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Keine Konkurrenz

Die Vielfalt evangelikaler Kirchen aus der Sicht der Theologie der Befreiung

Vor fünfzig Jahren, 1971, veröffentlichte der peruanische Theologe Gustavo Gutiérrez das Buch „Theologie der Befreiung“, was damals die ganze katholische Welt aufwirbelte. Dieses Jubiläum wirft Fragen auf: Was ist aus der Befreiung geworden, für die diese Theologie eingetreten ist? Was ist aus der Befreiungstheologie selbst geworden, übt sie nach wie vor Einfluss aus? Welchen Stellenwert kann man ihr noch zumessen auf einem Kontinent, der immer mehr seine katholische Prägung verliert und stattdessen bereits als Zentrum eines vielfältigen, widersprüchlichen und immer überraschenden evangelikalen und pfingstlerischen Christentums gilt?

Stefan Silber

Von ihren Anfängen an musste sich die Theologie der Befreiung mit dem Aufschwung protestantischer Kirchen auf dem Kontinent auseinandersetzen. Die Theorie, dass dieser einzig einer Propagandaoperation der USA geschuldet sei, wich dabei bald schon der selbstkritischen Einschätzung, mit der soziologischen und kulturellen Pluralität Lateinamerikas noch genauer in Dialog treten zu müssen.

Ein solcher, sehr vielstimmiger Dialog ist in der Gegenwart Lateinamerikas zu erkennen. Er kann zu einem neuen Miteinander der christlichen Konfessionen führen, wenn er konsequent aus der Perspektive der Armen geführt wird, für die sich auch die Befreiungstheologie immer stark gemacht hat. Denn auch viele evangelikale Gemeinden wachsen unter armen Menschen.

Das Christentum in Lateinamerika wird vielfältiger. Dies gilt zwar auch für die Lebensformen katholischer Gemeinden und Diözesen, aber noch viel mehr für das bunte und immer neu überraschende protestantische Feld.1 Neben einkommensstarken Megakirchen, die durch eindrucksvolle Gebäude und Auftritte in den Medien öffentlich sehr präsent sind, finden sich vielfältige kleine Gemeinden, die lokal begrenzt in Dörfern und Stadtvierteln existieren oder im urbanen Raum konkret Menschen einer bestimmten Zielgruppe um sich versammeln. So breit wie die liturgischen Ausdrucksformen, von festivalähnlichen Showveranstaltungen bis hin zu reinen Predigtgottesdiensten, sind die sozialen und politischen Aktivitäten. Neben streng konservativen und wirtschaftsliberalen Kirchen finden sich auch sozial engagierte und politisch links, feministisch und sogar queer orientierte Gemeinden. Viele entstehen unmittelbar unter den armen Menschen der Vororte.

Dennoch besitzt das politisch konservativ und rechts orientierte evangelikale Christentum in Lateinamerika vermutlich den größeren Einfluss und wird auf jeden Fall medial stärker wahrgenommen. Seine politische Agenda - neoliberale Wirtschaft, patriarchales und heteronormatives Menschenbild, weiße Überlegenheit - ist inzwischen in Lateinamerika überall spürbar und lässt auch fundamentalistische Kreise der katholischen Kirche wieder größeren politischen Einfluss gewinnen. Geschickt werden Medienmacht und religiöse Manipulation genutzt, um die politische und kulturelle Sphäre nach eigenen Interessen zu gestalten.

Darüber darf jedoch die Vielfalt an protestantischen Glaubensformen nicht übersehen werden.2 Viele Gemeinden entdecken die soziale und ethische Dimension der Pfingstkirchen neu. Andere entwickeln unmittelbar aus der biblischen Tradition heraus ein politisches Profil, welches an die katholischen Basisgemeinden erinnert. Auch indigene und afroamerikanische Religiosität wird mancherorts aufgegriffen und in neue evangelikale Synthesen integriert. Ähnlich wie sich protestantische und katholische Fundamentalismen in Lateinamerika inzwischen sehr nahe gekommen sind, lässt sich eine solche Nähe auch für die Vertreter*innen eines befreienden Christentums in den verschiedenen Konfessionen erkennen.

Das evangelikale Christentum hat die befreiungstheologisch orientierten Basisgemeinden nicht abgelöst oder verdrängt.3 Vielmehr wirkten mehrere kirchliche, kulturelle, soziale und politische Prozesse zusammen, die gleichzeitig verliefen. Neben den neoliberalen Verwerfungen der 1980er- und 1990er-Jahre in Lateinamerika war dabei das Zurückdrängen der Befreiungstheologie durch die katholische Hierarchie sicherlich ein bestimmender Faktor. Zudem kann in Lateinamerika bis heute gezeigt werden, dass lebendige Basisgemeinden die Ausbreitung evangelikaler Kirchen eher verhindert haben und nicht von ihnen verdrängt wurden.

Sicherlich spielen jedoch auch das Ausbleiben der in der Theologie der Befreiung propagierten Befreiung und die Verschärfung von wirtschaftlicher Ausbeutung und politischer Abhängigkeit ab ca. 1990 eine wichtige Rolle dafür, dass Menschen in Lateinamerika zunehmend nach Sicherheit, Orientierung und nicht zuletzt auch Wohlstand suchten. Nicht wenige hofften wohl auch auf ein Wunder durch die Übernahme eines evangelikalen Bekenntnisses.

Die kulturelle Modernisierung, die in Lateinamerika durch den wachsenden medialen Einfluss Europas und der USA zum Tragen kam, übte dabei eine ambivalente Rolle aus. Einerseits ließ sie die traditionelle Volksfrömmigkeit und Popularkultur vormodern und nicht mehr zeitgemäß wirken, andererseits konnte sie auch als liberale Bedrohung von Familie und Gemeinschaft wahrgenommen werden. Vielfalt und Autonomie als Inbegriffe der Moderne wurden zwar bereitwillig aufgegriffen, die Unsicherheit, die mit ihnen verbunden ist, förderte jedoch zugleich die Sehnsucht nach festen Strukturen und klaren Regeln, die manche fundamentalistische Glaubensgemeinschaft nur zu gerne zur Verfügung stellte.

Der wachsende Einfluss evangelikaler und pfingstlerischer Kirchen in Lateinamerika lässt sich daher auch als ein kultureller Modernisierungsprozess verstehen, in dem zugleich auch die Kehrseiten dieser Modernisierung reproduziert werden. Das Ergebnis ist ein vielfältiges, widersprüchliches und teilweise hoch konfliktives Feld religiöser Vielfalt, das sich ständig weiterentwickelt. Eine nicht unbedeutende Rolle für die Beschleunigung dieser Prozesse spielen dabei auch vielfältige Migrationsphänomene in und aus Lateinamerika.

Säkularisierung und praktischer Atheismus als Lebensstil waren bisher in Lateinamerika weithin keine Alternativen. Das scheint sich in zahlreichen Regionen, nicht nur in den urbanen Zentren, mit einer jüngeren Generation zu ändern, die medial noch stärker in westliche Diskurse integriert ist und von der religiösen Prägung ihrer Eltern und Großeltern grundlegend enttäuscht zu sein scheint. Welche Bedeutung dies für die Zukunft der pluralen Formen des Christlichen in Lateinamerika haben wird, lässt sich noch nicht sicher erkennen.

Auch die Weigerung wichtiger Kreise der katholischen Kirche, sich auf gesellschaftliche Entwicklungen in Lateinamerika einzulassen, muss als Faktor dafür angesehen werden, dass sich Menschen von ihr abwandten und nach religiösen Alternativen suchten. Der Kampf gegen die Befreiungstheologie und die von ihr inspirierten Basisgemeinden ist dabei nur ein Problem unter mehreren. Damit verbunden war eine Loslösung von sozialen und politischen Bewegungen, die in der Theologie der Befreiung eine Verbündete gesehen hatten, sowie von den damit verbundenen gesellschaftlichen Fragestellungen.

Der patriarchale Klerikalismus, der die katholische Kirche prägt, führt auch auf dem lateinamerikanischen Kontinent zu zahlreichen Konflikten und Enttäuschungen. Vielfach werden Laien in der Kirche von jeder Art der Beteiligung ausgeschlossen. Frauen, selbst Ordensfrauen, können nur untergeordnete Positionen einnehmen und werden oft als Menschen zweiter Klasse behandelt. Die Verwaltung finanzieller Ressourcen wird in vielen Fällen völlig intransparent auf die Kleriker zentriert. In manchen Diözesen ist die Spendung der Sakramente die einzige Einnahmequelle für die Priester und dadurch schwer kontrollierbarem Missbrauch ausgesetzt. Die zahlreichen Fälle sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche haben in den letzten Jahren zu einem weiteren Glaubwürdigkeitsverlust geführt.

Die flachen Amtsstrukturen im evangelikalen Raum ermöglichen es hingegen auch einfachen Gläubigen, zum Leiter oder Prediger einer Kirche aufzusteigen. Auch Frauen können Ämter übernehmen, auch wenn viele evangelikale Kirchen selbst ebenfalls patriarchale Strukturen aufweisen.

Gleichzeitig konnten die Verantwortlichen der katholischen Kirche lange nicht das wachsende Selbstbewusstsein der indigenen und afroamerikanischen Bevölkerung sowie feministischer und queerer Bewegungen erkennen und positiv aufnehmen. Die spirituellen Aufbrüche, die in diesen Bewegungen entstanden, führten daher in einzelnen Fällen zur Übernahme evangelikaler Bekenntnisse, was häufig jedoch ebenfalls zu Konflikten führte.

Reformorientierte katholische Diözesen, in deren Gemeinden und Strukturen Verantwortung geteilt wird, scheinen hingegen eher in der Lage, indigene und afroamerikanische Identitäten zu integrieren. Frauen und Männer übernehmen auch ohne formales Amt Leitungsverantwortung und bringen vielfältige kulturelle Stimmen zu Gehör. Durch die Theologie der Befreiung inspiriert, prägen oft auch soziales, politisches und ökologisches Engagement zugunsten der Armen und gemeinsam mit ihnen solche Gemeinden.

Die katholische Kirche ist zwar immer noch die größte Religionsgemeinschaft in Lateinamerika, aber sie hat viel von ihrer Hegemonie eingebüßt. Die Vielfalt evangelikaler Kirchen ist, neben anderem, auch Ausdruck der religiösen Selbstbestimmung vieler Menschen. Sie entscheiden selbst, ob sie katholisch bleiben oder sich einer anderen Kirche anschließen. Vielfach fühlen sie sich mehreren Kirchen oder Gemeinschaften zugleich oder abwechselnd zugehörig, je nachdem, zu welchem Anlass oder an welchem Ort sie sich befinden. In der Theologie der Befreiung wächst die Bereitschaft, diese religiöse Autonomie vor allem der Armen zu akzeptieren und sie positiv aufzugreifen.

Denn eine größere religiöse und spirituelle Autonomie wünschen sich auch immer mehr Angehörige der katholischen Kirche und finden sie ebenfalls im ökumenischen Austausch, bei indigenen und afroamerikanischen Religionen. Austausch und Zusammenarbeit wachsen immer dort, wo sie in konkreten Projekten oder bei bestimmten Feiern möglich und sinnvoll erscheinen, und so wächst auch das Bewusstsein einer tiefen Zusammengehörigkeit in der Solidarität mit den Armen und unter ihnen.

Aus der Perspektive der Menschen in den Peripherien und Favelas ist es oft nicht entscheidend, welche konfessionelle Zugehörigkeit eine kirchliche Gemeinschaft offiziell besitzt, sondern ob sie darin ernst genommen werden und mitbestimmen können, denn in Wirtschaft und Politik wird ihnen das häufig verweigert. Ohne Arbeit, ohne legale Papiere oder aus Gründen von Rassismus und Sexismus werden viele Lateinamerikaner*innen aus der Gesellschaft ausgeschlossen oder an den Rand gedrängt. Religiöse Selbstbestimmung ist dann wenigstens noch eine Form von Autonomie und Identität.

Befreiungstheologisch orientierte Gemeinden und Theolog*innen sehen daher in der Gegenwart ihre evangelikalen Pendants oft nicht mehr als Konkurrenz oder Bedrohung, sondern als Ausdruck eines Kampfes um Selbstbestimmung, in dem sie selbst ebenfalls engagiert sind. Natürlich ist es dabei unumgänglich, genau zu differenzieren. Kirchen und Gemeinden, die sich sexistisch oder rassistisch organisieren, sind hier ebenso wenig hilfreich wie Prediger, die das so genannte „Wohlstandsevangelium“ verkündigen oder zur Wahl von Politikern wie Jair Bolsonaro aufrufen. Diese Differenzierung gilt jedoch auch innerhalb katholischer Gemeinden.

Der brasilianische Befreiungstheologe Luiz Carlos Susin vergleicht die Entstehung mancher evangelikaler Kirchen in den Vororten mit dem Bau der Wohnhütten, die von ihren BewohnerInnen aus Bauresten und Abfallgegenständen zusammengeschustert werden.4 Mit diesem Vergleich grenzt er solche Gemeinden von den gigantischen und einflussreichen Megakirchen ab und erkennt gleichzeitig ihre Bedeutung für die Identitätsbildung der Armen an. Aus der Perspektive dieser Armen bietet die Zusammenarbeit von Basisgemeinden und Kirchen aus religiösem und kulturellem Bauschutt die Chance auf einen weiteren Schritt der Befreiung des Christentums.

  • 1. vgl. Polykarp Ulin Agan (Hg.), Pentekostalismus – Pfingstkirchen. Akademie Völker und Kulturen 2016/17, Franz Schmitt Verlag, Siegburg 2017
  • 2. >vgl. Das Evangelium den Armen. Die Pfingstbewegung im Spannungsfeld zwischen sozialer Verantwortung und klassischem Missionsverständnis. Einleitung von Marcel Redling, BFP, Erzhausen 2013
  • 3. Vgl. Margit Eckholt, An die Peripherie gehen: In den Spuren des armen Jesus. Vom Zweiten Vatikanum zu Papst Franziskus, Grünewald, Ostfildern 2015, 239-294
  • 4. Luiz Carlos Susin, Jesus: ein „Ort“, um zu leben. Christentum im Aufbruch und Kirchenbildung im Süden, in: Arnd Bünker u.a. (Hg.), Gerechtigkeit und Pfingsten: Viele Christentümer und die Aufgabe einer Missionswissen-schaft, Grünewald, Ostfildern 2010, 113-13

Stefan Silber ist Professor für Systematische Theologie an der Kath. Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abt. Paderborn. Außerdem ist er Mitglied des Diözesanvorstandes von Pax Christi in Würzburg und Mitbetreiber der Plattform „Theologie der Befreiung“ (https://sites.google.com/site/befreiungstheologie/)