In der Diskussion über Rassismus, die diesen Frühsommer erfreulich breit in vielerlei Medien gelaufen ist, wird eine Binsenweisheit formuliert, die dieses Mal hoffentlich hängen bleibt: In unseren von Rassismus geprägten Gesellschaften wachsen wir alle mit Klischees und Vorurteilen auf. Die abzulegen funktioniert nicht per Entschluss, das erfordert lebenslanges Lernen. Das Bewusstsein für Rassismus muss sich erst entwickeln. Das gilt auch für den exotistischen Blick, die negativen und positiven Stereotype.
Und an was denken wir, die wir uns mit Lateinamerika beschäftigen, bei der Bezeichnung „Indigene“? Welche Bilder kommen uns in den Kopf? Wahrscheinlich sind es eher ländliche Settings, die aufblitzen, sei es in den Anden oder im Amazonas-Gebiet. Ganz bestimmt kommt uns auch das Bild von der Chola in den Sinn, der indigenen beziehungsweise mestizischen Bolivianerin mit ihrem charakteristischen voluminösen Rock, der Pollera, und dem englischen Bowler-Hut. Aber die kennen wir vornehmlich aus La Paz und der Schwesterstadt El Alto. Gleichzeitig gibt es in Bolivien aber auch Cholas auf dem Land, deren Kleidung sich jedoch von denen in der Stadt unterscheidet.
Es bleibt also kompliziert. Der Begriff kann in verschiedenen Ländern sehr Unterschiedliches bedeuten. In Ecuador ist die Chola Cuencana zu einem folkloristisch überhöhten touristischen Zerrbild geworden, das in der Werbung für die Stadt Cuenca eingesetzt wird. Jedes Jahr wird in einer Art Schönheitswettbewerb die anmutigste und kultivierteste unter ihnen gewählt. Die Hüte, die jene Cholas tragen, werden übrigens aus den Fasern der Toquillapflanze hergestellt und sind weltweit besser bekannt als „Panamahüte“, weil sie auch von den Arbeitern beim Bau des Panamakanals getragen wurden.
Die Verwendung des Begriffs Chola hat sich im Laufe der Zeit stark gewandelt. Und es spielt eine Rolle, welche Bevölkerungsgruppe den Begriff verwendet: Die weiße Elite benutzt ihn in den meisten Gesellschaften mit einem abwertenden und diskriminierenden Tonfall. Das Beispiel Cuenca zeigt, dass ebenfalls eine positive (wenn auch exotistische) Konnotation möglich sein kann. Eine Verwendung des Begriffs, die mit Stolz und Empowerment einhergeht, ist wiederum gegeben, wenn ihn sich die Cholas selbstbewusst aneignen und für ihre Selbstzuschreibung nutzen.
Warum diese Diskussion? Weil es beim Thema „städtische Indigenität“ um Identität(en) geht. Selbst- und Fremdzuschreibungen sind absolut zentrale Fragestellungen. Denn wie schon eben angedeutet: Nicht nur in den Köpfen ist „das Indigene“ mit dem ländlichen Leben verknüpft, auch Verwaltungen und Regierungen auf lokaler Ebene kommen mit der Vorstellung von Indigenen in der Stadt nicht richtig klar, obwohl es seit Jahrhunderten und verstärkt in den letzten Jahrzehnten ein Fakt ist, dass Indigene auch in Städten leben.
Aber Indigene berufen sich doch selbst auf ihr Territorio, ihr Hoheitsgebiet, mag da ein Einwand lauten. Wo soll das bitteschön sein, wenn sie es für die Migration in die Stadt verlassen haben? Viele Indigene fordern eben auch in der Stadt ein Territorio ein, wo sie gemäß ihren Vorstellungen und Traditionen in Gemeinschaft leben können.
Neben Identitätsfragen werden also auch materielle Fragen berührt, der Zugang zu Grundstücken, Wohnraum, Arbeitsplätzen, zu Bildung und Gesundheitsversorgung. Die Forderung nach einem gemeinschaftlichen Territorium erheben wiederum nicht alle Indigenen in der Stadt. Viele leben auch vereinzelt. Das Panorama ist auf jeden Fall komplex.
Auch bei diesem Schwerpunkt sind wir „fragend vorangeschritten“, wie es einst die Zapatistas so schön formuliert haben, und sind auf dem Weg auf viele spannende Geschichten, Auseinandersetzungen und Persönlichkeiten gestoßen. Mit der vorliegenden Nummer verabschieden wir uns in die wohlverdiente Sommerpause und wünschen all unseren Leser*innen erholsame Wochen. Die nächste ila erscheint wieder Mitte September. Bleibt interessiert, gesund und solidarisch!