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Wir sollten niemals allein kämpfen

Ein selbstverwalteter Markt wird zum sozialen und kulturellen Zentrum

Im Viertel Santa Rita in der kolumbianischen Karibikstadt Cartagena hatte eine Vereinigung von lokalen Händler*innen auf einem ehemaligen Grundstück der Jesuiten einen Markt errichtet. Irgendwann wurde die Markthalle baufällig. Im Jahr 2014 organisierten sie sich neu, damit der Markt instandgesetzt oder ein neuer gebaut wird. Unterstützt wurden sie dabei von der Stadtteilorganisation FUNSAREP. Sie schulte die Händler*innen in Grundlagen des Planungsrechts und der Planungsmethoden. Dagegen stand das Interesse der großen Supermarktketten. Ein Jahr später errichtete die Stadt ein neues Gebäude. Aber erst 2019 wurde der Markt nach vielen Demonstrationen, trotz Bedrohungen und Bestechungsversuchen, als selbstverwalteter Gemeindemarkt neu eröffnet. Bei einem Besuch im Dezember 2022 erzählt Mari Giraldo, Sprecherin der Händler*innen, von ihrem langjährigen Kampf.

Mari Giraldo

Der Markt von Santa Rita ist ein Vorbild, ein Beispiel für friedlichen Widerstand. Er zeigt, was man mit dem Gesetz und den Bestimmungen, die einen schützen, erreichen kann, wenn man zusammenhält. Mitten in den Auseinandersetzungen haben wir mit FUNSAREP (Fundación Santa Rita para la Educación y Promoción) darüber geredet, wo es erfolgreiche Erfahrungen anderer Marktorganisationen gibt, von denen wir lernen können. Uns interessierten auch gescheiterte Versuche, um zu verstehen, warum sie keinen Erfolg hatten, etwa weil die Verhältnisse zu ungerecht oder die Personen zu passiv waren. Wir bekamen die Möglichkeit, nach Quito in Ecuador zu fahren. Ein Markt dort wurde so zu einem Modell für den von Santa Rita.

Dass wir heute hier verkaufen können, hat viele Mühen gekostet. Nicht nur uns, sondern auch unsere Vorgängerinnen. Im Jahr 2013 mussten wir den Markt Hals über Kopf verlassen. Geplant war ein Neubau des Marktes. Wir hatten dem damaligen Bürgermeister einen Vorschlag unterbreitet, da das Gebäude einzustürzen drohte. Auf manche Händlerinnen waren schon Bauteile hinuntergefallen, sie mussten im Krankenhaus behandelt werden. Es war nicht einfach, Leute zu finden, die einen Wiederaufbau des Marktes für möglich hielten. Die Pfarrei, FUNSAREP, die Stiftung EntreSeres, Corpobolívar (Dachverband der staatlichen Unternehmen von Bolívar) und vor allem die Händlerinnen und Händler des Marktes mussten davon überzeugt werden.

Wir hatten als Vereinigung der Händler*innen Schulden von 100 Millionen Pesos (zum damaligen Umrechnungskurs knapp 30 000 Euro, dreihundert Euro pro Mitglied) und keinen Peso in der Kasse. Die Leute machten uns verantwortlich für den vorherigen vergeblichen Versuch, das Gebäude instand zu setzen. Ihr habt die Vereinbarungen nicht erfüllt, sagten sie mir. Gebt uns eine letzte Chance, bat ich sie. Als erstes mussten wir auf einen Schlag umgerechnet 3000 Euro bekommen, die man als erste Rate für die Abzahlung der Schulden verlangte. Ich vertraue auf das Kollektiv, dass wir uns gegenseitig unterstützen. Man muss wissen, wenn die Nachbarin Zahnschmerzen hat. Doch diese Überzeugung ist heute vielerorts verloren gegangen. Wir verkauften Suppe, belegten Brote, alle gaben das, was sie erübrigen konnten. Wir brachten das Geld zusammen und dachten uns: Wenn wir das geschafft haben, schaffen wir den Rest auch noch. Wir teilten uns auf. Am ersten Tag verkauften die Obsthändlerinnen Teigtaschen, danach kamen die Fleischer*innen dran. Die Händler*innen abgepackter Nahrungsmittel organisierten eine Lotterie. Ich glaube so etwas nennt man solidarische Kreislaufwirtschaft. Das ist Teamarbeit. Den Kaffee, den ich hier trinke, hat irgendjemand produziert. Jemand anderes hat den Becher hergestellt.

Heute haben wir sogar zwei Stockwerke, mit Parkplatz und Laderampe. Jede Produktgruppe hat ihre eigene Verkaufszone. Wo Obst und Gemüse verkauft werden, muss die Farbenvielfalt der Früchte die Kund*innen einladen. „Casera“ (Stammkundin), rufen sie, ich habe dies oder jenes für dich. Auch wenn das nicht mehr so häufig wie früher geschieht und wir etwas verschlossener geworden sind. Besser gesagt: Wir wurden eingeschlossen von einem System, das die Bevölkerung nicht eint, sondern spaltet. Das sieht man sogar hier im Markt von Santa Rita. Die Stände gleichen eher Käfigen. Von außen sieht er mehr aus wie eine Lagerhalle als ein Markt.

Ich bin auf einer kleinen Finca im Osten von Antioquia aufgewachsen und war glücklich dort. Kohl, Tomaten, Salat, alles, was man brauchte, war da. Mein Vater stand früh auf, um auf den Acker zu gehen und ich begleitete ihn. Es ist schön, die Möhren aus der Erde zu ziehen. Mit meinen Geschwistern stritt ich darum, wer die größte geerntet hatte. Jeden Sonntag brachte mein Vater seine Säcke mit den Produkten zum Markt am Hauptplatz der Gemeinde. Damals gab es noch nicht die Zwischenhändler, die alles aufkauften. Wer Kartoffeln kochen wollte, holte sie sich vom Bauern direkt auf dem Markt. Manchmal nahmen sie gleich alle Kartoffeln mit, die mein Vater auf den Markt gebracht hatte. Ich selbst begleitete meine Großmutter bei ihren Einkäufen. Das Zuckerbrot wurde noch in den Blättern des Zuckerrohrs verkauft. Oder diese großen Erdbeeren! Als ich 15 Jahre alt war, wurde ich durch den bewaffneten Konflikt von dort vertrieben.

In der Stadt ist alles Zement. Man muss für alles kämpfen. Ich kam auf den Markt und kannte niemanden. Keiner kümmerte sich darum, wenn du hinfielst. Es war so, als ob ich ein steckengebliebenes Boot fortbewegen sollte, ohne Ruder. Das war noch im Viertel Gethsemane. Wir Händler*innen waren Dreck für die Leute. Mit dem Stadtentwicklungsplan wurden wir nach Santa Rita verschoben. Und dieser Plan geht weiter. Nur fünf Straßenecken von hier stehen schon Hochhäuser. Es gibt andere Interessen. Der Tourismus soll gefördert werden. Angeblich geht es um den Schutz des Kulturguts. Aber dahinter stehen Investitionen und Gewinne, die damit gemacht werden.

Vom Popa-Berg werden die Leute in neue Siedlungen verbracht. Man hat ihnen ein besseres Leben versprochen, aber die sozialen Bindungen vergessen. Leute von außen denken schnell, wir im Viertel seien zu faul und ungebildet. Von wegen! Ich ziehe meinen Hut vor diesen Männern, die unter der brennenden Mittagssonne die Straße reparieren. Oder vor den Frauen, die auf der Straße und am Strand ihr Obst verkaufen. Es ist Zeit, ihnen Anerkennung zu zollen. Die Kinder von vielen Händlerinnen haben inzwischen einen Beruf erlernt. Meine Tochter ist Grafikdesignerin. Es gibt Psychologinnen, Sozialarbeiterinnen, Näherinnen, Gesundheitspromotorinnen, andere haben ein Studium der Philosophie oder der Betriebswirtschaft absolviert.

Diejenigen, die hier aufgewachsen sind, werden in Santa Rita immer weniger. Ich kann mich noch an eine Disco erinnern, die es hier vor 25 Jahren gab und „El Gavilán“ hieß. Zu Fuß sind wir dorthin und morgens früh, um vier oder fünf Uhr, wieder barfuß mit den Schuhen in der Hand zurückgegangen. Damals war alles sicher und wir kamen gut nach Hause. Die Leute kannten uns und passten auf uns auf. Die Nachbarschaft war wie eine große Familie. Der Zusammenhalt im Markt hat mich gelehrt, das alles wertzuschätzen. Heute ist es undenkbar, dass Jugendliche mitten in der Nacht unbehelligt durchs Viertel ziehen. Es kommen immer mehr Leute von außerhalb, die das nachbarschaftliche Gefüge nicht kennen. Wie viel ist dein Haus wert, werden alte Frauen gefragt. Jeder kann sein Haus verkaufen. Aber haben diese Menschen eine Vorstellung davon, was das Haus für diese alte Frau bedeutet, die ihr ganzes Leben darin verbracht hat, wo sie ihre Kinder und Enkelkinder hat aufwachsen sehen? Dort hat sie Wurzeln geschlagen, die ihr jetzt Kraft geben. Dort will sie auch sterben.

Früher hatte jede Gemeinde ihren lokalen Markt. In der Zwischenzeit wurden die Märkte modernisiert. In Santa Rita durften wir eine Zeit lang nicht in den Markt. Man benötigte die Genehmigung der Stadtverwaltung und die ließ uns lange warten. Wir reichten Petitionen ein, nichts passierte. Wir kämpften für die Renovierung. Das wurde anfangs abgelehnt. Wir taten uns mit anderen Basisorganisationen aus Cartagena, vor allem Nachbarschaftskomitees zusammen. Wir sollten niemals alleine kämpfen. Wir hatten uns vorgenommen, so lange zu kämpfen, bis wir wieder auf dem Markt verkaufen könnten. Als wir nach sechs Jahren den Markt besetzt haben, hatten wir Leibwächter dabei. Es fühlte sich wie fremdes Territorium an. Viele unserer Kolleginnen waren draußen schon Pleite gegangen, andere lebten gar nicht mehr.

Trotzdem sieht der Markt heute ganz ansprechend aus. Er ist zum Zentrum des Geschehens im Viertel geworden, ein Ort, an dem Frauen in Würde ein Einkommen erwirtschaften können, auch wenn die Geschäfte schwieriger werden. Er ist nicht nur ein Ort zum Verkaufen, sondern auch ein Zentrum der Kultur. Frauen verkaufen ihr Kunsthandwerk. Im Januar organisieren wir das Festival des gebratenen Essens, in der Karwoche das Festival der Süßigkeiten. Wir feiern den Muttertag oder den Tag der Afrokolumbianier*innen mit kulturellen Aktivitäten. Alle Kulturgruppen aus dem Viertel können hier ihr Talent beweisen. Es gibt einem Restaurantbereich, der auch als Tribüne für das daneben liegende Sportfeld dient. Wenn dort ein Wettbewerb stattfindet, können die Leute von hier zuschauen, ihr Bierchen trinken und etwas essen.

Die Kinder kommen, um hier zu lernen. Es gibt Lesegruppen und wir träumen davon, einen Kindergarten einzurichten. Viele der Verkäuferinnen wissen nicht, wo sie ihre Kinder lassen sollen, wenn sie am Stand stehen. Ihre Einnahmen reichen nicht, um ein Kindermädchen zu bezahlen. Mit einem Kindergarten wäre der Markt komplett. Noch haben wir also nicht alles erreicht. Wir kämpfen weiter.

Den Bericht von Mari Giraldo hat Peter Strack im Dezember 2022 in Cartagena aufgezeichnet.

Siehe auch den Beitrag von Peter Strack zur Markthändlerin Mama Grande in Latinorama: https://blogs.taz.de/latinorama/die-mama-grande-von-santa-rita/