begleiter des Alltags, vermittelt durch den immer laufenden Fernseher, den allerdings niemand außer der Kamera wahrnimmt. Der institutionalisierte, bis in alltägliche Gesprächskonventionen übergegangene Rassismus wird ebenso subtil problematisiert wie die machistischen Texte der massentauglichen Reggaeton-Musik. Doch das eigentliche Thema des Films ist die Modernisierung La Barras, dieses verlassenen Ortes am Pazifik, der mit der Errichtung einer Unterkunft für TouristInnen zum wirtschaftstauglichen „Standort“ gemacht werden soll. Die DorfbewohnerInnen dürfen bei diesem Prozess allenfalls zusehen oder für wenig Lohn arbeiten. Selbst Hotelbesitzer werden dürfen sie nicht. Diesen sich im Namen des Tourismus vollziehenden Neo-Kolonialismus verkörpert eine sehr ambivalente und stark gezeichnete Figur: Der weiße Unternehmer ist mitnichten der arroganter Bauherr, sondern eher ein Lebenskünstler mit dem Traum vom eigenen Hotel am Pazifik – und doch nicht minder selbstgerecht. Er nennt die Afro-KolumbianerInnen liebevoll Negritos, ist stets bemüht, sich niemanden zum Feind zu machen, und erwartet doch, dass man sich seinen Plänen nicht in den Weg stellt. Mit dieser Haltung bewegt er sich auf dünnem Eis, das macht der kämpferische Schluss dieses außerordentlichen Films deutlich, der bis in die letzte Einstellung den richtigen Ton trifft. Einen Ton, der noch lange nachhallt.