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Soziale Instrumente

Chico, Repique und Piano – die unüberhörbaren Symbole des afrouruguayischen Erbes

Wollte jemand den typischen Sound eines der vielen Barrios Populares der uruguayischen Hauptstadt beschreiben, so käme ihr oder ihm vieles in den Sinn: das Bellen der unzähligen Hunde; die sich stetig wiederholenden Jingles, die die Ankunft eines Lieferwagens mit Gasflaschen ankündigen; das Knattern kleiner Motorräder chinesischer Provenienz und manches mehr. Eines dürfte aber kaum fehlen: der typische Klang von Chico, Repique und Piano, den drei Trommeln des Candombe. Vor allem am Wochenende versammeln sich abends an vielen Orten Montevideos die Leute, um gemeinsam durch die Viertel zu ziehen und dabei Candombe zu spielen und zu tanzen.

Wolfgang Ecker

Auf den ersten Blick mag es paradox erscheinen. In einer Gesellschaft, deren hegemoniales Selbstbild auf das europäische Erbe verweist wie in kaum einem anderen lateinamerikanischen Land, ist eine Kultur allgegenwärtig, die auf versklavte Menschen aus Afrika zurückgeht – zumal der Anteil der afrouruguayischen Bevölkerung gering ist und rassistische Zuschreibungen und Ausgrenzungen durch die weiße Mehrheitsgesellschaft bis heute anzutreffen sind. Afrouruguayische Menschen sucht mensch in den politischen, wirtschaftlichen und akademischen Eliten des Landes zumeist vergeblich. Andererseits wurde der Candombe auf Antrag der uruguayischen Regierung 2009 von der UNESCO zum „immateriellen Weltkulturerbe“ erklärt.

Das Besondere am Candombe ist“, erklärt Javier Silva, „dass er die einzige autochthone Musik Uruguays ist. Die Milonga und der Tango sind beiderseits des Río de la Plata entstanden. Aber der Candombe wurde hier geboren, hier im Barrio Sur von Montevideo.“ Javier Silva arbeitet in der Asociación Cultural Cuareim 1080, im Zentrum des Viertels gelegen und einer der wichtigsten Referenzpunkte für die Geschichte des Candombe. „Das Barrio Sur ist die Wiege der afrouruguayischen Kultur. Außerhalb der befestigten Altstadt, am Ufer des Río de la Plata, trafen sich an den Sonntagen, an denen sie nicht arbeiten mussten, die Sklav*innen, die aus Afrika verschleppt worden waren. Die Trommeln riefen die Menschen zusammen. Das Wort „rufen“ (spanisch: llamar) ist in dem Begriff Llamada enthalten, mit dem die Candombeumzüge im Karneval bezeichnet werden. Die Trommeln waren das Mittel, um eine Gemeinschaft zu bilden zwischen Menschen, die aus unterschiedlichen Regionen Afrikas kamen. Man machte zusammen Musik, tanzte, kommunizierte, feierte, trotz der schrecklichen Lebensbedingungen. Für mich ist Candombe zu spielen ein Ausdruck der Freude.“

Die Geschichte des Candombe, seine Entstehung aus verschiedenen kulturellen Einflüssen, seine Transformationen und Formalisierungen, die in der zeitgenössischen Präsentation mündeten, ist mittlerweile Gegenstand einer Vielzahl von Publikationen. Hinzu kommt: Die Musik ist nur ein Teil des Candombe. Die Trommelformation, Cuerda de Tambores, bildet lediglich ein Segment einer kompletten Comparsa. Der Tanz und bestimmte Kostüme und Symbole spielen eine ebenso bedeutende Rolle (siehe auch „Candombe ist viel mehr als Karneval“ in ila 422). Vor allem die Darstellung der auf afrouruguayische Riten und Religionen zurückgehenden Personen, die Mama Vieja, der Gramillero und der Escobero, bilden das Herzstück jeder Comparsa. Auch die Art, wie sich die Mitglieder der Cuerda de Tambores vorwärts bewegen, ist eine Anspielung auf die Geschichte der Sklaverei: in kleinen Schritten, als wären die Füße mit Ketten aneinandergefesselt. Es bedarf jedoch nicht viel Phantasie, um den Ursprung der Instrumente wiederzuerkennen. Die bauchige Form ist charakteristisch, wie auch die Herstellung aus gebogenem Holz, das von Metallringen zusammengehalten wird. „In Ermangelung der traditionellen Instrumente“, bemerkt Javier Silva, während er drei Trommeln in die Mitte des Raumes stellt, „waren die ersten Trommeln des Candombe Holzfässer, in denen Waren in den Hafen von Montevideo gebracht wurden. Nach und nach wurden sie modifiziert. Handwerker fingen an, eigens Trommeln anzufertigen, wie wir sie heute kennen: Chico, Repique und Piano. Ursprünglich gab es eine vierte Trommel, die Bombo, die aber heute praktisch verschwunden ist.“

Das Holz – heute zumeist von Pinien – gibt den Trommeln den weichen Klang. Damit unterscheiden sie sich grundsätzlich von denen der Samba, die vornehmlich aus Metall hergestellt werden. Außerdem sind die Trommeln sehr stabil. „Wenn du eine Trommel bei einem Trommelbauer bestellt hast und sie abholst“, berichtet Javier Silva, „dann stellt er sie dir wahrscheinlich mit Wucht vor die Füße und sagt: ‚Die hast du jetzt dein Leben lang.‘ Und das stimmt. Das einzige, was hin und wieder erneuert werden muss, sind die Felle aus Rinderhaut.“

Und weiter: „Im Prinzip haben sich die Instrumente in den letzten Jahrzehnten nicht mehr verändert. Es gibt zwar die technische Neuerung, dass moderne Trommeln einen mechanischen Stimmmechanismus haben. Bei den alten ist das Fell nur genagelt. Das hat zur Folge, dass die Trommeln zunächst vor einem offenen Feuer auf der Straße aufgewärmt werden müssen, damit sie die richtige Stimmung haben.“ Schmunzelnd fügt er hinzu: „Eine Praxis, die in reicheren Gegenden nicht gern gesehen wird.“

Neben dem Material und der Form ist auch die Spielweise der Trommeln spezifisch. Meist werden sie gleichzeitig mit einer offenen Hand beziehungsweise dem Handballen und einem Holzstock gespielt, hinzu kommen Schläge auf den Holzkorpus. Jede der drei Trommeln wird in einem individuellen Grundrhythmus gespielt, auf dessen Basis variiert wird. Heute wird zwischen drei Stilen des Candombe unterschieden, die vor allem in der Geschwindigkeit des Spiels differieren und ihren Ursprung in den afrouruguayischen Communities dreier benachbarter Stadtviertel haben: Cuareim (Barrio Sur), Ansina (Palermo) und Cordón (Cordón Sur).

Im Zusammenspiel erfüllen die Trommeln unterschiedliche Funktionen“, erläutert Javier Silva. „Die Chico-Trommel hat den härtesten, höchsten Ton, der Rhythmus ist am einfachsten zu identifizieren. Die Piano ist die tiefste, ihre Rolle ist, um eine Analogie zur Rockmusik zu geben, die des Basses. Die Repique liegt dazwischen, sie ist in der Spielweise die ‚freieste‘ Trommel, sie variiert am stärksten. Wichtig ist, dass die Trommeln miteinander kommunizieren. Das ist das Schöne daran, es sind soziale Instrumente. Würde ich hier im Viertel alleine mit einer Trommel auf der Straße spielen, würden mich die Leute für verrückt halten. Um Candombe zu spielen, braucht es immer mindestens drei Personen, es braucht Chico, Repique und Piano

Der heutigen Popularität des Candombe in der weißen Mehrheitsgesellschaft liegt eine widersprüchliche Geschichte zugrunde. Vieles deutet darauf hin, dass der Candombe in den Barrios Populares in Altstadtnähe schnell Teil der Alltagskultur auch der europäischstämmigen Menschen wurde. Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts kennt das uruguayische Spanisch den Begriff Lubolo. Damit werden weiße Menschen bezeichnet, die sich Gesicht, Hals und Ohren schwarz färbten, wenn sie sich einer Comparsa anschlossen. Schon früh entwickelten sich komplette Comparsas lubolas, die sich vollständig aus Weißen zusammensetzten.

Der Anteil des Candombe an der Entstehung der Milonga und des Tangos ist historisch unumstritten. Gleichzeitig spiegeln zeitgenössische Beschreibungen und Darstellungen, wie die berühmten Candombe-Bilder des uruguayischen Malers Pedro Figari, einen distanzierten, folklorisierenden Blick von Seiten des städtischen Bürgertums wider.

Zur wachsenden Beliebtheit des Candombe in breiten Gesellschaftsschichten dürften vor allem die Llamadas während des Karnevals beigetragen haben. Im Jahr 1953 gründete sich im Barrio Sur mit der Formation Morenada die erste „moderne“ Comparsa, mit aufwändig gestalteten Kostümen, komplexen Trommelarrangements und Tanzchoreografien, der bald weitere aus anderen Stadtvierteln folgen sollten. Ebenso begannen in den 1960er-Jahren weiße Kulturschaffende des sich entwickelnden Canto Popular, Elemente der Candombemusik für sich zu entdecken. Rassistische Vorbehalte gegen die afrouruguayische Bevölkerung und deren Kultur verschwanden indes keineswegs. Vor allem während der zivil-militärischen Diktatur (1973-1985) wurde sie Opfer gezielter Repression. Exemplarisch sei hierfür das Schicksal des Conventillo Mediomundo genannt, das bis heute als historisches Zentrum der afrouruguayischen Kultur im Barrio Sur angesehen wird. Schätzungen zufolge lebten bis zu 500 Personen in der Mietskaserne, die sich während der Diktatur zu einem Ort der Widerständigkeit entwickelte. Am 3. Dezember 1978 ließ die Regierung das Gebäude räumen, nur zwei Tage später wurde es abgerissen.

Javier Silva sitzt vor großen Replikaten historischer Fotos des Mediomundo und erklärt: „Die Absicht der Militärs war klar. Sie wollten die afrouruguayische Kultur zerschlagen. Aber es hat nicht funktioniert, im Gegenteil. Die Leute aus dem Barrio Sur waren gezwungen, eine neue Bleibe zu suchen. Deshalb gingen sie in andere Stadtviertel. Und sie nahmen ihre Kultur und ihre Trommeln mit. In vielen Stadtvierteln steht das Aufblühen des Candombe nach dem Ende der Diktatur mit Personen in Zusammenhang, die damals aus dem Mediomundo vertrieben wurden.“

Auf kritische Stimmen angesprochen, die in der Popularisierung des Candombe die Gefahr einer Vereinnahmung durch die weiße Mehrheitsgesellschaft sehen, schüttelt Javier Silva den Kopf. „Die Trommeln sind für mich auch ein Symbol der Emanzipation. Sie sagen: ‚Wir sind hier!‘ Niemand kann mehr behaupten, dass wir nicht Teil der uruguayischen Kultur sind. Wenn ich mit anderen zusammenspiele, ist mir deren Hautfarbe egal. Allerdings verlange ich Respekt vor den Instrumenten. Es ärgert mich, wenn ich sehe, dass sich Leute treffen, um zusammen Wein zu trinken, und als Vorwand die Trommeln mitnehmen, um während des Trinkens ein paar Mal darauf rumzuklopfen. Wer Wein trinken möchte, soll das tun. Aber wer Candombe spielen möchte, soll das bewusst machen. Alles andere ist eine Respektlosigkeit.“

Fünf Kilometer westlich des Barrio Sur liegt der Stadtteil Villa del Cerro, die ehemalige Schlachthofvorstadt. Ab Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Villa zu einem Anziehungspunkt europäischer Arbeitsmigration. Auch die Vorfahr*innen von Andrés Dematey kamen aus Italien, um sich hier niederzulassen. Er leitet die jüngste Comparsa des Viertels – die 2016 gegründete Picapiedra. „Candombe begeistert mich seit meiner Jugend. Ich habe in einer Vielzahl von Comparsas mitgespielt, in den verschiedensten Vierteln. Jedes Mal lerne ich etwas dazu. Das möchte ich hier weitergeben. Dazu gehört auch, den Menschen die Tradition des Candombe zu vermitteln. Wir spielen hier Ansina, den Stil, der sich in Palermo entwickelt hat. Candombe hat in unserem Viertel durchaus eine Tradition, in den sechziger Jahren hatten wir mehrere bekannte Comparsas. Der Bruch kam 1973. Es dauerte bis 1989, bis sich wieder Gruppen formierten. Heute haben wir wieder drei Comparsas, die auch an den Llamadas im Karneval teilnehmen.“

Knapp 80 Personen umfasst die Picapiedra an diesem Samstagabend, die Hälfte davon stellt die Cuerda de Tambores. Ins Auge fällt die Heterogenität. Der jüngste Trommler dürfte gerade einmal fünf Jahre alt sein, die Darstellerin der Mama Vieja um die 70. Bei einigen der jungen Erwachsenen verraten Haarschnitt, Piercings und Tattoos, dass sie sich sonst in anderen kulturellen Sphären bewegen. Andrés Dematey freut sich darüber: „Unsere Türen stehen für alle offen. Wenn jemand mitspielen möchte, sich aber keine Trommel leisten kann, leihen wir ihm eine. Die Gründung der Picapiedra ging auf Leute aus dem Umfeld des Fußballvereins Rampla Juniors zurück. Picapiedra ist der Spitzname des Klubs, dessen Räumlichkeiten wir benutzen können. Allerdings wollten wir von Beginn an das Image vermeiden, eine Comparsa des Klubs zu sein, damit auch Anhänger*innen anderer Vereine zu uns kommen.“ Die Comparsa ist nicht nur wichtig für die Leute, die mitmachen. „Hier gibt es nicht viele kulturelle Angebote“, erzählt Dematey. „Für manche ist unsere Aktivität eine willkommene Ablenkung. Außerdem ist der Candombe auch ein Mittel, um Solidarität zu organisieren. Zum Beispiel gibt es Ende des Monats einen Umzug mit zwölf Comparsas. Dort wird Geld für eine Frau aus dem Viertel gesammelt, deren Tochter eine Krebstherapie benötigt.“

Auch unabhängig vom sozialen Kontext ist in den vergangenen Jahrzehnten das Interesse an der Musik und den Instrumenten des Candombe gestiegen. In Deutschland dürfte einigen die Musik des afrouruguayischen Jazz- und Rockpioniers (und Grammy-Preisträgers) Rubén Rada bekannt sein, der in Palermo aufwuchs. Mittlerweile integriert eine Vielzahl lokaler Jazz- und Popbands Elemente des Candombe in ihre Musik, inklusive der traditionellen Instrumente, und trägt so zu deren weiterer Popularisierung bei. Darüber hinaus sind neue Subgenres entstanden, die sich explizit auf die Musik des Candombe beziehen. Ein Beispiel ist das Electro-Candombe-Projekt „F5“, das aus der Kooperation mehrerer Montevideaner DJs mit Musiker*innen aus dem Umfeld der Asociación Cultural Cuareim 1080 entstanden ist und den Klang der Trommeln in die Clubs der Städte tragen möchte. Denn auch bei den Aufnahmen und Auftritten von „F5“ dürfen, neben jeder Menge Elektronik, drei Dinge auf der Bühne nicht fehlen: Chico, Repique und Piano

Auf den Straßen Montevideos – eine Cuerda in Aktion: https://www.youtube.com/watch?v=YcHLY_YAhbM&ab_channel=Maju215

So werden Chico, Repique und Piano gespielt: https://www.youtube.com/watch?v=FeYgO5RSev0&ab_channel=MARIOIPUCHE