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Die ersten 30 Jahre (Teil 3/3 der ila-Miniserie)

Blick zurück und vorwärts auf Meilensteine der zapatistischen Bewegung in Chiapas

Am Jahresanfang feierten die Zapatistas in Chiapas, Mexiko, mit mehreren tausend Besucher*innen den 30. Jahrestag ihres Aufstands am Neujahrstag 1994. Die Ergebnisse der damaligen Friedensverhandlungen mit der Regierung wurden nicht umgesetzt. Seither arbeitet die Bewegung daran, ihre Vision solidarischer Gemeinden autonom zu realisieren. Welche Zukunft hat die Bewegung inmitten der eskalierenden Gewalt in Südmexiko? Darüber sprach ila-Autorin Danuta Sacher mit Jorge Santiago im dritten und letzten Teil der ila-Jubiläumsserie.

Danuta Sacher

Sind die konkreten Forderungen der zapatistischen Bewegung von 1994 in die zweite Reihe gerückt? Anders gesagt, sind die Zapatistas heute eher eine Referenz für eine allgemeine politische Haltung oder eine emanzipatorische Lebensweise?

Nach meinem Verständnis konzentrieren sich die indigenen Völker gerade eher auf Verteidigung als auf Forderungen an den Staat. Nehmen wir die Abkommen von San Andrés 1996, darin handelten die Zapatist*innen mit dem Staat die Rechte indigener Völker und ihrer Kultur aus. Aber statt das Abkommen umzusetzen, ging der Staat mit Mitteln der Aufstandsbekämpfung gegen die Bewegung vor. Wie willst du in einem solchen Kontext soziale Forderungen stellen und Gerechtigkeit verlangen? Hier begann sich der Charakter der Bewegung zu verändern. Gemeinsam Verteidigung und Alternativen aufzubauen wurde wichtiger. Verteidigung ist nicht im militärischen Sinne zu verstehen, denn die indigenen Völker sind im Nachteil gegenüber der Waffenmacht des Staates. Vielmehr geht es um eine Verteidigung, die auf dem Bewusstsein, den Fähigkeiten und der Identität des Volkes aufbaut, auch auf seiner Kontrolle über Territorium, das die Biodiversität und wichtige strategische Güter wie Wasser, Wälder und Mineralien beherbergt. Die zapatistische Autonomie will den Individualismus und die private Aneignung von Land und anderen Ressourcen überwinden. Sie sucht horizontale Beziehungen und will Würde und Vielfalt respektieren.

Als der jetzige Präsident López Obrador von MORENA sein Amt antrat, dachten viele, jetzt könnte sich etwas verändern. Aber das passierte nicht, stattdessen verfolgte er die Strategie staatlicher Megaprojekte und Kontrolle, baute die Macht des Militärs aus. Gleichzeitig wurde nicht berücksichtigt, welche Fähigkeiten die indigenen Völker haben, um die Gesellschaft zu verändern.

Von Anfang an war eine der staatlichen Strategien, die Bewegung zu spalten. Konnte unter diesen Umständen die soziale Basis wachsen, die dieser Vision einer anderen Gesellschaft folgt?

Es gibt nur wenige große Gemeinden, in denen alle Menschen zapatistisch sind, und einige kleinere; es sind relativ neue Gemeinden in den zurückgewonnenen Gebieten. In den historischen indigenen Orten war es in der Regel nicht möglich, die Gesamtheit der Bevölkerung zu organisieren. Deshalb sprechen wir besser von zapatistischen Kollektiven statt Gemeinden. Es sind keine ideologischen Kollektive, keine Studienkreise, sondern Kollektive gemeinsamer Praxis von Entscheidungsfindung und Arbeit. Es gibt auch viele ehemalige Zapatistas, einige mit Problemen und andere mit sehr guten Beziehungen zu den Zapatistas. Und viele Aktive in den Autonomieprozessen waren nie Zapatistas, aber teilen die Vision kooperativer Arbeit und gemeinsamen Wissens.

Natürlich hatte die Spaltungspolitik des Staates Folgen. Aber insgesamt hat die EZLN (Zapatistische Nationale Befreiungsarmee, Anm.d.Red.) in den letzten 10 Jahren ein Kommunikations- und Beziehungssystem geschaffen, das ermöglicht, dass die Nachbarn, die keine Zapatisten sind, nicht zu Feinden werden, und dass sie in bestimmten Fragen zusammenarbeiten können.

Die Berichte über das 30. Jubiläum betonten oft die starke Präsenz junger Menschen.

Ja, meiner Meinung nach ist die langjährige Arbeit mit den neuen Generationen inzwischen besonders sichtbar. Sie haben die jungen Menschen begleitet, seit sie sechs oder acht Jahre alt sind. Was ein Erfolg, dass die heutige Generation nicht dasselbe durchmachen musste wie die alte! Sie kennen das Fincasystem1 nicht mehr, sie hatten keinen Großgrundbesitzer über sich, sie kennen das System der Staatspartei PRI nicht mehr und auch keinen Lehrer, der sie diskriminiert. Sie kennen keine betrunkenen Väter zu Hause oder Besäufnisse in der Gemeinde. Sie haben gelernt, sich mit künstlerischen Mitteln auszudrücken, zu zeichnen, zu malen, sie können musizieren und viele junge Frauen machen Rock, drehen Videos und Filme und nutzen die sozialen Medien. Es wurden Gemeinschaftsradios und -sender gegründet, was aktuell etwas stagniert, und einige haben angefangen, die Geschichte der Gemeinden aufzuschreiben: Wie war das Leben vor 1994 und wie haben sich die Dinge verändert? Kürzlich war ich bei einem Treffen zum Thema Saatgut. Die Teilnehmenden sind nicht mehr bei den Zapatistas, aber weiter aktiv in der ökologischen Landwirtschaft. Wir sprachen auch über die historischen Wurzeln der Gemeinden und fast alle hatten etwas beizutragen über ihr Dorf, über die Maya-Vorfahren und über die mexikanische Geschichte. Sie sind tatsächlich Besitzer*innen ihrer eigenen Geschichte geworden und das ist ein Ergebnis der Gemeindearbeit der Zapatistas. Es ist nicht zu leugnen, dass die Bewegung auf ihrem langen Weg viele Menschen verloren hat, aber an ihrer Stelle finden sich heute ebenso viele, wenn nicht mehr junge Leute, und das auf einer anderen Grundlage von Kenntnissen und Erfahrungen.

Am 4. Januar sagte López Obrador zum 30. Jahrestag des zapatistischen Aufstands: „Ich sage ihnen mit allem Respekt, dass wir unterschiedliche Vorstellungen haben und dass wir akzeptieren, dass es nicht nur eine einzige Denkweise geben sollte, dass es Pluralität geben und wir uns gegenseitig respektieren sollten.“ In derselben Rede fordert er Selbstkritik von der EZLN, aber er verurteilt sie nicht als Kriminelle, wie frühere Präsidenten, sondern akzeptiert sie als Andersdenkende. Ist das nicht ein neuer Tonfall?

López Obrador erkennt zwar an, dass die Zapatistas in gewisser Weise legitim sind, aber nicht, dass sie einen Beitrag zur Veränderung der mexikanischen Gesellschaft leisten. Wenn er das anerkennen würde, müsste der nächste Schritt sein, darüber zu verhandeln, dass dieser Beitrag einen Platz in der Staatspolitik findet. Er müsste mit den Gemeinden, die durch seine Megaprojekte betroffen sind, in Dialog treten und Vereinbarungen treffen.

Inzwischen wird die Situation in Chiapas und auch in den Gebieten zapatistischer Präsenz durch den Vormarsch der Drogenkartelle geprägt. Wie wirkt sich das auf die Bewegung aus?

Der politische, militärische und paramilitärische Kontext und jetzt noch die Präsenz der Drogenkartelle schränken den Bewegungsspielraum ein. Es gibt Querverbindungen zu den Themen Bergbau, Holzhandel, Migration. Das ist ein dynamischer Prozess und die Landesregierung von Chiapas kommt nicht an den mächtigen Gruppen vorbei, die das Land kontrollieren, den Kaffeeanbau oder die Viehzucht.

Die Zapatistas können nicht einfach in Konfrontation zu diesem Machtgefüge gehen – den Paramilitärs, der Armee, den Narcos, der Landesregierung, der Bundesregierung. Die Strategie geht dahin, trotz dieser Faktoren so lange wie möglich zu wachsen, sich zu halten, den eigenen Raum zu schützen und auf keine Provokation reinzufallen. In diesem Sinne sagte Subcomandante Moisés bei der 30 Jahr-Feier: „Legt euch nicht mit uns an. Wenn ihr das tut, werden wir uns verteidigen, aber wir werden nicht von vornherein angreifen.“

Was ist deiner Meinung nach das größte Geschenk der Zapatistas für dein Leben als sozialer Kämpfer hier in Chiapas?

Es ist eine sehr große Lernerfahrung, angefangen damit, anders auf die Dinge zu schauen, strategisch zu denken, die Dinge in einem breiteren, globalen Kontext zu verstehen, die Fähigkeit der Menschen zu erkennen, sich selbst zu organisieren, die Begeisterung zu erfahren, sich zu mobilisieren, kreativ zu sein, zu merken, dass es möglich ist, die Herrschaftsstrukturen zu überwinden, die Menschen klein halten.

Ich erlebe den ganzen zapatistischen Prozess als eine Suche und fühle mich als begeisterter Teil davon. Das ist ein großes Geschenk, lebendig teilzuhaben, ohne Enttäuschung oder Entmutigung Raum zu geben.

Das Interview führte Danuta Sacher am 5. Januar 2024 in San Cristóbal de las Casas.