Wem gehört der Karneval?
Wem gehört der Karneval? Gute Frage. Eigentlich dürfte der Karneval niemandem gehören, schließlich ist die Verkehrung der Machtverhältnisse beim Karneval geradezu Programm. Auch wenn böse Zungen nicht verschweigen, dass diese Verkehrung ein wirkungsvolles Rezept dafür ist, für den Rest des Jahres untertänige Rollen klaglos akzeptiert zu wissen. Ist der Karneval katholisch, ein letzter Fleischgenuss (im weitesten Sinne) vor der Fastenzeit? Oder ist er heidnisch, das Feiern der Fruchtbarkeit? Findet er im Frühling oder zur Erntezeit statt? Wer hat ihn erfunden? Wie sieht es mit kultureller Aneignung aus? Die ila hat sich im argentinischen Salta umgesehen, weit weg von Buenos Aires und mit einer Provinzgrenze zu Bolivien. Verkehrt ist da einiges, aber nicht so, wie man vielleicht denkt. Doch Karneval ist ohnehin eine verkehrte Welt.
Wie fast alle spielerischen Äußerungen, die Lateinamerika erreichten, kam auch der Karneval über Spanien dorthin“, schrieb der Historiker Angel López Campos. Und weiter: „Bei seiner Ankunft in Amerika wurde er mit einigen einheimischen Abwandlungen angereichert, aber im Grunde können wir sagen, dass es sich dabei nur um einige weitere Varianten des spanischen Karnevals handelte.“ Diese erstaunlich hispanozentrische Sichtweise jenes Karnevalsexperten, der einen Lehrstuhl an der Universität von Sevilla innehatte, befand das Parlament von Salta im Jahre 2000 so überzeugend, dass es sie auf seine Website setzte, nicht ohne beim Autor den Zusatz zu betonen, er habe 1992, als Spanien 500 Jahre Conquista feierte, in ebendiesem Spanien ein Buch über „Spiele, Feste und Vergnügungen im spanischen Amerika“ herausgegeben. Dann muss er sich ja auskennen! In welcher Tradition sich die Abgeordneten von Salta sehen, sollte hiermit klar sein.
Sicher haben die spanischen Eroberer das Feiern weder erfunden noch als Neuheit in ihre Kolonien exportiert. Feste und Feiern, Maskentragen und Rollentausch sind zweifellos Bedürfnisse aller menschlichen Gesellschaften, um Ausbeutungs-, Witterungs- oder andere Verhältnisse zu ertragen. Sie fallen in der Regel umso ausgelassener aus, je unerträglicher die Zustände sind. Das Wort Tollwut bringt den Doppelcharakter des Ausbruchs aus dem Alltag auf den Punkt (auch wenn dessen Bedeutung heute auf Tiere und Krankheit zielt). Das katholische Fest Karneval setzte dem Tollen im europäischen Frühjahr ein zeitliches Limit, Aschermittwoch. Weltliche Autoritäten disziplinierten die Tollenden, indem sie eine örtliche Begrenzung hinzufügten, die Umzugsroute. Die Einführung von Wettbewerb, also Konkurrenz, um den Status der originellsten Gruppe, des prunkvollsten Wagens oder des ausgefallensten Kostüms, brachte schließlich die Spontaneität vollends zur Strecke.
Agrarische Tradition und Touristenköder
Auf der südlichen Halbkugel markiert der Zeitraum Februar bis März oft das Ende der Regenzeit oder den Beginn der Ernte. An den Orten, wo heute Karneval gefeiert wird, hatten die Menschen vorher solche Ereignisse gefeiert. Auch in Salta überlagern sich unterschiedliche Traditionen.
Da ist einerseits die in vielen Orten offenbar erfolgreiche Disziplinierung des Karnevals zum Korso, der Durchzug sich zur Schau stellender, phantasievoll kostümierter Fußgruppen, teils mit entsprechend geschmückten Wagen. „Mottowagen“, würde man im Rheinland sagen. Doch die Temperaturen sind ungleich höher und die Kostüme (meistens) knapper – Brasilien lässt grüßen. Allerdings beteiligen sich im Norden Argentiniens seit mindestens zwei Jahrzehnten auch Figuren und Gruppen aus dem andinen Kulturraum, insbesondere aus Bolivien, wie die aus Oruro stammenden Teufelsgruppen („Diabladas“). Auch die „Caporales“ (deren Kostüme auf die schwarzen Vorarbeiter in den afrobolivianischen Yungas anspielen) oder „Tinkus“ (ursprünglich rituelle Tänze aus Potosí) sind fester Bestandteil der Umzüge geworden. Gut möglich, dass das Zeigen der prächtigen Verkleidung, das Spektakel, ebenso wichtig ist wie der Spaß an der Sache.
San Antonio de los Cobres ködert Tourist*innen damit, dass bei einem Viadukt in 20 Kilometern Entfernung der höchstgelegene Korso der Welt ausgerichtet werde. Es braucht den Superlativ. Das glanzvollste Ereignis in der Provinzhauptstadt zu sein, verspricht an allen Wochenenden schon vier Wochen vor dem eigentlichen Karneval (insgesamt an 16 Abenden) der Korso zwischen Tribünen beiderseits eines Straßenabschnitts: der „Corso de la Patria Grande“. Wettbewerb ist angesagt. Welche ist die schönste, die beste Gruppe? In manchen Orten wie in Tartagal wird gar eine Karnevalskönigin gekürt. Wer sich in Salta nur an den Plakaten auf den Straßen oder an offiziellen Websites orientiert, wird kaum den Eindruck gewinnen, dass der Karneval hier ein Gemisch aus vielen Einflüssen ist, dass die Bändigung zum Spektakel das Spiel noch nicht abgelöst hat. Übrigens: Auf der offiziellen Website Saltas wird der Eintrittspreis im Jahr 2024 durch das Peso-Zeichen markiert. Die Höhe bleibt vorerst offen. Inflation und Milei machen den Preis im Vorhinein unkalkulierbar.
Spektakel oder Spaß
Wesentlich weniger domestiziert als der Korso ist der andine Karneval. Auf dem Land, in der Provinz Salta ebenso wie in der angrenzenden Provinz Jujuy, ist er weiter lebendig. Argentinien ist aber nicht Köln. Man kann im Februar Salta und Jujuy bereisen, ohne vom Karneval etwas mitzubekommen, was im Rheinland in diesem Zeitraum kaum möglich ist. Obwohl: Wir trafen in der Kaffeeecke einer Tankstelle an der Straße zwischen Jujuy und Salta eine Gruppe Jungs, die dort völlig übernächtigt in den Seilen hing, Haare, Gesichter und T-Shirts zentimeterdick mit Farbe beschmiert. An die Türgriffe ihres Autos waren Luftschlangen gebunden. Sie flatterten an vielen Autos, was wir vorher nicht bemerkt hatten. Alle Autos kamen zurück aus Purmamarca, einem hübschen kleinen Dorf, von Andenreliefs umgeben. In wenigen Jahren ist es wegen seiner bombastischen Lage zum Tourist*innenmagnet geworden. Zunächst kamen französische Reisende, dann die Argentinier*innen, die zuvor die andinen Landesteile als hinterwäldlerisch verschmäht hatten. Inzwischen ist Purmamarca an den Karnevalstagen überlaufen. Was noch „authentisch“ ist, muss man suchen. Andenbrauch trifft auf Partylust: Ist das auch Synkretismus? Ist die Verschmelzung nicht nur oberflächlich und auf lange Sicht mitunter tödlich für die ursprünglichen Formen?
Auf dem Hauptplatz wird an den Tagen, an denen auch im katholischen Kalender „Karneval“, „Fastnacht“ oder „Fasching“ steht, international außer Rand und Band getanzt. Das andine Element, wesentlich ritueller, geht in den unüberschaubaren Menschenansammlungen jetzt schon beinahe unter: Eher abseits sieht man Teufel in „Diabladas“ herumspringen oder die „Tinkus“, bei denen Frauen in Kreisen stehen und singen, während die Männer um sie herum tanzend kämpfen. Nach wie vor sind die Kostüme sehr bunt, allerdings in ihrer Machart traditionell festgelegt. Das Bespritzen mit Wasser, das Bewerfen mit wassergefüllten Eiern und Mehl war wohl einmal eine aus Spanien stammende Sitte, die in den Anden auf ähnliche Formen traf, um Fülle und Gedeihen zu symbolisieren. Jetzt wird dorfauf, dorfab gekaufte Farbe auf jede erreichbare Körper- und Kleiderstelle geklatscht, welche abzuwaschen man später seine liebe Not hat. Vor allem aber geht unablässig ein wahrer Schneeregen aus Spraydosen nieder. Zu Dutzenden stehen leere „Nieve“-Flaschen an jedem Baum. Besser keine ökologischen Fragen stellen. Auffällig ist der geringe Alkoholkonsum, zumindest der sichtbare. Bierdosen sind eher in den Händen der Tourist*innen zu sehen.
Bei Sonnenuntergang strömt die internationale Spaßgemeinde in sich öffnende Innenräume, um zu ebenso internationaler Musik zu tanzen, während einheimische Gruppen noch einmal durch die Gässchen ziehen und dann die große Trommel aufs Auto packen. Ach ja, Argentinien: keine Demo, kein Umzug ohne Trommel vorneweg.
Spraydosenschnee
Worauf man im Trubel und Spraydosenschnee Purmamarcas nur noch zufällig stößt, das kann man in Salta selbst an den Karnevalstagen im Kunsthandwerksmarkt (Mercado de Artesanías) erleben.
Museal, möchte man sagen, aber es verirrt sich nur ganz selten ein*e auswärtige*r Schaulustige*r dorthin. Schon vorher ist klar, dass es in eine Sauerei ausarten wird: Fliegende Händler*innen verkaufen in großen Gebinden „Nieve“-Sprühflaschen und Farbtöpfe. Mehl und Wasser gehören auch hier der Vergangenheit an. Basilikum-Sträußchen, die im Laufe des Nachmittags wirklich jede*r hinterm Ohr stecken hat – möglicherweise eine Reminiszenz an die Zeit der Ernte im andinen Raum – sind hübsch, aber kein Schutz vor Farb- und Kunstnebelattacken. Später als angesagt treffen tanzend und von Musik begleitet verkleidete Gruppen ein. Vorneweg ein Fahnenschwinger, dann Teufel, Gestalten in Tierfellen oder Federkostümen, Männer hinter monströsen Masken, Frauen in andinen Trachten. Der Pucllay – oder Pujllay – wird ausgegraben und ganz am Ende, bevor es dunkel wird, wieder eingegraben. Wie der Nubbel in Köln ist er Garant des Festes, hier jedoch nur für einen Nachmittag.
Die Provinz kennt drei Karnevalsabschnitte: den „Aufwärmkarneval“, den „Großen Karneval“ und den „Kleinen Karneval“, meist eine Woche später. Den Auftakt zum „Großen Karneval“ bildet der „Jueves de Comadres“, der Donnerstag der Patinnen, im Rheinland der Altweiberdonnerstag. Die Patinnen singen „Coplas“, vierzeilige Strophen, Lustiges, Ernsteres, Dorftratsch. Ähnlich wie die Murgas in Uruguay (siehe Beitrag auf S. 23-24), aber weniger politisch in einer konservativen Umgebung wie der in Salta, worauf eine dort geborene Freundin hinwies. Dass Milei dieses Jahr kommentiert würde, bezweifelte sie. Die Coplas erinnern auch entfernt an die Moritaten der Mainzer Hofsänger – man verzeihe mir den Vergleich mit einer Männergruppe. Tatsächlich spielen Frauen im andinen Karneval, wie auch hier bei den Comadres, eine ungleich stärkere, unabhängige Rolle als im bürgerlichen europäischen Kontext. Auch eine offen sexuell fordernde Rolle. So nicken sich die Frauen bei einem Vortrag zur Geschichte des Pucllay im städtischen Museum zu. Die zuvor Schweigsamen beginnen auf einmal, Geschichten partnerschaftlicher Untreue durch Frauen aus den Dörfern der Provinzen Salta und Jujuy zu erzählen. Schmunzeln rundum.
Karneval der Frauen
Die Tradition der Coplas ist eng verbunden mit einem Tal in der Nähe von Salta, dem Valle de Lerma. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden dort als Schutz vor dem Regen einfache Zelte, „Carpas“, aufgeschlagen, wo die Anwohner*innen feierten, aber ebenso durchziehende Viehhändler Pause machten. Und auch sangen. Die „Carpas Copleras“ wurden zu Orten, die Sänger und Kapellen bekannt machten und in denen Karneval – oder auch einfach so – gefeiert wurde. Sie wurden so berühmt, dass die Zivil-Militärdiktatur sie 1976 verbot. Nach deren Ende kehrte die Sitte zurück, wobei sich deren Musik modernisierte.
Die Coplas der Comadres sind in Melodie und Instrumentierung traditionsverhafteter geblieben. Die Comadres sind die Karnevalstage über allein unterwegs. Beim letzten Karneval, 2023, bildeten sie auf einem Platz ganz am Ende des Paseo de los Poetas, nicht ganz in der Innenstadt von Salta, den Abschluss des andinen Karnevals, bevor eine Pop-Band auftrat. Vor den Comadres gehörte die Bühne bolivianischen Gruppen. Bolivien ist nah, Aymara- und Quechua-Gesellschaften sind ohnehin keinen Nationalgrenzen verpflichtet, Arbeitsmigration kommt hinzu. Das friedliche, feiernde Nebeneinander von Menschen mit unterschiedlichen Pässen war auf einmal „normal“, auch wenn das Wort „normal“ so gar nicht zum Karneval passt. Am Rande wurden nochmals Zöpfe geflochten, Stiefel gebunden. „Salteñas“, Frauen aus Salta, in traditioneller, ganz figurunbetonter Festtagskleidung, elegante „Cholas“, würde man sagen, standen neben bolivianischen Tänzerinnen in superkurzen Kostümen und lachten zusammen. Klassen- und Nationalitätsunterschiede waren nicht wirklich auszumachen. Eine schöne Momentaufnahme auf einem kleinen Platz, von dem Groß-Salta kaum Notiz nahm. Aschermittwoch kam und kommt bestimmt. Und mit Milei könnte er lange dauern.