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Raus aus der Gewalt

Der Roman „Mein Name ist Sita“ der surinamischen Autorin Bea Vianen
Gert Eisenbürger

Wenn von Literatur aus Südamerika die Rede ist, geht es um belletristische Texte, die auf Spanisch oder Portugiesisch, in jüngerer Zeit auch vermehrt auf Guaraní, Quechua, Aymara oder einer anderen autochthonen Sprache verfasst sind, aber wohl kaum auf Niederländisch. Doch die gibt es sehr wohl, denn in dem im Nordosten des Subkontinents gelegenen Suriname ist Niederländisch Amts-, Unterrichts- und Literatursprache, auch wenn die Mehrheit seiner Einwohner*innen im Alltag die Kreolsprache Sranan-Tongo sowie mehrere asiatische und indigene Idiome spricht.

Über Suriname ist im deutschsprachigen Raum wenig bekannt. Dabei leben in den Niederlanden rund 350 000 Menschen, die dort ihre Wurzeln haben. Ältere fußballaffine Leser*innen werden sich sicher an die Ausnahmekicker Ruud Gullit oder Frank Rijkaard erinnern, die zu den Stars des wunderbaren niederländischen Nationalteams gehörten, das 1988 Europameister wurde. Dass beider Väter bekannte Fußballer in Suriname waren, weiß dagegen kaum jemand.

Eine Besonderheit der surinamischen Gesellschaft ist ihre ethnische Zusammensetzung. Rund 38 Prozent der heute im Land lebenden 600 000 Einwohner*innen haben afrikanische Vorfahren, etwa 28 Prozent indische und 18 Prozent indonesische. Dazu kommen kleinere Gruppen indigener, chinesischer oder europäischer Abstammung. Diese für ein südamerikanisches Land ungewöhnliche Bevölkerungsstruktur (lediglich Surinames Nachbarland Guyana und der karibische Inselstaat Trinidad & Tobago sind ähnlich afro-asiatisch geprägt, allerdings ohne eine indonesische Volksgruppe) ist ein Ergebnis des Kolonialismus. Als 1863 die Sklaverei in Suriname endlich abgeschafft wurde, warb die niederländische Kolonialmacht sogenannte Vertragsarbeiter*innen in Indien und Indonesien an, die zur Bezahlung der Überfahrt mehrere Jahre auf den Plantagen als De-facto-Sklav*innen schuften mussten. Danach erhielten sie einen bescheidenen Lohn. Einige kehrten mit kleinen Ersparnissen nach Asien zurück, die meisten blieben in Suriname und erwarben dort irgendwann ein Stück Land.

Die ethnische Spaltung und die sich daraus ergebenden Konflikte sind eines der Themen des 2021 erstmalig auf Deutsch erschienenen Romans „Mein Name ist Sita“. Dessen Autorin, die 1935 in Surinames Hauptstadt Paramaribo geborene und 2019 in Amsterdam gestorbene Bea Vianen gehört zu den rund 14 Prozent Surinamer*innen, die sowohl afrikanische als auch asiatische, in ihrem Fall indische Vorfahren haben. In der Regel leben die verschiedenen ethnischen Communities nicht miteinander, sondern bestenfalls nebeneinander, oft genug auch gegeneinander, wie Warda El-Kaddour in ihrem Nachwort zu dem Roman schreibt.

Die erzählte Geschichte ist an sich nicht spektakulär, jedoch eröffnen die einzelnen Szenen Blicke auf eine Gesellschaft, die Frauen extrem einschränkt und unterdrückt. S., wie die Protagonistin bis kurz vor Ende des Buches immer nur genannt wird, wächst in einem hinduistischen Elternhaus auf. Ihre Mutter ist zu Beginn des Romans bereits seit einem Jahr verstorben. Ihr Tod bedeutete für die 15-jährige S. einen tiefen Einschnitt. Sie hatte eine starke emotionale Bindung zu der melancholisch-depressiven Mutter, während sich der afroindische Vater kaum für S. und ihre Probleme interessiert. Seit die Halbwaise ist, trägt sie zudem die alleinige Verantwortung für den Haushalt und kümmert sich um ihren kleinen Bruder, wenn der nicht bei seiner Tagesmutter, der Geliebten ihres Vaters, ist.

Die Handlung beginnt Ende der 1950er-Jahre in der Hauptstadt Paramaribo und endet etwa 1965. Suriname ist noch Kolonie der Niederlande. S. besucht eine von holländischen Nonnen geführte Mittel- und später eine Oberschule. Dort kann sie ihren Wissensdurst befriedigen und der häuslichen Enge entfliehen. Sozial ist die schüchterne S. in der Schule eher eine Außenseiterin. Sukhia, ein ebenfalls hinduistisches Mädchen aus der Nachbarschaft, ist ihre einzige Vertraute. Selbstbewusster und unbefangener als S. steht sie dieser zur Seite, als die entsetzt und voller Scham Veränderungen in ihrer Körperlichkeit bemerkt. Umgekehrt profitiert Sukhia davon, dass S. sie bei den Hausaufgaben und beim Lernen unterstützt.

Um herauszufinden, warum sie so einsam ist und ihre Mutter eine tieftraurige Person war, kramt S. in ihrer Familiengeschichte. Ihr Großvater mütterlicherseits war indischer Vertragsarbeiter. Irgendwann entschied er sich, allein nach Indien zurückzukehren. Seine Frau nahm sich daraufhin das Leben. Ihre Tochter, die Mutter von S., wuchs bei einer brutalen, versoffenen Pflegemutter auf. Diese Geschichte macht S. noch ratloser, weil sie nicht versteht, warum die Personen so handelten, wie sie es getan haben, warum der Großvater seine Familie und die Großmutter ihre Tochter allein ließ. S. kommt zu dem Schluss, sich nur auf sich selbst verlassen zu können.

Sukhia und S. werden immer wieder mit männlicher Gewalt konfrontiert, dem zweiten zentralen Thema des Romans. S. wird von ihrem Vater brutal ins Gesicht geschlagen, wenn sie ihm nur widerspricht. Ein anderes Mal wird Sukhia von deren Vater schwer misshandelt, als ihm zugetragen wird, dass seine Tochter sich mit einem Jungen trifft. Während S. und Sukhias Mutter versuchen, den Vater davon abzuhalten, weiter auf das Mädchen einzuschlagen, schauen deren Brüder ungerührt zu. Für sie ist es normal, dass Männer Frauen schlagen, sie werden es später auch tun.

Sukhias Vater ist vor allem empört, weil besagter Junge zwar zur indischen Community gehört, aber Moslem ist. Die oben erwähnte Segregation und das damit verbundene tiefe Misstrauen existiert nicht nur zwischen den verschiedenen Volksgruppen, sondern auch innerhalb derselben, so zwischen indischen Hindus und Moslems oder zwischen den städtischen Afrosurinamer*innen und den Nachfahr*innen der Maroons, der entflohenen Sklav*innen, die überwiegend in den Dörfern der schwer zugänglichen Wälder des Landesinnern leben.1

Trotz der väterlichen Gewalt trifft sich Sukhia weiter mit dem Jungen und wird von ihm schwanger, was zu einem erneuten Tobsuchtsanfall des Vaters führt. Erst als sich Sukhias Freund bereit erklärt, zum Hinduismus zu konvertieren und das Mädchen zu heiraten, glätten sich die Wogen.

Die Heirat und Mutterschaft Sukhias macht S. noch einsamer. Die jungen Frauen bleiben zwar anfangs in Kontakt, aber ihre Lebensentwürfe entfernen sich zusehends. Sukhia zieht mit ihrem Mann in eine andere Stadt, weil er dort einen besser bezahlten Job findet. Sie wird erneut schwanger und bekommt ein zweites Kind. Während sie in der Mutterschaft aufgeht, hat S. den Traum zu studieren, was nur in den Niederlanden möglich wäre. Als sie ihren Vater nach dem bestandenen Abitur darauf anspricht, meint der nur, wenn jemand studieren würde, dann ihr zehn Jahre jüngerer Bruder. Damit ist das Thema für ihn erledigt.

Weil S. nicht weiß, was sie nun machen soll, und weil es alle tun, gibt sie dem Drängen eines jungen Mannes nach, der ihr schon länger nachstellt. Da auch er Moslem ist, treffen sie sich heimlich. Ihre „Beziehung“ besteht vor allem darin, dass er sie zu sexueller Verfügbarkeit nötigt, was sie eigentlich nicht möchte, aber über sich ergehen lässt. Als sie schwanger wird, flieht sie aus dem Haus ihres Vaters, heiratet überstürzt nach muslimischem Ritus. Mit ihrer Ehe tauscht sie nur ein Gefängnis gegen ein anderes ein. Der Typ verlangt von ihr, dass sie ihm in jeder Hinsicht zu Diensten ist, auch sexuell. Wenn sie nicht möchte, vergewaltigt er sie. Auch die Geburt ihres Sohnes ändert nichts an der fatalen Konstellation.

Die einzige Person, die S. beisteht, ist eine alte Freundin der Familie. Sie kümmert sich oft um den Kleinen und ermöglicht es S., eine Arbeit anzunehmen. Erst dadurch findet diese die Kraft, sich von ihrem Mann zu trennen. Sie weiß, dass sie weg muss, wenn sie frei, wenn sie nicht mehr S., sondern Sita sein will. Mühsam spart sie sich das Geld für ein Schiffsticket nach Holland zusammen. Doch sie kann nur ausreisen, wenn ihr Mann der Scheidung zustimmt, sie vor Zeugen verstößt. Dazu ist er nur bereit, wenn sie ihm den gemeinsamen Sohn überlässt. Am Ende stimmt Sita zu und lässt alle hinter sich zurück, ihr Kind, ihren geliebten kleinen Bruder, den Vater, mit dem sie gerade so etwas wie eine Beziehung aufbauen konnte. Auch wenn sie voller Schuldgefühle ist, sieht sie nur diesen einen Weg, um zu überleben.

Bea Vianens 1969 erstmals erschienener Roman ist radikal. Er beschönigt nichts, spricht klar aus, dass Befreiung für eine Frau im Suriname der frühen 60er-Jahre nur im vollständigen Bruch mit ihrem familiären und sozialen Umfeld möglich war. Für Sita gibt es keine Vorbilder, sie muss ihren Weg allein und unter großen Schmerzen selber finden.

Weil sie in ihrem Buch, dem ersten surinamischen Roman überhaupt, mit allen von den klassischen Frauenrollen bestimmten Konventionen brach, wurde Bea Vianen für viele Surinamerinnen, aber auch Niederländerinnen zum Vorbild. „Mein Name ist Sita“ stieß bei seinem Erscheinen 1969 in beiden Ländern auf große Resonanz, aber natürlich auch auf Widerspruch. Die Afrosurinamerin Astrid Roemer (Jg. 1947), die wichtigste zeitgenössische Autorin ihres Landes und in den Niederlanden eine Ikone der queer-feministischen Literaturszene, betonte mehrfach die Bedeutung Bea Vianens für ihr eigenes Schreiben.

Es ist sehr erfreulich, dass der Transit-Verlag, der auch Anton de Koms Klassiker „Wir Sklaven von Suriname“ (vgl. Besprechung in der ila 462) im Programm hat, Bea Vianens Roman veröffentlicht hat. Nicht auf vertraute Namen und aktuelle Trends zu setzen, sondern einen über 50 Jahre alten Erstling einer hierzulande völlig unbekannten Autorin herauszubringen, bedeutet sicher ein verlegerisches Wagnis. Es ist zu hoffen, dass dieses außergewöhnliche Buch viele Leser*innen findet und der Verlag weitere so spannende Entdeckungen präsentieren kann.

  • 1. Die Widersprüche in der Afro-Community führten in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre zu einem brutal ausgetragenen bewaffneten Konflikt zwischen der Armee Surinames und dem aus den Nachfahr*innen der Maroons gebildeten „Dschungelkommando“. Dabei ging es sowohl um die fehlende Repräsentanz des Landesinneren in den öffentlichen Institutionen als auch um die Kontrolle des Drogenhandels.