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Wie Flüchtlinge gesehen werden

Eine Studie über die Macht von Bildern und deren Instrumentalisierungen
Barbara Eisenbürger

Vor fünf Jahren wurde in der ila 361 unter dem Titel „Definitionsmacht und Herrschaft“ Edward Saids viel beachtetes Werk Orientalism (1978) besprochen, das als Grundlagenwerk der postkolonialen Studien betrachtet werden kann. Said weist in seinem Nachwort aus dem Jahr 1994 darauf hin, „dass jede Kultur den Gegenpol eines anderen, verschiedenartigen und konkurrierenden Alter Egos braucht. Die Ausbildung von Identität […] erfordert stets ein entgegengesetztes ‚Anderes‘, dessen Konturen davon abhängen, wie wir jeweils seine Differenz zu ‚uns‘ deuten und umdeuten. Jede Gesellschaft und jede Epoche schafft sich ihr ‚Anderes‘ neu.“ (Said, Orientalismus 2009, S. 380)
Um die konstruierten Darstellungen und visuellen Produktionen von Flüchtlingen, Migrant*innen und Fremden geht es in dem Buch von Heidrun Friese „Flüchtlinge: Opfer, Bedrohung, Helden. Zur politischen Imagination des Fremden“. Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen über Menschen auf der Flucht sichtet, präsentiert und analysiert die Autorin, die als Professorin für interkulturelle Kommunikation an der TU Chemnitz tätig ist, kritisch die medial verbreiteten Bilder von  Flüchtenden und Migrant*innen und deren Einfluss auf gesellschaftspolitische Debatten und Imaginationen. 

Zunächst richtet sie die Aufmerksamkeit des Lesers/der Leserin auf Bilder von Orten und Zuständen, die sie im Zusammenhang mit Mobilität und Migration sieht und jeweils als Phänomene von Zugehörigkeits- und Differenzkonstruktionen behandelt, wie etwa das Foto von der am Strand von Bodrum in der Türkei angeschwemmten Leiche des dreijährigen Alan Kurdi, Bilder von fremdenfeindlichen Demonstrationen in deutschen Städten, die neue Mauern und die Auslöschung des Fremden fordern, oder die nur wenig bekannten Bilder von osteuropäischen und afrikanischen Arbeiter*innen auf den Feldern Südeuropas, die unter sengender Hitze für Hungerlöhne europäische Supermärkte mit billigen Tomaten und Erdbeeren versorgen, und nicht zuletzt die Bilder von überfüllten Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer. „Diese medialen Inszenierungen sind Teil der öffentlichen Auseinandersetzung um diejenigen, die sich aus unterschiedlichsten Beweggründen auf den Weg machen, ihr Leben wagen und auch nach Europa kommen, Aufnahme suchen, Anerkennung und Rechte, Freiheit und Zukunft.“ (S. 14). In ihrer Einleitung argumentiert die Autorin, dass uns diese medienwirksam in Szene gesetzten Bilder von Geflüchteten demonstrieren, „wie Flüchtlinge gesehen werden“, (S. 14) woraus sich kontroverse soziale Imaginationen ergeben, die Fremde und Flüchtende „entweder als bedrohlichen Feind, als Opfer oder als Heroen und Befreier zeichnen“. (S. 14) Diese Bilder, so wird Heidrun Friese im Verlauf ihrer Studie herausarbeiten, sind nicht als in sich geschlossene Einheiten zu betrachten, sondern miteinander verschlungen. 

Das Buch gliedert sich in zwei Kapitel, die mit „Figuren der sozialen Imagination und das tragische Grenzregime“ und „Zur Evakuation des Politischen“ betitelt sind. Diesen Kapiteln sind jeweils drei Untertitel zugeordnet, in denen es darum geht, wie die soziale Imagination die Figuren Feind, Opfer oder Heros konstituiert, als Norm festlegt und wie sie sich in die politischen Argumente für oder wider die Aufnahme mobiler Menschen einschreiben. Lampedusa, die kleine zwischen Sizilien und Tunesien gelegene Mittelmeerinsel, ist Ausgangspunkt des ersten Kapitels. Dort begann auch eine langjährige Feldforschung der Autorin, die zu einer bereits 2014 erschienenen Studie  mit dem Titel „Grenzen der Gastfreundschaft“ geführt hat. In den vergangenen zehn Jahren ist Lampedusa zu einem symbolträchtigen Ort avanciert, der „Medienhype mit dem tragischen Grenzregime“ verbindet. (S. 28) Lampedusa steht sowohl für den bedrohlichen Ansturm auf den Wohlstand Europas und seine nationalen Identitäten als auch für humanitäre und spektakuläre Rettungsaktionen sowie grenzenlose Hilfsbereitschaft, aber auch für ein alle Grenzen überschreitendes Heldentum. Anhand von Beispielen zeigt Friese zudem auf, wie „der historische Ort Lampedusa“ als „Universalisierung des Partikularen“ (S. 29) überall verortet werden kann. In dem Unterkapitel „Feind: Rassismus und postkoloniale Situation“ stellt die Autorin einen Zusammenhang zu den postkolonialen Theorien her, die „die großen Erzählungen der Moderne verschoben und dezentriert“ haben. Denn ebenso wie Aufklärung, Autonomie und Demokratie müssen Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei als zentrale „Einschreibung der Moderne“ betrachtet werden. (S. 19) „Die bedrohlichen Bilder von den über das Meer kommenden Massen zeigen das Phantasma des Kolonialismus: Die Kolonisierten kehren zurück“ (S. 44), und sie werden im populistischen Duktus als Bedrohung artikuliert, die jede Form von Sicherheitspolitik legitimiert. 

Bei der Hinwendung zur Opferfigur stehen die Bereiche Humanitarismus und Migrationsindustrie im Zentrum des Interesses. In diesem Abschnitt untersucht die Autorin, welche humanitären Reaktionen die Bilder des Fremden als Opfer auslösen und wie sich neben dem humanitären Diskurs eine „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ herausbildet, die durch „die Spannung zwischen der Authentizität des Leidens und dessen branding (Handhabung als Markenzeichen, Anmerk. der Red.), zwischen Opfer und Akteur, zwischen Konsum und dem Politischen, zwischen Pathos, Distanz und Besonnenheit“ (S. 63) gekennzeichnet ist. In einem kurzen Fazit dieses Abschnitts beschreibt Friese den Opferdiskurs als „mythisch-religiös“ bedingt, „er tilgt und überschreibt Zeit, Geschichte und koloniale Verstrickung“ und bietet „Schutz und Rettung gegen unverschuldete Widerfährnisse und hereinbrechendes Unheil“ (S. 64). 

Ebenfalls eingebunden in die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ ist die Figur des Helden als „der revolutionäre Gestus“. „Die symbolische Erhöhung migrantischer Kämpfe macht Menschen, denen Mobilität verwehrt wird und die sich das Recht dazu nehmen, zu modernen Heroen autonomen Kampfes um Lebenschancen und der Verwirklichung autonomen Willens, kurz: zu Helden westlich-moderner Subjektivität.“ (S. 68) Friese führt uns vor, wie eine Einverleibung des Fremden auch durch die Figur des Helden stattfindet, die sich je nach Bedarf entweder durch Ikonisierung, Stellvertretung und Befreiung oder durch Distanzierung auszeichnet. 

Im zweiten Kapitel analysiert die Autorin ein Phänomen, welches in unterschiedlicher Ausprägung bei allen Versionen der sozialen Imagination zu finden ist, nämlich das der Ausblendung des Politischen. Dabei stellt sie einen Bezug zu solchen Diskursen her, „die einmal Populismus und Governance, ein anderes Mal Humanitarismus und Dissens einrahmen“. (S. 74) Dieses Kapitel geht unter anderem der Frage nach, inwieweit sich Mobilität und die Konstitutierung der „Anderen“ auf der einen und Nationalstaat, Demokratie, Souveränität sowie Globalisierung auf der anderen Seite gegenseitig bedingen und beeinflussen. Friese skizziert hier die Spannungsfelder und Widersprüche, die sich ergeben, wenn Einwanderung zwischen den konträren politischen Philosophien des Kommunitarismus, des Kosmopolitismus und den Ansätzen der Dekonstruktion verhandelt wird: sollen die Grenzen der Nationalstaaten geöffnet werden, wenn ja, wie weit, welche Rechte können den Einwandernden zugestanden werden, welche Pflichten und Verantwortung sind mit Mobilität verbunden, kann die Souveränität von Nationalstaaten aufrechterhalten werden etc.?

Die Macht der immer wiederkehrenden medialen Präsentation von Flüchtenden verstärkt und manipuliert diese Debatten, verfälscht die Wahrnehmung und führt konsequenterweise – und diese These scheint für die Autorin von großer Bedeutung – zur „Evakuation des Politischen“. Denn wenn Subjektivismus bestimmend ist, wenn nur nach einfachen Lösungen gesucht wird, die aus Sentimentalität, Emotion und Erregung erwachsen, wenn demokratische Prinzipien nicht geschätzt werden, Homogenität konstruiert wird und nur noch die Effektivität des Marktes zählt, bleibt für das Politische kein Raum mehr. Vor diesem Hintergrund macht die Autorin darauf aufmerksam, dass die Bilder von mobilen Menschen trotz ihrer Allgegenwart und Wirkungsmacht auch Bruchstellen, Schwächen und Zäsuren aufweisen, die politisches Handeln weiterhin erfordern und ermöglichen. Daher plädiert sie dafür, gegen die Ökonomisierung und den Konformismus der Bilder Widerstand zu leisten, (S. 107) denn, mobile Menschen sind weder Feinde, Opfer noch Helden. 

Wenn auch der Umfang von 107 Seiten (neben einem ausführlichen Literaturverzeichnis und einem umfangreichen Anmerkungsapparat) überschaubar ist, ist die Lektüre für eine*n fachfremde*n Leser*in recht anspruchsvoll und sehr komplex. Etwas weniger Zitate aus den benutzten Quellen sowie einige Begriffserklärungen hätten das Verstehen an manchen Stellen erleichtert. Dennoch, die hier vorgestellte Studie von Heidrun Friese ist ein wichtiges Buch und ein engagierter Beitrag zu den aktuellen Diskussionen um Migration.