In den katholisch geprägten Ländern Lateinamerikas haben es Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität als der heteronormativen, also Menschen, die unter dem Kürzel LGBTI (lesbisch, gay, bisexuell, trans, intersexuell) zusammengefasst werden, lange Zeit nicht leicht gehabt. Sie können ihre sexuelle Orientierung beziehungsweise ihre geschlechtliche Identität nicht offen ausleben, werden marginalisiert, stigmatisiert, mitunter verfolgt. Aber in den lateinamerikanischen Gesellschaften hat es in vielerlei Hinsicht Aufbrüche gegeben: Organisierung, Zusammenschlüsse, neue Forderungen und mehr Sichtbarkeit von LGBTI. Zum Teil sind sie mit ihren Forderungen weiter gekommen als etwa in Deutschland, wo zum Beispiel gleichgeschlechtliches Heiraten nach wie vor nicht möglich ist.
Es gibt also Positives zu berichten im Hinblick auf die rechtliche Situation der LGBTI-Community in Lateinamerika. Dies ist dem jahrelangen, unermüdlichen, mutigen Einsatz von Aktivist*innen zu verdanken, die es erreicht haben, dass es nun in einigen lateinamerikanischen Ländern Gesetze zu Gleichstellung und Nichtdiskriminierung gibt oder dass die Ehe bei homosexuellen Paaren erlaubt ist, nämlich in Argentinien (seit 2010), in Uruguay (seit 2013) und auch in Mexiko-Stadt (nicht allerdings im Rest von Mexiko). In Uruguay war zuvor bereits die Lebenspartnerschaft sowie die Adoption von Kindern durch homosexuelle Paare genehmigt worden. Und Cuba nimmt zum Beispiel eine Pionierstellung ein, was die Ermöglichung von geschlechtsangleichenden Operationen anbelangt; eine wichtige Rolle spielt bei diesen Errungenschaften das Cubanische Zentrum für Sexualerziehung, CENESEX, unter der Leitung von Mariela Castro.
Auch was die Sichtbarkeit und gesellschaftliche Akzeptanz von Lesben, Schwulen und Transpersonen anbelangt, hat es Fortschritte gegeben. In Argentinien etwa mischen junge Lesben offensiv in der neuen feministischen „Ni Una Menos“-Bewegung mit. Queere Künstler*innen und Musiker*innen erobern (sub)kulturelle Bühnen sowie die Öffentlichkeit mit Straßenaktionen und Performances.
Allerdings finden auch allerorten Gegenbewegungen statt: Kampagnen „für die Familie“, für „traditionelle Werte“, sprich: gegen progressive Lehrpläne an Schulen, oder Aufklärungsarbeit über sexuelle Vielfalt mobilisieren homophobe und transphobe Ressentiments, die leider so schnell nicht aus der Welt zu schaffen sind. Dies ist in vielen Ländern zu beobachten. Ein markantes Beispiel ist Kolumbien, wo es vor dem Referendum zum Friedensabkommen ob seines fortschrittlichen Gender-Ansatzes zum Shitstorm gegen die LGBTI-Community kam. Dieser konservative, religiös verbrämte Backlash gegen die Thematisierung sexueller Vielfalt in Lehrplänen ist ein globales Phänomen, das sowohl in Baden-Württemberg als auch in Lima unfassbare Statements zu Tage fördert.
Auch physische Gewalt gegen LGBTI ist leider immer noch Alltag, oft in unheilvoller Allianz mit allgemein frauenverachtenden Tendenzen, was eine besorgniserregende Zunahme an Vergewaltigungen und Morden an Frauen und Transpersonen zur Folge hat. Und von jeher nicht besonders gendersensible Kräfte, wie etwa die Polizei, nehmen Frauen besonders gerne fest, wenn sie „wie Lesben aussehen“, so geschehen rund um die Mobilisierungen zum 8. März in Buenos Aires. In unserem Schwerpunkt „Queer, Cuir, Cuy – LGBTI“ wollen wir diese umkämpften Lebenswelten, ihre Protagonist*innen und deren Forderungen in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern vorstellen und dem „Meerschweinigen“ – „lo cuy“, also der lateinamerikanisierten Version von queer, eine Bühne bieten.
In eigener Sache: Aufmerksamen Leser*innen dürfte es bereits aufgefallen sein – nach einigen Jahrzehnten nehmen wir nun die aktuelle Ausgabe zum Anlass, um das Binnen-I, das lange Zeit für Geschlechtergleichberechtigung stehen sollte, durch das umfassendere, zeitgemäße * zu ersetzen, welches nicht nur für zwei (männl./weibl.), sondern für alle Geschlechtsidentitäten steht.