Man ist, was man lügt
Das erinnert an aktuelle Extremwetterlagen: Es regnet in Strömen in Bogotá, Bäche laufen über, Taxifahrer ertrinken, Rettungswagen stecken fest. Doch für den fiktiven Autor des Romans „Die Informanten“, Gabriel Santoro, ist der Anruf seines Vaters (der ebenfalls Gabriel Santoro heißt) fast noch dramatischer. Santoro senior zitiert ihn mit Nachdruck in seine Wohnung. Es ist der erste Anruf nach drei Jahren Funkstille. „Die Informanten“, so lautet auch der Titel des real existierenden Romans von Juan Gabriel Vásquez, um den es hier geht und mit dem der kolumbianische Erfolgsautor einem breiten Publikum bekannt wurde.
Zurück zu den Romanfiguren. Vater Santoro, ein vielfach ausgezeichneter und hoch angesehener Jurist und Rhetorikprofessor, hatte den Roman seines Sohns als Verrat empfunden und den Kontakt abgebrochen. Das konnte der Junior genau so wenig wie die Rezensentin verstehen, denn es handelte sich um eine Art Chronik, Titel: „Ein Leben im Exil“. Der Roman im Roman erzählt die von Gabriel Santoro junior in zahlreichen Interviews zusammengetragene Geschichte der Jüdin Sara Guterman, die 1938 als 14-Jährige mit ihren Eltern vor den Nazis nach Kolumbien geflohen war. Nach einer dramatischen Flucht und angesichts erster Restriktionen gegenüber Deutschen (ganz gleich, ob vor den Nazis geflohen, seit langem im Lande oder selbst stramme Nazis) gründet Saras Vater Peter Guterman im Jahr 1939 das Hotel „Nueva Europa“ in Duitama bei Bogotá. An diesem Ort treffen sich Ausländer*innen, vor allem Deutsche, sowie bedeutende kolumbianische Politiker, wie Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten. Das Hotel Nueva Europa ist in den folgenden Jahren Schauplatz für viele dramatische Ereignisse. Sara Guterman ist in dem von Santoro junior verfassten Roman eine langjährige, gute Freundin von Gabriels Vater. Das macht die Aufregung und die immer absonderlicheren Reaktionen seines Vaters auf das erste Buch des Sohns noch unverständlicher. Es ist doch eine harmlose Geschichte, voller guter Absichten, die mit seinem Vater gar nichts zu tun hat, denkt Santoro junior.
Schwarze Listen für Nazi-Sympathisant*innen
Tatsächlich hat der Vater seinen Sohn nur angerufen, weil er sich einer gefährlichen Operation unterziehen muss und seine Unterstützung braucht. Der Sohn zieht nach der erfolgreichen Operation zu ihm und pflegt ihn. Kurze Zeit später wird auch Sara Guterman hinzugerufen. Sara Guterman hat zwar eine Zeitbombe im Kopf, strotzt jedoch vor Energie und freundlicher Fürsorge – für ihre Kinder, Enkel und ihren Freund Gabriel Santoro. Die drei feiern das zweite Leben des Gabriel Santoro senior. Es dauert lange, bis zur Mitte des Buches und bis zum dramatischen Ende des zweiten Lebens von Gabriel Santoro durch einen tödlichen Autounfall, bis Sara Guterman dem Sohn endlich erzählt, warum dessen Vater so auf sein Buch reagiert hat. Warum er ihm Lüge, Verrat und Schlimmeres vorwarf und ihn öffentlich niedermachte. Er wollte nämlich unbedingt etwas vertuschen: seinen eigenen Verrat an seinem Freund Enrique Deresser im Jahr 1943, als er dessen Vater Konrad wegen Nazipropaganda denunzierte, so dass jener auf die Schwarze Liste kam. Die Familie Deresser verlor dadurch ihr gesamtes Vermögen, die Mutter verließ die Familie und Vater Konrad setzte schließlich, verarmt und vereinsamt, seinem Leben selbst ein Ende.
Die Schwarzen Listen waren neben der Errichtung von militärischen Stützpunkten der Beitrag Kolumbiens zum Kampf gegen die Achsenmächte. Das Ziel dieser „Proclaimed List of Blocked Nationals“ war es, in ganz Lateinamerika Einzelpersonen oder Unternehmen zu verfolgen, die sich gegen die Verteidigungspolitik der USA stellten. Damals gab es tatsächlich viele Deutsche und Kolumbianer*innen, die mit den Nazis sympathisierten. Die Liste wurde 1941 erstmals veröffentlicht. Wer dort verzeichnet war, wurde zur Unperson, durfte sich nicht mehr wirtschaftlich betätigen. Jede Geschäftsbeziehung zu diesen Personen stand unter Strafe. Ein Netz von Denunziant*innen ergänzte diese ständig erweiterten Listen, die sich zum Teil aufgrund von Gerüchten und Vorurteilen füllten. Der 1942 gewählte Präsident Alfonso López Pujamaro (der auch im Roman vorkommt) widersetzte sich zunächst diesen Listen. Nachdem aber 1943 ein deutsches U-Boot den kolumbianischen Schoner Resolute versenkte, erklärte die Regierung den Kriegszustand und die Listen taten ihren Dienst. Im März 1944 wurden erste Internierungslager eingerichtet. Eines der wichtigsten war das Luxus-Hotel Sabaneta, das bis 1946 in Betrieb war. Dort ist in dem Roman auch Konrad Deresser interniert, den Sara und Peter Guterman dort besuchen.
Das Leben der Deutschen in Bogotá
Über den Roman erfährt man viel vom Leben der Deutschen in Bogotá, von der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1990er-Jahre. Von denen, die sich möglichst schnell anpassen, deren Kinder bereits nicht mehr die Sprache lernen und die nichts mit der ganzen deutschen Geschichte zu tun haben wollen. Von der Taktik des „bloß nicht auffallen“, von den Schwierigkeiten des Exils und der Verfolgung, die Nazis und Nichtnazis traf, schließlich wurden sogar Juden interniert. Wer gute Kontakte und Geld hatte, konnte sich retten. Es geht aber auch um die Macht der Worte. Der Rhetorikprofessor bringt es auf den Punkt: Was gut klingt, hat recht. „Am besten täuscht man mit offenen Karten: Man ist, was man lügt.“ Das sagen Gabriel Santoro Vater und Sohn. Wer ist Informant*in, wer Denunziant*in? Wer verrät wen und warum? Was ist wahr, was ist erfunden, was ist Lüge?