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Sehnsucht Revolution

40 Jahre Solidaritätsbrigaden nach Nicaragua

Es war eine der größten internationalistischen Bewegungen: 15 000 deutsche Staatsbürger*innen flogen zwischen 1983 und 1990 zu Solidaritätsbrigaden nach Nicaragua, um sich als „lebendigen Schutzschild“ gegen die befürchtete US-Intervention vor die nicaraguanischen Revolutionär*innen zu stellen. Am 3. Februar 2024, 40 Jahre später, trafen sich auf Einladung des Infobüros Nicaragua etwa 65 ehemalige Brigadist*innen in Wuppertal. Sie tauschten Erinnerungen aus und diskutierten, wie sich der Blick auf damals verändert hat.

Mirjana Jandik

Schutzschild – das Wort nannten alle auf die Frage, wie sie ihre Rolle damals in Nicaragua verstanden. Die Anwesenheit von „deutschen Wohlstandskids“ würde die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erhöhen und der von den USA finanzierten Contra weniger Spielraum geben. Dass sie bei der Kaffeeernte keine wirkliche Hilfe sein würden, war den meisten vorher klar. „Aber manche Deutsche haben dann untereinander diskutiert, wie Häuser gebaut werden sollen. Dabei wissen die Nicas doch am besten, wie man hier baut“, schüttelt Germán Wiener den Kopf. Der Ingenieur und Filmemacher ist einer der wenigen, wenn nicht der einzige, Lateinamerikaner*innen bei dem Treffen. Im Jahr 1980 floh er während der argentinischen Militärdiktatur nach Deutschland – und blieb. „Als Lateinamerikaner wusste ich natürlich, was in Nicaragua passierte. Es gab uns Hoffnung. Nicaragua war ein dritter Weg neben den USA und der Sowjetunion.“ Die Sandinistische Revolution ab 1980, sie war „ein Versuch, soziale Gerechtigkeit, politischen Pluralismus und humanistische Ethik miteinander zu verbinden“, heißt es in der Abschlusserklärung des Brigadentreffens in Wuppertal.

Germán Wiener hatte damals kein Geld, aber er sprach Spanisch. So wurde er eingeladen, mit einer Brigade nach Loma Alta zu gehen. Dass man damals schon hätte absehen können, dass sich die sandinistische Revolution zum brutal autoritären Ortega-Murillo-Regime von heute entwickeln würde, glaubt er, anders als einige hier, nicht: „Das war ein Land im Krieg, natürlich mussten sie militarisiert sein. Und es hat danach freie Wahlen gegeben.“ Vor allem die streng militärische Logik mit ihrem Hang zur autoritären Gleichförmigkeit sehen heute mehrere ehemalige Brigadist*innen als frühe Warnzeichen. Manche bezweifeln, dass die Sandinist*innen eine wirkliche Strategie des Übergangs, der Demilitarisierung, hatten. Sie selbst seien „naiv“ gewesen. Auch das Wort fällt an dem Tag häufig. Man habe so gerne glauben wollen, dass im fernen Nicaragua wirklich die bessere Welt entsteht. Wobei es natürlich immer um mehr ging, betont eine Teilnehmerin vehement: „Wir wollten die Revolution überall! Nicaragua sollte keine Ausnahme sein, es ging uns vor allem um Veränderungen in Deutschland.“

Hoffnung auf ein neues Nicaragua?

Nicaragua sei eine Projektionsfläche gewesen, sagt Stephanie, die 1990 mit einer Brigade in La Paz del Tuma war: „Es war eine Zeit im Umbruch, die Trennung zwischen bösem US-Imperialismus und dem besseren Anderen funktionierte nicht mehr. Heute würde ich sagen, Nicaragua war ein Sehnsuchtsort. Wir haben diese Nicaragua-Solidarität auch mit dem Wunsch nach Klarheit gemacht, wo man genau sagen kann, auf wessen Seite man steht. Und wir stehen auf jeden Fall auf der richtigen Seite.“ Bei aller Selbstkritik erkennt Stephanie auch: „Es war unglaublich bedeutsam. Ich denke sehr, sehr oft an die Zeit zurück. Daran, wie wir versucht haben, mit der Kollektivität umzugehen. Wie ernsthaft wir über alles diskutiert haben, um es so gut wie möglich zu machen.“ Dass alles ausdiskutiert wurde, daran erinnern sich viele. Und ich höre oft, wie biografieprägend die dreimonatigen Aufenthalte in Nicaragua waren. Viele schlossen lebenslange Freundschaften, manche bekamen in Nicaragua Kinder, andere sind gleich dort geblieben.

An der Wand in dem großen Raum in Wuppertal hängen Fotos: Ehemalige Brigadist*innen, die inzwischen verstorben sind. Unter ihnen ist auch unser lieber ila-Genosse Hans-Georg „Aldi“ Aldenhoven, der vergangenes Jahr gestorben ist (siehe ila 469). Uwe geht langsam und nachdenklich an der Galerie vorbei: „Ja, ich habe doch viele von ihnen näher gekannt.“

Das Treffen gibt Raum, um in Erinnerungen zu schwelgen, aber auch für Input zur aktuellen Lage in Nicaragua und zur Diskussion. Nicht viele der Anwesenden haben heute noch aktiv mit Nicaragua zu tun, ihre Leben sind sehr unterschiedlich verlaufen. Geht es jetzt, nach diesem Wiedersehen, irgendwie weiter? „Manche Brigadist*innen nehmen sich jetzt vor, ,ihre‘ Brigade noch einmal zu einem Treffen zusammenzu­trommeln“, freut sich Barbara Lucas vom Infobüro Nicaragua. Und die kritische Selbstreflexion ist nicht zu Ende, sondern steht eigentlich erst am Anfang, wie es in der gemeinsamen Abschlusserklärung heißt:

„Für die Solidaritätsbewegung stellen sich die Aufgaben einer selbstkritischen Analyse ihrer Vergangenheit, der Unterstützung der Demokratiebewegung und einer engagierten Menschenrechtspolitik. Wir sind zutiefst überzeugt, dass ein neues Nicaragua nur durch den Niedergang der Ortega-Murillo-Diktatur entstehen kann und dass die Familie Ortega-Murillo sich vor nationalen oder auch internationalen Gerichten für ihre Verbrechen verantworten und ihren aus öffentlichen Mitteln zusammengeraubten Besitz zurückgeben muss.

Wir fordern die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen und die Wiederherstellung aller demokratischen Rechte in Nicaragua.

Wir fordern alle politischen Institutionen, Organisationen und Menschen auf, die Exilierten und die Flüchtlinge Nicaraguas solidarisch zu unterstützen und ihnen Asyl zu gewähren.“