ila

Exil weitet den Blick, aber ...

Interview über kolumbianische Flüchtlinge und die Sicht des Anderen in Spanien

Claudia Clavijo hat in Kolumbien Philosophie studiert, sich dort ab den 80er Jahren der Sozialforschung gewidmet und war Aktivistin der Solidaritätsarbeit mit Zentralamerika. In den 90er Jahren kümmerte sie sich um das zunehmende Problem der Binnenflüchtlinge in ihrem Heimatland und war an einer Studie über deren Situation in Bogotá beteiligt, die von der NGO Codhes und dem Erzbistum von Bogotá durchgeführt wurde. 1997 hatte sie einen Vertrag mit einer Regierungsbehörde, deren Menschenrechtsabteilung Hilfeleistungen für interne Vertriebene organisierte. Es ging um Einzelfallhilfen und die Begutachtung von Projekten, die von vertriebenen Bauerngemeinden in Konfliktzonen vorgelegt wurden. Mitte 1997 erhielt sie Todesdrohungen: Anrufe nach Hause, Kondolenzbriefe zum eigenen Tod, merkwürdige Besuche in der Wohnung usw. Auch ihre zwei minderjährigen Söhne wurden in die Bedrohung einbezogen. Gegen ihren Willen, aber von der Situation dazu gezwungen, ging sie unterstützt vom Internationalen Roten Kreuz und befreundeten NGOs nach Spanien, wo sie seitdem lebt. Die ila befragte sie zur dortigen Situation der politischen Flüchtlinge. 

Bettina Reis

Spanien ist heute das EU-Land mit der größten Zahl von Flüchtlingen aus Lateinamerika. Wie viele kolumbianische Flüchtlinge leben in Spanien?

Ich bin mir nicht sicher, ob Spanien das Land mit den meisten politischen Flüchtlingen ist. Richtig ist, dass eine große Zahl von WirtschaftsmigrantInnen lateinamerikanischer und afrikanischer Herkunft in Spanien ist. Zwar sind wir letztendlich alle EinwanderInnen infolge von politischer Gewalt, wenn wir die Verletzung unserer wirtschaftlichen Menschenrechte in unseren Herkunftsländern in Betracht ziehen. Aber es ist wichtig eine juristische und legale Unterscheidung zu treffen, wer politischer Flüchtling ist. Wir dürfen die Genfer Flüchtlingskonvention nicht vergessen.

Ich kann also nicht bestätigen, dass Spanien das Land mit den meisten politischen Flüchtlingen ist. Um zur Orientierung eine statistische Zahl zu nennen, so haben nach dem Bulletin Nr. 38 der staatlichen Asylbehörde OAR (Oficina de Asilo y Refugio) im März 2003 37 kolumbianische Staatsangehörige einen Asylantrag gestellt, in 18 Fällen wurde der Behandlung des Asylgesuchs stattgegeben, in 12 abgelehnt. Von den 12 abgelehnten legten sechs Widerspruch ein. Die meisten Anträge wurden damals von Personen aus Nigeria (122), Algerien (47) und auch Irak (19) gestellt.

Was ich bestätigen kann, ist, dass 107 459 kolumbianische WirtschaftsmigrantInnen in Spanien sind, die als Erwerbstätige und mit gültigem Aufenthalt registriert sind, und dass diese Zahl infolge des vor kurzem beschlossenen Legalisierungsprozesses noch steigen wird1, genauso wie im Fall der Leute aus Ecuador, der Dominikanischen Republik oder Cuba. Allein im Großbezirk Madrid halten sich nach offiziellen Zahlen mindestens 170 000 Personen aus Ecuador, 30 000 aus Peru, 21 000 aus der Dominikanischen Republik, 20 000 aus Argentinien, 12 000 aus Bolivien, 6700 aus Venezuela und 5300 aus Mexiko auf. In dieser Zahl sind die Latin@s ohne Papiere und diejenigen, die jeden Tag neu ankommen, noch nicht enthalten.

Für KolumbianerInnen wird es immer komplizierter einen Asylantrag zu stellen. In den meisten Ländern herrscht für kolumbianische Staatsangehörige Visumspflicht und die Luftfahrtgesellschaften erfüllen die Auflagen sehr streng. Auch brauchen die diplomatischen Vertretungen in Bogotá oft Monate, bis sie einen Termin vergeben, um die Situation von gefährdeten Personen zu überprüfen. 

Das größte Problem sehe ich aber darin, dass die Bedrohten in abgelegenen ländlichen Gebieten in Kolumbien, die Menschen, die von der humanitären Krise am meisten betroffen sind, keinen Zugang zu Informationen haben und nicht wissen, bei welchen nationalen und internationalen Instanzen sie Schutz suchen könnten. Die Programme für Flüchtlinge müssten ihren Aktionsradius auch auf diese abgelegenen Gebiete ausweiten. (Vgl. Artikel über Situation der Flüchtlinge in Ecuador)

Wie sieht die Situation von kolumbianischen Flüchtlingen in Spanien aus, angefangen mit dem Procedere der Asylantragstellung? 

Der oder die Antragstellenden, denn meist sind es Familien, können einen Antrag auf Asyl stellen, wenn sie nach Spanien einreisen oder noch einige Zeit danach, solange ihr Touristenvisum gilt. Wenn der Antrag unmittelbar bei der Einreise gestellt wird, stellt der Staat einen Pflichtanwalt und sorgt bei fehlenden Spanischkenntnissen auch für Übersetzung. Der Polizeibeamte vor Ort nimmt den Antragstellenden eine erste Erklärung ab und definiert diskret, ob die Personen an der Grenze zurückgewiesen werden oder nicht. 

Wenn den betreffenden Personen die Einreise erlaubt wird, werden sie an eine Unterkunft überwiesen, die im Allgemeinen vom Roten Kreuz ist. Dort bleiben sie, bis der Behandlung ihres Asylantrages stattgegeben wird. Nach diesem ersten Schritt entscheidet die Asylbehörde OAR, ob die Betreffenden in ein Aufnahmezentrum für Flüchtlinge kommen, das vom Staat oder einer NGO betrieben wird. Das OAR ist eine Verwaltungsinstanz, die mit der Prüfung der Asylgesuche beauftragt ist und einer interministeriellen Kommission vorschlägt, ob die Asylgewährung angemessen ist oder nicht. 

In den Flüchtlingsaufnahmezentren können die Personen bleiben, bis sie einen offiziellen Bescheid über ihre Asylanträge bekommen. In diesen Zentren gibt es Unterkunft, Essen, Spanischunterricht sowie einige Ausbildungskurse – unabhängig vom Beruf der Personen. Man kann Kinderpflege, Haare schneiden, Bauarbeiter oder Ähnliches lernen. Das Angebot ist zumindest nicht angemessen für einen Personenkreis mit akademischer Bildung. Man muss ja auch noch die psychologischen Probleme aufgrund des Exils in Betracht ziehen. 

Der gesamte Prozess von der Antragstellung bis zur Entscheidung dauert zwischen einem und drei Jahren. Wird der Anspruch auf Asyl anerkannt, bekommt man einen Ausweis, in dem die Wohn- und Arbeitserlaubnis in Spanien vermerkt ist, sowie ein Reisedokument. Mit dem neuen „Normalisierungs“- Dekret wird sechs Monate nach der Anerkennung eine Arbeitserlaubnis erteilt.

1999 haben wir mit Unterstützung einer Hilfsorganisation für MigrantInnen 287 Interviews geführt, fast alle mit Personen, die entweder Asylantrag gestellt oder Asyl bekommen hatten. Dabei wurden die vielen Hindernisse klar, um als Flüchtling anerkannt zu werden. Einerseits herrscht bei allen Stellen, die mit dem Problem befasst sind, erhebliche Desinformation. Mit der Koordinierung untereinander sieht es auch nicht so gut aus. Dann müssen Personen für ihren Asylantrag Verfolgungsnachweise aus Kolumbien erbringen, das heißt konkret, Briefe von NGOs und staatlichen Menschenrechtsbehörden wie der Ombudsbehörde usw., also Instanzen, zu denen der oder die Asylsuchende in der Regel keinen Zugang haben. Ungefähr 96 Prozent der Asylanträge werden nicht weiter behandelt. 

Wenn der/die Asylsuchende Mittel hat um ein Studium aufzunehmen, gibt es keine Beschränkung. Nach fünf Jahren legalem Aufenthalt können Flüchtlinge die spanische Staatsbürgerschaft beantragen, im Fall von LateinamerikanerInnen schon nach zwei Jahren. 

Wer kommt nach deiner Meinung besser mit der neuen Situation zurecht? Die Männer oder die Frauen?

Unbestreitbar verändern sich die Familienbeziehungen und Strukturen infolge der Flucht substanziell. Die Rollen in der Partnerbeziehung und zwischen Eltern und Kindern verändern sich infolge des sinkenden Lebensstandards, der geringen Wohnqualität, fehlender Studienmöglichkeiten usw. Die Frauen stellen sich in den meisten Fällen mit mehr Kreativität und Stärke den Widrigkeiten des Exils. Das ist auch bei Binnenflüchtlingen so, wie ich bei Gesprächen mit Männern und Frauen über ihre Situation festgestellt habe.

Wenn ein Mann bedroht wird, kommt es ihm generell nicht in den Sinn, mit der ganzen Familie wegzugehen; aber eine Frau geht nur mit ihren Kindern weg. Natürlich leiden die Frauen auch, aber sie zeigen es nicht so sehr nach außen. Bei den Männern ist die Frustration spürbarer, oft nehmen sie zum Alkohol Zuflucht. Die Frauen versuchen die Familie zusammen zu halten, gehen die Situation mit Ausdauer und Hartnäckigkeit an und unterstützen den Rest der Familie. Sie passen sich flexibler der neuen Situation an. Das haben wir bei Menschen unterschiedlicher Nationalitäten sowie im Fall von Binnenflüchtlingen und Auslandsexilierten festgestellt. Die posttraumatische Situation von Flüchtlingen führt zuweilen zu Trennungen und Brüchen in den Familien. Was man feststellt, ist ein Verlust von Gefühl und Empfinden: Freude ist nicht mehr wie vorher, die persönlichen Beziehungen anders.

Flüchtlinge leiden oft unter Vorurteilen. Gibt es „typische“ Stereotype, wie SpanierInnen Menschen aus Kolumbien sehen?

Ganz allgemein leiden wir KolumbianerInnen unter einem Stigma, egal ob Flüchtling oder nicht, wir werden für narcos, Leute aus dem Rauschgiftgeschäft, gehalten. So als ob das jedem und jeder von uns auf der Stirn geschrieben oder an unserem Gang zu merken sei. Dieses Stereotyp ist ein großes Problem für uns. 

Was kommt KolumbianerInnen seltsam, anders oder auch negativ an dem „typischen“ Verhalten von SpanierInnen vor? Mir wurde einmal erzählt, dass die SpanierInnen aus Sicht der KolumbianerInnen sexuell freizügiger seien und sich sehr schroff ausdrücken würden... 

Uns beeindruckt am meisten, wie die SpanierInnen miteinander umgehen, es heißt zwar, das sei ihr Charakter, aber manchmal grenzt das an Aggressivität. Zumindest empfinden wir das so. Es gibt ein großes Matriarchat (d.h. stark mutterzentrierte Familienbeziehungen, d. Red.), ähnlich wie in Kolumbien in der Region Antioquia. Und es gibt Männer, die mit 30 Jahren noch bei den Eltern leben, nicht aus Geldgründen, sondern aus Bequemlichkeit, weil sie daheim alles haben. Auch sind wir entsetzt über die Ausmaße der Konsumgesellschaft und dass junge Leute am meisten ein Haus und ein Auto und nicht viel mehr interessiert. Aber dabei geht es vermutlich um eine weltweite Tendenz und natürlich ist alles sehr verallgemeinert. 

Was sexuelle Freiheit oder Freizügigkeit angeht, hängt das von jedem Einzelnen ab, und dabei kommt es natürlich auch darauf an, woher die Flüchtlinge kommen, die das so empfinden, aus einer mittelgroßen Stadt, vom Land, aus der Hauptstadt. Ich persönlich glaube nicht, dass in Spanien sexuelle Freiheit weiter verbreitet ist, das ist sehr relativ. Außerdem herrscht überall Doppelmoral, in Kolumbien und dem Rest der Welt. 

Gibt es Selbsthilfegruppen von kolumbianischen Flüchtlingen oder schließen sie sich in politischen Gruppen zusammen, um Solidaritäts- und Menschenrechtsarbeit zu machen?

So was wie Selbsthilfegruppen gibt es nicht, sehr wohl aber Solidarität untereinander, das zeigt sich, wenn jemand neu ankommt: Wir verständigen uns untereinander, beschaffen im Notfall Kleidung, versuchen durch Infos zur Orientierung beizutragen, mitzuteilen wo man hingehen, mit wem man reden kann, welche Papiere nötig sind usw. Was die politische Arbeit betrifft, gibt es immer eine Form von Solidaritätsarbeit für Kolumbien oder es werden Initiativen von dort unterstützt, aber das ist nicht einfach. 

Wenn du an deine persönliche Erfahrung denkst: Was hat dir geholfen und was hat dir das Leben als Flüchtling in Spanien verkompliziert?

Spanien hat mir dabei geholfen zu sehen, dass wir KolumbianerInnen nicht der Nabel der Welt sind, sondern dass Kolumbien Teil der internationalen Politik ist und wir innerhalb dieser Dynamik arbeiten müssen. Ich habe auch andere Kulturen kennen gelernt, über die Arbeit, die ich mit Flüchtlingen machen durfte, und über eine andere Untersuchung, die wir für das UN-Flüchtlingshilfswerk über die Integration von Flüchtlingen in Spanien durchführten und bei der wir Menschen aus aller Welt zu ihren Exilerfahrungen interviewt haben. 

Was mir das Leben hier verkompliziert, ist der Umstand, dass ich mich in meinem Beruf nicht wirklich weiter entwickeln konnte und dass ich meine emotionalen Bindungen abbrechen musste. Es gibt hier viel Einsamkeit. Man muss sich auch sehr anstrengen, dass der Ausbildungsgrad und das professionelle Niveau anerkannt werden, das ist sehr schwierig, es gibt Neid und Eifersüchteleien zwischen den Institutionen und Personen. Eigentlich passiert es fast nie, dass man als kompetente Person anerkannt wird. 

Wenn du die Flüchtlingspolitik bestimmen könntest: Was würdest du vorrangig ändern?

Vor dem Hintergrund meiner Erfahrung, Interviews mit Personen geführt zu haben, die mit diesem Bereich befasst sind, sowohl mit NGOs wie mit Regierungsorganisationen, wäre es für mich prioritär, dass die Problematik von Asyl und Schutz nicht so oberflächlich behandelt würde und dass die zuständigen Personen die politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Situation jedes Landes gut kennen sollten. Dafür reicht es nicht, zwei Wochen in ein Land zu reisen und sich daraufhin eine Meinung zu bilden. Jedes Land ist komplex und hat seine Besonderheiten und über diese Komplexität darf man nicht hinweggehen. Die Situationen sind nicht schwarz oder weiß, sie sind vielschichtig. 

Außerdem meine ich, dass es notwendig ist, der Vermengung des Flüchtlingsbegriffs mit anderen Konzepten entgegenzuwirken. Ich wiederhole: Man muss der Genfer Konvention Bedeutung beimessen, denn das geht langsam verloren. In meinen Augen ist das sehr schwerwiegend. Es wäre gar nichts Besonderes, wenn das Wort Flüchtling irgendwann zu einer Art Synonym für Terrorist würde. Auch sollten mehr Forschungen und Studien über die Fluchtproblematik angestellt werden.

  • 1. Ab Februar läuft in Spanien einen dreimonatige Frist zur Legalisierung von MigrantInnen ohne Papiere. Die Zahl der „Illegalen“ in Spanien beträgt ca. eine Million. Insgesamt leben dort 3,8 Mio. MigrantInnen, was acht Prozent der Bevölkerung ausmacht.

Das schriftliche Interview mit Claudia Clavijo wurde von Bettina Reis geführt.