ila

Die ersten 30 Jahre

Teil 1/3 der ila-Mini-Serie: Blick zurück und vorwärts auf Meilensteine der zapatistischen Bewegung in Chiapas

Zur Jahreswende 2024 feierten die Zapatistas mit mehreren Tausend Besucher*innen den 30. Jahrestag ihres Aufstands am Neujahrstag 1994. Die Schätzungen schwanken zwischen 7000 und 15 000 Gästen. Ausgerichtet wurde das Fest mit viel Kultur und unbewaffneten Aufmärschen auf einem großen Gelände des bisherigen Caracol IX Dolores Hidalgo. Im Vorfeld hatte die EZLN nach langem Schweigen 20 Communiqués veröffentlicht. Darin kündigten sie als wichtigste neue Weichenstellungen an, die bisherige Regionalebene der zivilen Autonomiestruktur, die sogenannten Juntas del Buen Gobierno und Gemeindeverbünde Caracoles, aufzulösen und stattdessen die lokale Entscheidungsebene zu stärken (Gobiernos Autónomos Locales, GAL). Außerdem wurde das Konzept des Nicht-Besitzes an Grund und Boden eingeführt: „Was niemandem gehört, gehört allen“. Es bedeutet die Verweigerung jeglicher, auch kollektiver, Eigentumszuordnung. Wie Luft und Wasser soll künftig bisher ungenutztes Land als Gemeingut (Común) genutzt und geschützt werden. Bestehende Landzuweisungen bleiben davon unberührt. Die Neuerungen deuten manche als Ausdruck der Bedrängnis der zapatistischen Gemeinschaften durch die Spaltungsmanöver der offiziellen Politik, die Paramilitärs und die Narcos, die inzwischen im südlichen Grenzgebiet angekommen sind. Andere sehen darin eine Stärkung des Autonomieansatzes und der Bündnisoptionen mit nicht-zapatistischer Bevölkerung. ila-Autorin Danuta Sacher hat mit drei langjährigen Begleiter*innen der zapatistischen Bewegung gesprochen und wird deren Einschätzungen in dieser und den beiden nächsten ila-Ausgaben vorstellen. Den Anfang macht Rosaluz Pérez.

Danuta Sacher

Wie hast du die Jubiläumsfeierlichkeiten erlebt?

Es hat mich begeistert, dass so viele Menschen in einem Moment zusammengekommen sind, in dem alles in Chiapas und der Welt sehr deprimierend und schwer veränderbar scheint. Ich hatte den Eindruck, dass der Staffelstab an eine neue Generation weitergegeben wurde. Denn die Mehrheit der Teilnehmer*innen des Treffens waren junge Leute – bei den Zapatist*innen und bei den Besucher*innen. Auch ein Großteil der Organisation lag offensichtlich in den Händen der jungen Leute, das heißt, eine neue Generation hat gelernt, was es bedeutet, ein Treffen dieser Größenordnung zu organisieren. Das war sicher eine besondere Erfahrung nach der Isolation der Pandemie. Diese Tausende von jungen Menschen waren nicht dieselben Zapatist*innen von vor 30 Jahren. Die neue Generation hat Zugang zum Internet, zu den kapitalistischen Versprechen, zur Migration und sogar zu Angeboten der Narco-Kartelle. Aber diese Tausende haben sich dafür entschieden, Zapatist*innen zu sein.

Nach meinem Eindruck war es ein sehr ehrliches Treffen. Es lief ganz ohne die prägende Präsenz und Worte von Marcos (erster Sprecher der zapatistischen Befreiungsbewegung, d. Red.). Seine Rolle war in einer bestimmten Phase sehr wichtig, aber ab einem bestimmten Moment kam es darauf an, dass die Zapatist*innen „vor Ort“ selbst das Wort ergriffen und sichtbar wurden. Als Subcomandante Moisés am Ende seiner Rede sagte „Wir sind allein, wie wir es immer waren, von Anfang an“, klang das für mich – bei allem Respekt – ein wenig aus der Zeit gefallen. Die erste Generation des Zapatismus wurde inzwischen mehrmals von der eigenen Bewegung überholt und so bin ich sehr gespannt, wie die neuen jungen Zapatist*innen sich artikulieren werden.

Kann man sagen, dass sich der Charakter der Bewegung von einer Protestbewegung hin zum Projekt einer alternativen Gesellschaft verändert hat?

Die Zapatist*innen begannen vor 1994 als eine Organisation, die Lösungen vom Staat einforderte. Gleichberechtigt ins Staatsvolk oder die Nation aufgenommen zu werden, war der Horizont, auf den politische Erwartungen und materielle Forderungen rund um das wirtschaftliche Überleben ausgerichtet waren. Ich denke, dass der lange Weg, den sie zurückgelegt haben, sie dazu gebracht hat, verschiedene Arten von Organisation und gesellschaftlichen Beziehungen zu reflektieren – im Lichte der mexikanischen Gesellschaft, aber auch der vielen internationalen Begegnungen. Das führte dazu, ihre Forderungen zu überdenken, ausgehend von einem neuen Bewusstsein ihrer Wurzeln als indigene Bevölkerung. Auf diese Weise wuchs die Erkenntnis, dass die Verwirklichung ihrer Forderungen auch verlangen würde, ihrer eigene soziale Organisation und sozialen Beziehungen weiterzuentwickeln. So haben nach meiner Wahrnehmung Autonomie und Selbstbestimmung innerhalb der Bewegung an Gewicht gewonnen.

In der Anfangszeit hat das Revolutionäre Frauengesetz starke Sympathien geweckt. Wie hat sich die Rolle der Frauen auf dem langen Weg der letzten 30 Jahre entwickelt?

Das Revolutionäre Frauengesetz war zusammen mit dem Agrargesetz eine der Säulen der Bewegung. Es ist eine Wegmarke zum Zeitpunkt des Aufstandes. Wenig bekannt ist der Prozess, der ihm vorausging und der nicht vollständig im Gesetz abgebildet ist. Was waren die Erwartungen der Frauen und warum entschieden sie sich, zu den Waffen zu greifen? Es hatte vor allem mit der Veränderung ihres Lebens zu tun, des persönlichen und gemeinschaftlichen, insbesondere mit den erhofften Veränderungen des Alltags. Die Frauen dachten nicht in erster Linie, „wir werden der mexikanischen Regierung, oder dem kapitalistischen System, ein Ende setzen“, sondern – und das ist sicherlich ein geschlechtsspezifisches Charakteristikum – sie wollten das Alltagsleben verändern. Das ist im Rahmen des Aufbaus der zapatistischen Autonomie auch geschehen, unter den Fragestellungen: Wie werden wir uns um die Gesundheit kümmern, um die Kindererziehung, wie werden wir in der Gemeinschaft arbeiten?

Aus meiner Sicht ist dies einer der wichtigsten Aspekte des ganzen Prozesses, den die Zapatist*innen durchlaufen haben. Er hat die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und das Gemeinschaftsleben verändert.

Hat die zapatistische Bewegung in ihren ersten 30 Jahren bewiesen, dass die Erhaltung und Praxis der indigenen Kultur nicht im Widerspruch zu mehr Geschlechtergerechtigkeit steht?

Wenn Frauen beschließen, sich einer politisch-militärischen Bewegung anzuschließen, dann denken sie daran, ihre Rolle in der Gemeinschaft zu verändern, neue Horizonte zu erschließen anstelle der bisher einzigen Perspektive: zu heiraten. Sie verteidigen die Gemeinschaft und setzen sich gleichzeitig für deren Umgestaltung ein. Das heißt, die historische Kultur als bäuerliche, indigene Gemeinschaften wird bejaht und gelebt, und gleichzeitig werden die Geschlechterbeziehung verändert und viele interne Transformationen angestoßen. Nur so kann Autonomie funktionieren. Denn sonst gibt es eben keine Erzieherinnen, keine Gesundheitsarbeiterinnen. Die Männer allein können die Autonomie nicht aufbauen. Die Veränderung der Geschlechterverhältnisse ist eine Voraussetzung für das politische Projekt des Zapatismus, das eine andere Gesellschaft anstrebt, aber sich gleichzeitig als bäuerliche, indigene Gemeinschaft identifiziert.

Spiegelt sich dies in der Präsenz von Frauen auf verschiedenen Entscheidungsebenen wider, sei es im zivilen oder militärischen Bereich?

Es spiegelt sich bisher in der Vielfalt der Möglichkeiten wider, eine Frau innerhalb der Gemeinschaft zu sein. Junge Frauen können jetzt Lehrerinnen, Ärztinnen, Videokünstlerinnen werden. Es bleibt die Herausforderung, auch die Reproduktionsarbeit neu zu organisieren, sonst bleiben wir im bekannten Problem der Doppelbelastung stecken. Das bedeutet, dass die Zapatistas die gesamte ökonomische Struktur der Gemeinschaft überdenken müssen, denn die Familie gilt erstmal weiterhin als die produktive Einheit. Es gibt aber auch alleinerziehende Mütter oder Frauen, die nicht heiraten wollen, und wenn sie nicht Teil einer Familie sind oder allein leben, haben sie bislang kein Recht auf Land.

Auch beim Jubiläumsfest waren viele junge Frauen sichtbar. Ich meine, man kann sehen, dass es eine politische Absicht der Organisation gibt, all diese jungen Frauen zu unterstützen. Die erste Generation musste hart kämpfen. Diese neue Generation junger Frauen ist anders – sie verdecken nicht mehr ihr Gesicht, um zu lachen.

Kommen wir zu den Neuorientierungen, die bei den Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag vorgestellt wurden. Eine davon war, die mittlere Ebene der zapatistischen Organisationsstruktur, die sogenannten Caracoles, aufzuheben.

Die Auflösung der Caracoles ist mit der Stärkung der lokalen Entscheidungsebene verbunden. Ich denke, dies hat vor allem mit der Zunahme von Gewalt und Bedrohung in den Regionen mit zapatistischer Präsenz zu tun, insbesondere durch das organisierte Verbrechen und die Paramilitärs. Es vereinfacht die Entscheidungsstrukturen und die Zusammenarbeit mit der nicht-zapatistischen Bevölkerung in den Gebieten, und das ist sehr positiv und schützt die Organisation. Auch haben die Caracoles schon länger an funktionaler Bedeutung verloren, zum Beispiel für den Empfang internationaler Besuche.

Über die militärische Struktur wurde in diesem Zusammenhang nicht gesprochen, außer dass sie fortbestehen werde. Es kann also von der Fortsetzung des CCRI als höchster Militärinstanz ausgegangen werden. Bei den Feierlichkeiten gab es eine starke Präsenz von Milizionär*innen und Aktiven der Zapatistischen Armee, aber ohne Waffen. Ich denke, die Botschaft war, dass sie auf einen politischen Weg setzen und gleichzeitig demonstrieren wollten, dass sie militärisch vorbereitet und trainiert sind.

Wie können wir das Konzept des Nicht-Eigentums verstehen, das Subcomandante Moisés vorstellte?

Die genaue praktische Interpretation steht noch aus. Ich verstehe es so, dass es sich auf noch nicht genutztes und zukünftig wiedergewonnenes Land bezieht. Das Land, das bereits Gemeinden und Familien zugewiesen wurde, wird respektiert. Daneben gibt es Ländereien, die nicht bewirtschaftet werden, und es wird dazu aufgerufen, sie kollektiv zu bearbeiten. Das eröffnet auch die Möglichkeit, nicht-zapatistische Personen einzubeziehen.

Was war das Wichtigste, das dir die Begleitung der zapatistischen Bewegung persönlich gegeben hat?

Das wichtigste Geschenk ist die praktische Erfahrung, dass wir ein anderes Leben aufbauen können, basierend auf dem, was wir heute sind. Darüber denke ich noch mehr nach, seitdem ich eine Tochter habe. Wir können anfangen, dieses andere Leben aufzubauen, auch ohne erst den Kampf gewonnen haben zu müssen. Von Anfang an konnten alle ihr Sandkorn beisteuern, ohne auf die Unterzeichnung des Friedensabkommens und das Ende des Krieges warten zu müssen.

Rosaluz Pérez ist Soziologin und hat seit 1995 den Aufbau der autonomen Gemeinden unterstützt, insbesondere eines autonomen Bildungssystems. Sie lebte 13 Jahre lang in den zapatistischen Gemeinden. Ihre Erfahrungen beziehen sich vor allem auf Aguascalientes IV bzw. den ehemaligen Caracol IV in Morelia. Dort lag von 1999 bis 2003 die Regionalverantwortung bei Mayor Maribel – eine von zwei Frauen, die bisher diesen Rang in der EZLN erreichten.