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Die Gitarre hat Sinn und Verstand

Im Film „El Viaje“ trifft Ärzte-Bassist Rodrigo González seine musikalischen Wurzeln in Chile
Britt Weyde

Canto porque la guitarra tiene sentido y razón – „Ich singe, weil die Gitarre Sinn und Verstand hat“, heißt es in einem von Víctor Jaras letzten Liedern, Manifiesto. Das gleichnamige Album erschien posthum, nachdem Militärs den Musiker im Nationalstadion von Santiago de Chile am 16. September 1973 mit über 40 Schüssen ermordet hatten. Für mindestens eine Musikergeneration war der engagierte Singersongwriter eine wichtige musikalische Referenz. Und heute? Spielt Víctor Jara in Chile noch eine Rolle? Diese Frage stellt sich Rodrigo González, Bassist und Sänger bei der Band Die Ärzte. Er beschließt, die Anfänge seiner musikalischen Biografie zu untersuchen.

Die Familie von Rodrigo González kam 1974 auf der Flucht vor dem Pinochet-Regime nach Hamburg, der Junge war damals sechs Jahre alt. Als Teil der chilenischen Exilgemeinde veranstalteten seine Eltern die Peña Violeta Parra, Zusammenkünfte, bei denen Musik live gespielt wurde, die in der Tradition der Nueva Canción Chilena1 steht. Im Gespräch mit seinem Vater erinnert sich Rodrigo daran. „Du musst nach Chile“, entscheidet der erfolgreiche Musiker für sich. Er will seine Erinnerungen mit der Realität abgleichen.

Rodrigos erste Anlaufstelle in Santiago de Chile ist Macha von Chico Trujillo. Macha, den Sänger und Kopf der Band, hatte Rodrigo vor 15 Jahren in Berlin kennen gelernt. Der Mann mit dem Rauschebart erzählt von seiner musikalischen Sozialisation: Viel Popmusik, weniger Folklore, jedoch Víctor Jara und Violeta Parra. „Violeta Parra steckt in jedem von uns“, meint Macha. Violeta Parra steckt auch in Shootingstar Camila Moreno. Sie lebt in einer schicken Gegend von Santiago. Mit ihrer Single Millones war sie für den Grammy Latino nominiert. Die junge Frau erzählt, wie ihr Nachbar am 11. September, dem Jahrestag des Putsches, die Nationalflagge hisst. „Die Schlacht geht weiter“, meint sie lapidar. Camila entdeckte als Jugendliche Violeta Parra, hörte deren Song Gavilán, eine zwölfminütige Klage aus der Sicht eines Huhns, das sich über die Verlogenheit seines geliebten Hahnes auslässt. „Das war sehr heftig“, meint sie. Die Medien vergleichen Camila Moreno mit Violeta Parra. Ihr gefällt der patriotische Touch eines solchen Lobes nicht: „An Violeta mag ich den Punk in ihrer Stimme, ihre Haltung.“

In Rodrigos Geburtsstadt Valparaíso stellt Macha dem musikalischen Spurensucher den Sänger J.M. vor. Er ist Gemüseverkäufer auf dem Wochenmarkt und Sänger von alten Boleros und Walzern. Chico Trujillo wird am Gemüsestand erkannt, eine junge Frau macht ein Selfie mit dem Star, eine andere sagt „Er soll mal Loca für uns singen!“. Tatsächlich lassen sich die Musiker dazu hinreißen und singen die romantische Cumbia-Hommage an eine in die Jahre gekommene Liebe.

Zurück in Santiago gibt es ein Treffen mit einem „Helden“ aus Rodrigos Kindheit, Eduardo Carasco von der legendären Band Quilapayún. Die Band war gerade in Frankreich auf Tour, als sich in Chile 1973 der Putsch ereignete. So blieb die Band dort im Exil, 15 Jahre lang. Heutzutage unterrichtet Carasco Philosophie. Die Interviewsituation dreht sich: Carasco befragt Rodrigo über die Flucht- und Exilgeschichte seiner Familie. Sie reden über das Leben zwischen zwei Welten, die Schwierigkeiten, zurückzugehen. „Wenn du hier zum Leben hinkommen würdest, wäre das schrecklich für dich.“ Rodrigo lacht. Im Exil lerne man aber auch, dass man zu mehreren Orten gehören könne.

Rodrigo lernt Eduardo Yáñez kennen, einen Liedermacher der 60er-/70er-Jahre. Yáñez wurde wie viele andere KünstlerInnen und Intelektuelle im September 1973 im Estadio Nacional eingesperrt und gefoltert. Viele andere wurden dort ermordet. Yáñez überlebte und blieb zunächst in Chile, komponierte und musizierte weiter. Isabel Parra und Quilapayún spielten seine Stücke im Exil. Rodrigo und Yáñez streifen durch das leere Stadion, die Gänge und Umkleiden; in einem Raum gibt es eine Ausstellung zu den grausamen Vorgängen in jenem fernen September. Erinnerungen kommen hoch, aber der weißhaarige Mann zeigt keine Verbitterung. Er spricht von der „paradoxen Schönheit, die dir das Leben bietet“.

Weiter geht’s zu einem Gitarren- und Charango-Bauer. Im Oktober 1973 verbot die Militärjunta per Dekret die Charangos als typisches Instrument der Nueva Canción Chilena. Einige Musiker protestierten dagegen, indem sie mit geschulterten Charangos öffentlich herumliefen. Dieses Dekret ist heute noch gültig! Der Charango-Spieler Gastón Ávila lädt Rodrigo ein, mit ihm zu einer Mapuchegemeinde zu reisen. Am Ufer des Lleu-Lleu-Sees besuchen sie eine Familie, die davon erzählt, wie ihr ehemals kollektives Land von Forstbetrieben übernommen wurde, die die Wasserbestände in der Region zerstören. Einer der Mapuche fragt Rodrigo nach seinem Beruf. „Musiker? Davon kannst du leben? Wird das gut bezahlt?“ Rodrigo windet sich ein wenig und merkt an, dass einige chilenische Musiker auch von ihrer Musik leben könnten.

Weit entfernte Welten kommen hier zusammen und treten in einen Dialog. Und es funktioniert, erstaunlich gut; ebenso der Dialog mit den alten und jungen MusikerInnen, die alle recht unterschiedliche Genres bedienen. Aber die Sprache der Musik verbindet und schließlich ist Rodrigo ein Kind beider Welten. Außerdem läuft vieles in den verschiedenen Welten ähnlich. So ist auch in Chile, wie überall, die Musikwelt eine Männerdomäne.

Das Ganze kommt sehr schön fotografiert daher, der Soundtrack ist zwangsläufig großartig. Ob der Rockmusiker, der im Film so sympathisch neben den meist viel kleineren ChilenInnen herschlappt, eine gute Antwort auf seine Frage findet, was die chilenische Musik im Kern ausmacht, wird hier nicht verraten. Dafür müsst ihr euch den Film schon selbst angucken.

 

„El viaje“, 93 Minuten, 2016, Regie: Nahuel López, Filmstart: 11. August 2016
http://mindjazz-pictures.de/project/elviaje/

  • 1. Engagierte musikalische Bewegung der 60er- und 70er-Jahre. Bekannte VertreterInnen waren Víctor Jara, Patricio Manns, Inti Illimani und Quilapayún. Violeta Parra gilt als deren Vorläuferin.