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Wir legen uns mit den Reichsten an

Interview mit Sergio Sommaruga und Matías Gallardo von SINTEP, der Gewerkschaft der Beschäftigten in den privaten Bildungseinrichtungen Uruguays

Das Geschäft der privaten Bildungsträger boomt überall in Lateinamerika. Das gilt auch für Uruguay, das südamerikanische Land, dessen öffentliches Bildungssystem immer zu den besten auf dem Subkontinent gehört hat. Dennoch gibt es vor allem in den reicheren Vierteln der uruguayischen Hauptstadt zahlreiche private Kindergärten, Schulen und Universitäten. Über ein Viertel der Kinder, Schüler*innen und Studierenden Montevideos lernen in privaten Einrichtungen. Zwar ist dieser Anteil im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern noch immer vergleichsweise gering, trotzdem hat diese Entwicklung Spuren hinterlassen im Bildungssystem, in der Gesellschaft und auch bei den Arbeitsbedingungen. Und doch ist Uruguay, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad traditionell deutlich höher liegt als in anderen lateinamerikanischen Ländern, auch hier etwas anders. Denn während die Lehrer*innen an Lateinamerikas Privatschulen, die in der Regel besser bezahlt und leichter kündbar sind als ihre Kolleg*innen an den öffentlichen Schulen, andernorts kaum gewerkschaftlich organisiert sind, gibt es in Uruguay die aktive „Gewerkschaft der Beschäftigten in den privaten Bildungseinrichtungen“ SINTEP. Mit deren Generalsekretär Sergio Sommaruga und dem für Arbeitssicherheit und -gesundheit zuständigen Vorstandsmitglied Matías Gallardo sprach Wolfgang Ecker in Montevideo.

Wolfgang Ecker

Uruguay ist ein Land mit einer langen Tradition im Bereich der öffentlichen Bildung. Seit mehreren Jahren gibt es allerdings einen Boom im privaten Bildungssektor. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?

Sergio Sommaruga: Diese lange und tiefverwurzelte Tradition sollte man immer im Kopf haben. Das Bewusstsein über das Recht auf Bildung war schon in den Gründungsjahren Uruguays präsent und war 1877 Bestandteil der Reformen unter José Pedro Varela. So widersprüchlich diese Reformen auch waren, gaben sie doch die Richtung vor. Das Recht auf Bildung sollte direkt über den staatlichen Apparat gestärkt und ausgeweitet werden. Auf dem ganzen Territorium und vor allem für die ärmeren Schichten. Auch wenn das schon lange her ist, so war das Recht auf eine öffentliche und kostenlose Bildung ein zivilisatorischer Fortschritt, der als solcher bis heute im Bewusstsein ist. Dies erklärt auch, warum sich in Uruguay die Entwicklung hin zur privaten Bildung langsamer vollzog als in anderen Ländern.

Aber es ist auch richtig, dass sich Uruguay nicht den Forderungen, wie sie unter anderem von der Welthandelsorganisation WTO gestellt werden, entziehen kann. Weg von der öffentlichen Bildung hin zu dem Geschäft mit der Bildung. Es stehen auch eine klare Ideologie und ein starker wirtschaftlicher Anreiz dahinter. Die Befürworter sind einfach auszumachen, in den politschen Parteien und in den kommerziellen Medien. Dazu gehören auch Stiftungen, in denen Intellektuelle ganztags dafür angestellt sind, Dokumente und Kampagnen zu produzieren, die das öffentliche Bildungssystem diskreditieren. Sie führen eine Schlacht darum, den Bildungssektor in die Welt des Profits zu überführen. Meiner Meinung nach hat dieses Anstürmen gegen das unveräußerliche Menschenrecht auf Bildung einen globalen Charakter und hat mit der aktuellen Tendenz des transnationalen Kapitalismus zu tun, die Akkumulation über die Enteignung öffentlicher Güter abzusichern. So wie es Rosa Luxemburg beschrieb und wie es heute David Harvey beschreibt.

Matías Gallardo: Die Kommerzialisierung der Bildung nahm in den 90er-Jahren Fahrt auf und hat sich unter allen Regierungen fortgesetzt, ob sie nun von den Konservativen, den Liberalen oder der Frente Amplio geführt wurden. Nach den letzten Studien über die Privatisierung der Bildung in Uruguay ist das Wachstum des Privatsektors aber nicht sehr groß. Was jedoch passiert, ist, dass es jedes Mal mehr private Institute gibt bei gleichbleibender Zahl von Schüler*innen und Student*innen. Das führt zu einer Marktkonkurrenz zwischen den einzelnen Institutionen. Wenn der Anteil noch wächst, dann in erster Linie im Landesinneren.

Sergio Sommaruga: Aber neben diesem quantitativen Problem gibt es noch ein weiteres, das die innere Logik dieser Institute betrifft. Zunehmend sind es Einrichtungen, die ihren Zweck darin sehen, Gewinn zu machen. Das pädagogische Projekt ist nachrangig. Bildung ist für sie ein Mittel zum Zweck, die Institute sind im wahrsten Sinne des Wortes Geschäftsbereiche.

Wie ist der private Bildungsbereich reguliert? Gibt es Vorgaben bezüglich Lehrinhalten oder Arbeitsbedingungen?

Sergio Sommaruga: Es gibt kaum Regulierungen, was ein Erfolg einer markthörigen Ideologie ist. Oftmals erscheinen die Institute wie eigenständige Republiken, wie ein Staat im Staat. Ich meine damit, dass sie ihren eigenen „Rechtsstaat” durchsetzen. Gleichzeitig werden diese Einrichtungen aber von staatlicher Seite unterstützt, sie genießen Steuerbefreiungen und vieles mehr. Insgesamt sind es jährlich rund 160 Millionen Dollar, mit denen die uruguayische Gesellschaft diese Institute fördert. Angesichts dessen wäre es das Mindeste, über geeignete Kontrollmechanismen zu verfügen.

Matías Gallardo: Wir haben immer wieder das Problem, dass private Universitäten die gesetzlichen Vorgaben in Bezug auf Löhne ignorieren. Wir haben es zwar bei einigen Universitäten erreicht, dass sie nicht mehr weniger zahlen als vorgeschrieben. Aber das Problem der Privaten ist, dass sie sich selbst kontrollieren und sich über alle Vorgaben hinwegsetzen.

Welche Konsequenzen hat dies für die Arbeitsbedingungen, auch im Vergleich zum öffentlichen Bildungssektor?

Matías Gallardo: Man muss sich eines immer vor Augen führen. Im öffentlichen Sektor hat man es mit einem Eigentümer zu tun, der in gewisser Hinsicht unsichtbar ist: mit dem Staat. Im Gegensatz dazu müssen wir uns bei den Privaten täglich mit den Firmenchefs auseinandersetzen. Die Arbeitsverträge sind oft irregulär, und es herrscht hoher Arbeitsdruck. Dazu kommt die Angst, seinen Job zu verlieren, wenn jemand sich beschwert. Wir legen uns mit den Reichsten an, den mächtigsten fünf Prozent der uruguayischen Gesellschaft, die Bildungseinrichtungen so aufbauen, wie sie Supermärkte aufbauen.

Sergio Sommaruga: Generell ist es so, dass die Löhne im privaten Bildungsbereich niedriger sind als im öffentlichen. Es gibt sicherlich Ausnahmen, wie in den Instituten, in denen die Kinder der Eliten unterrichtet werden. Aber es ist nicht allein der Lohn, der die Bedingungen unterscheidet. Es geht um Rechte jenseits des Lohns, Arbeitsrechte, demokratische Garantien. Besonders gravierend sind im privaten Bildungssektor die Arbeitshetze wie auch die Anfeindungen gegenüber der Gewerkschaft. Für die meisten Firmenchefs ist die beste Gewerkschaft die, die es nicht gibt. Sie entwickeln eine systematische Politik, um den Arbeiterinnen und Arbeitern ihre fundamentalen Recht vorzuenthalten.

Wie kann eine Gewerkschaft in diesem Umfeld arbeiten?

Matías Gallardo: Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist, die Bildungsarbeiter*innen im Bildungswesen in schwierigen Situationen zu begleiten. Das gilt besonders für das Landes-innere. Es geht um menschenwürdige Löhne, menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Wir überwachen, ob gültiges Recht eingehalten wird, sowohl was den Lohn betrifft als auch die Arbeitsbedingungen und die Arbeitssicherheit. Wir kämpfen gegen den Arbeitsstress und versuchen als Gewerkschaft zu wachsen. Wir wachsen zwar, aber wir müssen noch stärker werden. Als Gewerkschaft vertreten wir nicht nur die Dozent*innen, sondern alle Arbeiter*innen im privaten Bildungsbereich.

Welche Möglichkeiten haben Sie, die Forderungen durchzusetzen?

Matías Gallardo: Wir suchen den Weg der Verhandlungen mit den Eigentümern. Falls dies nicht fruchtet, gibt es das Arbeitsministerium als Vermittler. Aber wir machen auch öffentliche Aktionen, um Missstände anzuzeigen, oder besetzen auch Einrichtungen, je nach den Umständen.

Und wir ermutigen die Menschen. Wir haben damit angefangen, eine Kampagne gegen den Arbeitsstress zu machen. Obgleich wir schon einige positive Resultate erzielen konnten, mussten wir lernen, dass das Problem viel größer ist, als wir dachten. Arbeiter*innen, die bislang ihre Chefs nicht angezeigt hatten, beginnen jetzt damit.

Neben den konkreten Arbeitsbedingungen gibt es auch die Kritik an den privaten Bildungseinrichtungen, dass sie den sozialen Ausschluss produzieren und reproduzieren.

Matías Gallardo: Dieser Bereich ist sehr vielfältig. Es gibt Einrichtungen, in denen die ärmsten Schichten unterrichtet werden, aber auch Eliteschulen für die Kinder der reichsten Menschen des Landes. Dort kostet die Einschreibung oft ein Vielfaches von dem, was die Beschäftigten an der Schule verdienen. Ich denke, das fördert den Ausschluss. Was es gibt, sind reiche Schulen für Reiche, in denen das System reproduziert wird und nicht hinterfragt wird, was gelehrt wird und wie es gelehrt wird. In diesen Einrichtungen werden die Arbeitsrechte niedergehalten und neben dem Ausschluss wird mit aller Kraft daran gearbeitet, die Gesellschaft zu reproduzieren. Damit die Reichen noch reicher werden und die Armen noch ärmer.

Sergio Sommaruga: Die vollständige Kommerzialisierung ist ein Prozess, der die Gesellschaft im Allgemeinen und die Arbeiter*innen im Besonderen trifft. Sowohl bezogen auf die Zersetzung des Begriffs der Bildung als Menschenrecht als auch hinsichtlich der „Kundenlogik“, die über der pädagogischen Logik und der Tendenz zur Präkarisierung der Arbeitsverhältnisse steht. Langfristig betrachtet ist dieser Prozess antisozial. Dieses Marktmodell, das dadurch voranschreitet, indem öffentliche Räume und fundamentale Menschenrechte zerstört werden, hat bislang nicht den politischen Widerhall und den sozialen Widerstand hervorgerufen, den es verdienen würde.

Auch wenn die Privatisierung in Uruguay langsamer voranschreitet als in anderen Ländern, drohen am Ende nicht auch Verhältnisse wie in Chile, wo die Mehrheit der Schulen mittlerweile privat ist?

Matías Gallardo: In Uruguay gibt es noch eine starke Tradition zur Verteidigung der öffentlichen Bildung. Die Bedingungen sind anders als in Chile. Zwar ist es bedenklich, dass die öffentlichen Mittel für die Bildung sehr eingeschränkt sind. Aber wir sind überzeugt, dass alle Sektoren der einfachen Bevölkerung dazu bereit sind, die öffentliche Bildung zu verteidigen und ein weiteres Voranschreiten einer Bildung verhindern, die nur ein Produkt für den Markt ist.

Ich danke euch für das Gespräch.

Sergio Sommaruga: Ich möchte mich bei Ihnen und der ila bedanken, dass wir die Gelegenheit bekommen, unsere Sichtweise auf die Entwicklung des Bildungssektors in unserem Land darzulegen. Es ist wirklich wichtig, dass in einer Welt, in der die Transnationalisierung des Kapitals immer tobsüchtiger wird, Publikationen wie die ila existieren. Womit Brücken gebaut werden zwischen sozialen, politischen und kulturellen Kämpfen, die den Willen zur sozialen Veränderung in sich tragen.

Das Interview führte Wolfgang Ecker im April 2018 in Montevideo.