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Ein gewisser Geist der Rebellion

Interview mit drei Berliner Gorillas-Rider*innen aus Chile und Mexiko

Der neue Lieferdienst Gorillas betreibt seinen aggressiven Expansionskurs buchstäblich auf dem Rücken der Fahrradkurier*innen. Aber in Berlin stößt er auf Gegenwehr. Im Februar legten die Rider*innen wegen der unzumutbaren Wetterbedingungen die Arbeit nieder. Danach organisierten sie sich als Gorillas Workers Collective und bereiteten die Gründung eines Betriebsrates vor. Zur Betriebsversammlung am 3. Juni konnten sie mehr als 200 Kolleg*innen mobilisieren. Ihre bislang spektakulärste Aktion war der spontane Streik am 8. und 9. Juni mit Blockaden von Gorillas-Standorten, für die Wiedereinstellung ihres gekündigten Kollegen Santiago und die Abschaffung der sechsmonatigen Probezeit. Noch vor diesen Ereignissen haben wir Ende Mai mit Carlos und Gladys aus Chile sowie Dario aus Mexiko (Namen geändert) über die Arbeit und die Organisierung bei Gorillas gesprochen

Alix Arnold

Ein Kollege meinte mal, dass die Verkehrssprache bei Gorillas in Berlin eigentlich Spanisch sein müsse, weil 60 bis 70 Prozent der Rider*innen aus Lateinamerika oder Spanien kommen. Was sind die besonderen Bedingungen für euch aus Lateinamerika?

G: Die meisten arbeiten mit dem sogenannten Working Holiday Visum, das sich in letzter Zeit immer mehr ausbreitet. Es gilt für ein Jahr und ist Teil der Prekarisierung, denn innerhalb dieses Jahres kannst du nur sechs Monate bei demselben Unternehmen beschäftigt sein. Danach musst du den Arbeitgeber wechseln. Das schafft billige Arbeitskräfte und führt zu hoher Fluktuation.

Wie habt ihr es trotzdem geschafft, bei der Eiseskälte im Februar kollektiv die Arbeit niederzulegen?

C: Eine von denen, die das angestoßen haben, kommt aus Argentinien. Ich glaube, es gibt bei den Leuten aus Chile oder Argentinien einen gewissen Geist der Rebellion, weil es dort in den letzten Jahren viele soziale Bewegungen gab. Mit diesem Bewusstsein sind die Leute hergekommen. Viele von uns, die an dem Streik und der folgenden Organisierung beteiligt waren, haben einen europäischen Pass oder sind wie ich zum Studieren hier. Dadurch sind wir in einer etwas sichereren Position. Für mich war die Motivation für die Organisierung auch, eine Struktur zu schaffen für diejenigen, die gezwungenermaßen in dieser Prekarität arbeiten. Ich bin schon länger hier und konnte nicht Teil von dem sein, was in Chile seit 2019 passiert. Aber ich habe ein großes Bedürfnis, mich politisch einzumischen und bessere Lebensbedingungen durchzusetzen an dem Ort, wo ich bin. Die Arbeit ist sehr anstrengend, aber immerhin gibt es die Möglichkeit, sich zu organisieren. Das gibt dem Ganzen einen Sinn und mir die Motivation, diese Arbeitsbedingungen auszuhalten.

Wie organisiert ihr euch? Ihr seid auf 14 verschiedene Standorte verteilt, von denen aus ihr für die Lieferungen startet. Gibt es Verbindungen zwischen diesen sogenannten Warehouses?1

D: Bei dem Streik im Februar hatte ich den Eindruck, dass die meisten aus vier oder fünf eher zentral gelegenen Warehouses kamen. Von da an haben wir versucht, Verbindungen zu den anderen herzustellen. Uns fehlen noch Kontakte zu den erst vor Kurzem eröffneten Warehouses.

C: In Moabit haben wir jetzt Leute, weil einer von uns dorthin versetzt wurde. Es ist schwierig, überall Kontakte zu bekommen, weil sie sehr expandieren, nicht nur in Berlin. Aber wir haben Treffpunkte geschaffen. Wir haben einen Telegram-Kanal, das ist unser wichtigstes Kommunikationsmittel, das wir mit Aufklebern in allen Warehouses bekannt gemacht haben. Vorher lief viel über persönliche Netze und Freundschaften. Viele von uns haben schon in verschiedenen Warehouses gearbeitet, weil die Firma uns viel rumgeschickt und auch die Möglichkeit gegeben hat, an verschiedenen Orten zu arbeiten. Das hat eine gewisse Basis geschaffen, von der wir ausgehen konnten.

Wie verständigt ihr euch mit den Kolleg*innen aus anderen Ländern, mit anderen Sprachen?

G: Die offizielle Sprache bei der Arbeit ist Englisch, aber viele sprechen das nicht so gut. Die Belegschaft ist sehr multikulturell. Wir haben Einiges übersetzt, auf Türkisch, Arabisch oder Spanisch, um mehr Leute zu informieren über die Prozesse, die im Gorillas Workers Collective laufen, aber auch über Rechte in Deutschland. Es ist wichtig, die Rechte bei der Arbeit zu kennen, zum Beispiel die Lohnfortzahlung bei Krankheit.

Wie sehen die Arbeitsbedingungen aus, was sind die größten Probleme?

C: Die meisten von uns sind in der Probezeit von sechs Monaten, in der sie uns ohne Grund entlassen können. Das ist Teil der Prekarität. Sich zu organisieren ist also ziemlich riskant. In dem Chat, mit dem wir die Arbeit für Gorillas koordinieren, haben einige sich kritisch geäußert. Eine dieser Personen wurde entlassen, ohne Angabe von Gründen. Glücklicherweise war die Kündigung in diesem Fall formal nicht korrekt. Mithilfe eines Rechtsanwaltes konnten wir sie rückgängig machen. Das war der Startschuss dafür, die Organisierung der Betriebsratswahl anzugehen.

D: Mich treffen die gesundheitlichen Probleme nicht ganz so stark, weil ich nur halbtags arbeite. Aber meine Kollegen, die ganztags arbeiten und schon länger als einen Monat dabei sind, haben alle chronische Rückenschmerzen. Das ist ein heftiges Problem. Und der Lohn ist viel zu niedrig. Das ist keine Entschädigung für diese Arbeit. Außerdem bekommen die ersten etwa 100, die der Betrieb eingestellt hat, 12 Euro. Aber wir, die später angefangen haben, bekommen nur 10,50 Euro für die gleiche Arbeit. Wir müssten alle viel mehr verdienen, so um die 15 bis 17 Euro pro Stunde. Und dann die Unsicherheit des Arbeitsplatzes.

G: Zu diesen drei großen Punkten will ich noch einige hinzufügen. Ich hatte einen Arbeitsunfall. An einem regnerischen Tag bin ich gestürzt, auf einer dieser Kopfsteinpflasterstraßen hier in Berlin. Mit einer Knieverletzung war ich 20 Tage arbeitsunfähig. Sie haben mir nur die Hälfte des Lohnes bezahlt. Von einigen Kollegen habe ich Ähnliches mitbekommen. Ich habe ein bestimmtes Formular des Betriebs ausgefüllt und eine Mail an den einzigen Kommunikationskanal geschickt, den sie für uns haben, den berühmten Riders Support. Egal, was du für ein Problem hast, immer sollst du an Riders Support schreiben. Und der braucht für alles sehr lang. Es ist schwierig, an das Unternehmen ranzukommen. Wir haben eine App, in der wir angeben, an welchen Tagen wir arbeiten können. Danach teilen sie die Schichten ein. Vor Kurzem haben sie beschlossen, auf Angaben, dass du an einem Tag nicht arbeiten kannst, keine Rücksicht mehr zu nehmen. Eine Schicht, die sie dir zuweisen, kannst du nicht ablehnen. Sie geben uns nur die Möglichkeit, untereinander zu tauschen. Sie ordnen auch kurzfristig Schichten an, mit nur 72 Stunden Vorlauf.

Wie viele Kolleg*innen arbeiten in Berlin für Gorillas?

D: In der App, mit der wir die Arbeit organisieren beziehungsweise mit der unsere Arbeitszeiten von dem Unternehmen organisiert werden, kannst du sehen, wie viele Personen im Chat sind. Gestern waren das 1300. Ich bin nicht sicher, ob das alles Riders sind, oder auch Pickers, oder wer sonst noch in diesem Chat ist. Zwischen Februar und April wurden sehr viele neu eingestellt. Seit Ende Februar haben sie fünf neue Warehouses aufgemacht. Der CEO Kagan Sümer hat gesagt, dass es ihr Interesse ist, so schnell wie möglich zu expandieren, um den Markt zu besetzen und die Konkurrenz auszuschalten.

Die Arbeit ist anstrengend und gefährlich, aber manche arbeiten trotzdem lieber bei Lieferdiensten, weil du draußen bist, weil dir zumindest auf der Straße kein Chef direkt im Nacken sitzt. Warum habt ihr diesen Job angefangen?

G: Ich hatte nicht viele Möglichkeiten zur Auswahl. Ich habe mich im ersten Lockdown schon bei Lieferando beworben, weil ich wusste, dass diese Arbeit weiterlaufen würde. Vorher habe ich in einer Krankenhauskantine gearbeitet, da haben sie mich wegen der Pandemie entlassen. Am Anfang dachte ich auch, dass das gut wäre, auf dem Fahrrad. Das ist auf jeden Fall das Beste an der Arbeit. Ein Gefühl von Freiheit, und mit diesen Pedelecs (Räder mit E-Antrieb), die sie uns zur Verfügung stellen – naja, manchmal auch nicht – ist es körperlich weniger anstrengend. Ich fand das eine gute Idee. Aber jetzt, nach drei Monaten, wo ich gesehen habe, wie das Unternehmen die Arbeiter*innen behandelt, gefällt es mir immer weniger. Jetzt haben wir mit dem Workers Collective angefangen und versuchen, mehr Leute einzubeziehen. Hoffentlich kriegen wir es hin, dass sich was ändert. Ich hatte sicher nicht vor, in so einem Unternehmen lange zu bleiben. Aber die Bedingungen für alle verbessern, das wäre schon etwas.

D: Ich habe noch einen anderen Job, in einem Restaurant, aber das war in der Pandemie monatelang geschlossen. Sie haben mich nicht entlassen, aber zu dem Kurzarbeitergeld brauchte ich einen weiteren Job. Ein Freund von mir hat für Gorillas gearbeitet, und als im Januar das Geld knapp wurde, war das eine Option. So komme ich über die Runden, aber nochmal: Der Lohn ist nicht ausreichend! Vor allem bei einem Unternehmen, das so viel Geld eingesammelt hat. Das ist kein Klein- oder Mittelbetrieb. Auch wenn die Chefs sich als Start-Up präsentieren oder als freundliche Familie: Das ist ein Riesenunternehmen. Und so muss es auch behandelt werden.

Bekommt ihr alle die Fahrräder von der Firma gestellt?

G: Ich weiß nicht, wie es in anderen Städten ist. Sogar hier in Berlin gibt es Unterschiede. Vier oder fünf verschiedene Firmen stellen die E-Fahrräder für Gorillas. Aber oft gibt es keine Akkus. Dann sagen sie, du sollst dein eigenes Fahrrad nehmen. Dafür bezahlen sie dir eine Stunde zusätzlich. Das sind 10,50! Oder du fährst mit dem schweren Pedelec ohne Strom. Laut Vertrag stellen sie E-Fahrräder, aber das stimmt nicht immer. Die Verantwortung schieben sie auf die anderen Firmen.

Ihr seid gerade dabei, einen Betriebsrat zu gründen. Was erwartet ihr euch davon?

D: Nächste Woche findet die Versammlung statt, bei der ein Wahlvorstand gewählt wird. Das war ein sehr komplizierter Prozess. Das Unternehmen behauptet, zur Zusammenarbeit bereit zu sein, aber letzten Endes haben sie uns alles schwergemacht. Das Unternehmen ist gesetzlich verpflichtet, alle Arbeiter*innen über die Schritte der Betriebsratswahl zu informieren. Aber wir mussten immer wieder darauf bestehen, auch mithilfe eines Rechtsanwaltes. Sie wollten auch nicht für den Ort bezahlen, den wir für die Betriebsversammlung ausgewählt hatten. Wir hoffen, dass wir die Wahl hinbekommen. Ein Betriebsrat könnte uns bei Fragen der Arbeitszeiten helfen, bei einer Reduzierung der sechsmonatigen Probezeit oder bei Fragen der Arbeitssicherheit. Vor allem bei den Schichtregelungen wollen wir Einfluss nehmen, und bei Lohnfragen.

Das Prinzip von Betriebsräten ist nicht Kollektivität, sondern Delegierung. Und bei Betrieben mit hoher Fluktuation ist die Gefahr groß, dass der Betriebsrat von den Freund*innen der Chefs übernommen wird. Wie diskutiert ihr darüber?

D: Ich habe noch keine Erfahrung mit Betriebsräten. Ich habe etwas politische Erfahrung aus Mexiko, aber da funktionieren die Dinge anders. Hier laufen die Prozesse gerade sehr schnell ab. Wir konzentrieren uns auf die konkreten Ziele und denken nicht sehr langfristig. Gerade geht es um einen Ort für die Betriebsversammlung. Dann müssen wir dafür sorgen, dass der Wahlvorstand aus Leuten besteht, die zum Collective gehören. Danach können wir sehen, was der nächste Schritt ist. Wir haben Unterstützung von der FAU (anarchosyndikalistische Gewerkschaft, d. Red.). Wir haben auch mit einigen von der NGG (DGB Gewerkschaft) gesprochen und mit Freunden von Lieferando und anderen Kurierdiensten. Viele haben uns darauf hingewiesen, dass wir aufpassen müssen, keine Struktur zu schaffen, die vom Betrieb für dessen Interessen benutzt werden kann. Niemand hat vor, lange bei Gorillas zu bleiben. Sobald wir den Betriebsrat haben, muss das ein Thema sein: Wie können wir vermeiden, dass er kooptiert wird durch korporative Interessen. Viele aus unserem Workers Collective sind mit befristeten Visa hier. Wenn sie die nicht verlängern können, müssen sie irgendwann das Land verlassen.

Drei Personen treten in diesem Prozess der Betriebsratsgründung offen auf. Wie schafft ihr die Verbindungen zwischen ihnen und den übrigen Kolleg*innen?

D: Ich kenne diese Mechanismen nicht so gut, aber die drei haben einen gewissen rechtlichen Schutz, sie können während der Betriebsratsgründung nicht entlassen werden. Das wirkt noch nach den Wahlen nach. Die drei mussten sehr viel machen, weil sie mit dem rechtlichen Schutz die einzigen waren, die offen reden konnten. Das gab manchmal Spannungen. Ich hätte es gut gefunden, wenn wir Wege gefunden hätten, die Aufgaben gleichberechtigter unter allen zu verteilen. Wir konnten diese Konzentration der Verantwortlichkeiten auf die drei etwas auflösen, aber das war nicht einfach. Es brauchte Zeit und viel Geduld. Wir treffen uns jede Woche in einem Plenum und versuchen, alle Entscheidungen im Konsens zu treffen, ohne Hierarchien. Die drei sind Teil des Plenums, und sie müssen den Entscheidungen des Plenums folgen. Es gab Momente, wo wir die drei kritisieren mussten, und sie haben unsere Kritik respektiert. Es gibt auch interne Probleme, die wir noch überhaupt nicht gelöst haben. Aber die Leute wollen sie lösen und nicht unter den Teppich kehren.

https://twitter.com/GorillasWorkers

Infos zum Streik am 8./9. Juni: https://www.labournet.de/?p=178200

  • 1. 1) Dort sind die Waren gelagert, werden von den Picker*innen entsprechend der Aufträge zusammengestellt und dann den Rider*innen in die Rucksäcke gepackt, die sie ausfahren.

Interview und Übersetzung: Alix Arnold