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Das Politische im haitianischen Vodou

Westliche Vorurteile verkennen den Vodou als Alltags- und Widerstandspraxis

Zwei Tage nach dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 in Haiti zitiert der Kolumnist David Brooks in der New York Times den Leiter der USAID-Missionen in Haiti, Lawrence E. Harrison, mit den Worten: „Haiti, wie die meisten der ärmsten Länder der Welt, leidet an einem komplexen Gewebe fortschrittsresistenter kultureller Einflüsse. Da gibt es den Einfluss von Vodou, der seine Botschaft ausbreitet, dass das Leben unberechenbar ist und es nutzlos sei zu planen.“ Dieser kulturelle Rassismus ist kein Phänomen der letzten Jahrzehnte. Seit der Revolution (1791-1804) wird der „Vodou“ als Erklärung im imperialen Diskurs des Westens herangezogen, um politische oder neuerdings „humanitäre“ Interventionen oder Besatzungspolitik zu rechtfertigen. Mit dem Aufkommen der Ethnologie am Ende des 19. Jahrhunderts, aber vor allem während der Besatzung Haitis durch die USA (1915-1934) und die Herausbildung der Kulturindustrie haben sich Fragmente des (Un-)Wissens um Vodou zu warenförmigen Rassismen verdichten können und bevölkern bis heute den Diskurs um Haiti.

Peter Scheiffele

Als tendenziöses Hintergrundrauschen hilft der spezifische Diskurs über Haiti, in einem gegebenen Moment die Plausibilität des „Barbarischen“ oder des „Unzivilisierten“ herzustellen. Andersheit wird signalisiert, wenn mal wieder von „Demokratiedefizit“ die Rede ist oder wenn von „Lynchjustiz“ und „blutiger Gewalt“ im „gescheiterten Staat“ berichtet und Vodou im Nebensatz oder in Begleitartikeln erwähnt wird. Doch so wie der haitianische Vodou zur Revolution beigetragen hat, ist diese kulturelle Praxis im Verbund mit einer eigenständigen Sprache, dem Kreyòl, zuallererst Ausdruck einer Gegenkultur, die sich seit der Revolution gegen konterrevolutionäre Strömungen im Land, wie gegen internationale Kräfte zur Wehr gesetzt hat.

Im deutschsprachigen Raum sind die Debatten um Vodou noch sehr unterentwickelt. Das lässt sich schon daran bemessen, wie von ÜbersetzerInnen, Verlagen oder AutorInnen die im anglo-amerikanischen Sprachraum längst üblich gewordene orthographische Unterscheidung zwischen „Vodou“ und „Voodoo“ übergangen wird. Unzählige SozialwissenschaftlerInnen wie auch Millionen von Vodouisten in Haiti, Kanada und vor allem in den USA arbeiten seit Jahrzehnten gegen die rassistische Diskursivierung von Vodou. Dabei scheinen die eher traditionellen Fragestellungen, die den Vodou entweder auf seine afrikanischen Ursprünge hin befragen oder seinen Synkretismus von afrikanischen Göttern und katholischen Heiligen hervorheben, überwunden. Neuere Studien situieren Vodou in einem breiteren afro-atlantischen Kontext, der maßgeblich durch die ökonomischen und sozialen Effekte des transatlantischen Sklavenhandels bedingt ist. Innerhalb dessen tritt der Vodou nicht als Antithese der Moderne in Erscheinung, sondern als kulturelle Autonomie und moderne Weltsicht, durch die erst die tiefgreifenden Nachwirkungen von Versklavung, Migration, Produktion und Gegenwehr verständlich werden.

„Voodoo“ bezeichnet ein hegemoniales und zugleich massenmediales Konstrukt, das die Beherrschten als exotisch und andersartig darstellt. Mit dem Wort „Vodou“ oder „Vodoun“ wird hingegen dem haitianischen Sprachgebrauch nachgekommen. Allerdings verwenden HaitianerInnen dieses Wort eher selten. Sie rekurrieren auf die Praxis, sprechen davon, den „Geistern zu dienen“ (sèvi lwa) und bezeichnen damit einen Komplex ritueller Musik und Tänze, die stets kollektiv vollzogen werden, um die Geister und Vorfahren von Ginen (Guinea) zu ehren – ein mythisches Afrika der Vergangenheit und Zukunft, ein Land unter den Wassern.1

Während von westlichen NRO immer wieder die mangelnde Bildung und der „Aberglaube“ in Haiti als „Fortschrittsbremse“ hervorgehoben werden, konnten ethnologische Studien zeigen, dass gerade die verarmte Landbevölkerung über enorme Wissensressourcen verfügt. Dieses vorwiegend auf eine orale Kultur begründete gegenkulturelle Wissen ist mit der Vodou-Praxis stark verbunden. Und es ist die Eigenart des Vodou, seine Offenheit, die für die kulturelle Vielfalt Haitis und die Widerstandskraft seiner Bevölkerung verantwortlich ist.

Die haitianische Revolution gilt als die umfassendste soziale Revolution in den Amerikas. In der zum Mythos geronnenen Vodouzeremonie am Bois Caïman leiteten der Vodoupriester (houngan) Boukman Dutty und die Vodoupriesterin (mambo) Cécile Fatiman den Aufstand 1791 ein, der im Jahre 1804 in den unabhängigen Staat Haiti mündete. Zweifellos gab es zahlreiche solcher Vodouzeremonien während der Revolution wie auch in ihrer Vorgeschichte. Schon 1757 kam es unter dem Maroonanführer François Mackandal zu Revolten. Über seine Gefangennahme, öffentliche Verbrennung und mutmaßliche Befreiung aus den Flammen hatte sich ein Mythos in das Vodounarrativ eingeschrieben: „Die Gewissheit, dass er die Hinrichtung durch die Franzosen überlebt hatte, spielte eine wichtige Rolle in der Organisierung späterer Aufstände. Siehielt das Vertrauen der Sklaven aufrecht, die in der Vodoureligion ein besonders starkes Gärmittel zur Steigerung ihre Energien fanden. Seither ist der Vodou weniger Religion als vielmehr eine politische Bewegung, eine Art schwarzer Geheimbund, dessen Ziel es war, die Weißen auszulöschen und die Schwarzen zu befreien.“2

In Haiti spielen die bis dahin noch bewaldeten Berge eine große Rolle, wohin sich viele vor der mörderischen Arbeitshetze und den Suchtrupps retten und Maroongesellschaften bilden konnten. Von dort aus, aber auch auf den Zuckerplantagen, wo versklavte Schwarze, frei geborene Schwarze und Mulatten zusammenkamen, wurde eine neue Kultur gegründet, basierend auf der Sprache Krèyol und der Vodoureligion. Der Vodou, so Susan Buck-Morss, verwandelte das geteilte „Trauma der Niederlage, Versklavung, Verbannung und der Schrecken der Überfahrt sowie der Plantagenarbeit im Zuge einer Explosion der kulturellen Kreativität in eine Vertrauensgemeinschaft“.3

Sidney Mintz und Michel-Rolph Trouillot sprechen in ihrer Sozialgeschichte zum haitianischen Vodou von einer Hochphase des Vodou um 1850. Seine wesentlichen Elemente konnten sich – trotz zunehmenden Einflusses der katholischen Kirche – bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts halten. Als die US-Amerikaner jedoch von 1915 bis 1934 Haiti besetzt hielten, wurde eine Zentralisierung vorgenommen, die den internationalen Handel auf die Hauptstadt Port-au-Prince beschränkte, was die bis dahin belebten Küstenstädte in schlafende Provinznester verwandelte und die wirtschaftliche Not der Kleinbauernschaft im Hinterland steigerte. Mintz und Trouillot gehen sogar so,weit zu sagen, dass die Besetzung Haitis durch die USA eine unwiederbringliche Zerstörung der Welt von 1804 bedeutete.

Während der US-Besatzung verfasste der New York Times-Journalist und okkultistische Weltenbummler William B. Seabrook sein Buch Magic Island, das in den USA überaus erfolgreich war und seinen LeserInnen eine gehörige Portion Exotismus und Rassismus verpasste. Seinen blasierten weißen LeserInnen in New York empfiehlt er ein wenig Opferblut in ihre Cocktails zu schütten und mit heiligem Feuer zu würzen, dann würden ihre nächtlichen Feiern vielleicht wieder etwas orgiastischer ausfallen wie einst in den heiligen Tempeln der Antike. Sich als „unpolitischer Mensch“ inszenierend schildert er, dass „eine der schwierigsten Aufgaben der amerikanischen Okkupation“ darin bestünde, „den Haitianern... klarzumachen“, „dass die Neger nach der göttlichen Weltordnung eigentlich eine untergeordnete Rasse sind und zu bleiben haben“.4

In Haiti waren es, wie schon in der Piquet-Revolte von 1844, militante Landarbeiter, die sich vom Vodou angetrieben zur Wehr setzten. In der Caco-Rebellion bekämpften sie die Kapitalniederlassungen der USA und die Enteignung ihrer Ländereien und stemmten sich mit Guerillataktiken gegen die Militarisierung und politische Zentralisierung ihres Landes sowie gegen die verordnete Zwangsarbeit. Besonders der Vatikan und die französische Priesterschaft vor Ort verstärkten die Vorurteile und den Rassismus, der von den US-Amerikanern gepflegt wurde. Der Bischof von Cap Haïtien gab zudem öffentlich bekannt, dass durch die Besatzung die Bevölkerung wieder zum Vodou getrieben werde und dass houngans und mambos die „Seele des Widerstandes“ gegen die Marines seien. Und tatsächlich: Charlemagne Péralte wie auch Benoît Batraville waren beides Vodoupraktiker und gleichzeitig die Anführer der Revolte und sie verwandten aufrührerische Lieder, die vom Vodou inspiriert waren, um die Kampfbereitschaft ihrer Gefolgsleute zu stärken.

Seabrooks Magic Island lieferte auch das Material für den ersten Zombiefilm White Zombie (1932). Der Film zeigt die Zombifizierung einer weißen Amerikanerin, jedoch weitgehend vom Vodoukontext abgekoppelt. Im Vodoualltag spielt das Zombiephänomen eine weitaus geringere Bedeutung als dies vorwiegend westliche Beobachtungen nahelegen wollen. Im Vodou steht der Zombie (zonbi) für eine untote Person, deren Körper, vor allem aber deren Geist von einem Vodoupriester (bokò) mit Mitteln der „schwarzen Magie“ kontrolliert wird um sie sklavische Arbeiten verrichten zu lassen. Der Schrecken der Sklaverei, aber auch die mehr als berechtigte Angst, wieder in sklavenähnliche Verhältnisse zurückzufallen, wird im zonbi metaphorisch zusammengefasst. Angst schüren deshalb auch nicht die zonbis an sich, sondern diejenigen, die zombifizieren, versklaven, die das Leben mittels Gewalt entfremden.

Gerade weil der Vodou nie hierarchisch institutionalisiert wurde und von den Leuten relativ autonom praktiziert werden konnte, blieb er bei allen seelsorgerischen Funktionen das, was er in der Zeit der Revolution und danach schon war, eine Praxis, die gerade wegen ihres synkretistischen Charakters offen gegenüber der Geschichte und gegenüber gegenwärtigen Verhältnissen bleibt. Dabei setzt der Vodou den Körper ins Zentrum seiner Praxis. Die Geister, die Geschichten der Vorfahren müssen immer wieder aufs Neue in die Körper schlüpfen, den Körper besteigen, erinnert und erfahren werden. Mit ihnen bezieht man Stellung im Hier und Jetzt. Das ist der politische Aspekt von Vodou. In ihm wird die Geschichte von Unterdrückung, Verfolgung, aber auch von Sieg und Niederlage körperlich wachgerufen, kollektiv erfahrbar gemacht und in Handlung überführt.

Eine beliebte religionswissenschaftliche Strategie ist es, den Vodou zu schützen und vor Rassismen zu bewahren, indem man ihm die Weihen einer Religion neben anderen verleiht, seine Theologie, Kosmologie und Ethik rekonstruiert, ihn gewissermaßen „normalisiert“ und so als „Weltreligion“ anerkennt. Nur ist der Vodou mehr als nur eine Religion. Er ist genuin politisch und unweigerlich mit dem Befreiungskampf verbunden, den die Mehrheit der verarmten haitianischen Bevölkerung seit Jahrhunderten bis heute führt.

  • 1. Vgl. Karen E. Richman: Migration and Vodou. Gainesville: University Press Florida 2008, S. 15–23
  • 2. Patrick Bellegard-Smith: Resisting Freedom: Cultural Factors Democracy – The Case Haiti, in: Claudine Michel/Patrick Bellegard-Smith (Hrsg.): Vodou in Haitian Life and Culture. Invisible Powers. New York: Palgrave Macmillan 2006, S. 102, Übers. d. Verf.
  • 3. Susan Buck-Morss: Haiti und Hegel. Für eine Universalgeschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2011, S. 170 ff.
  • 4. William B. Seabrook: Geheimnisvolles Haiti. Rätsel und Symbolik des Wudu-Kultes. München: Matthes & Seitz Verlag 1982, S. 131

Ende September erreichte uns die Nachricht vom überraschenden und tragischen Tod von Peter Scheiffele. Der Kölner Soziologe und Assistenzkurator der „Kölner Akademie der Künste der Welt“ starb am 29. September im Alter von 44 Jahren. Peter Scheiffele hatte in den letzten Jahren immer wieder mit der ila kooperiert, erst vor kurzem in unserer September-Nummer 388 zum Widerstandspotenzial des Vodou in Haiti und auch bei unserem ersten Haiti-Schwerpunkt vor fünf Jahren. Als Programmmacher im Kölner King Georg Club organisierte Peter Vortragsveranstaltungen zu Musik, Politik, Gesellschaftskritik und Widerstand, die von den ila-Redaktionsmitgliedern sehr geschätzt und häufig frequentiert wurden; auch in dem Bereich kam es immer wieder zu einer äußerst fruchtbaren Zusammenarbeit und zu verschiedenen gemeinsamen Veranstaltungen. Wir werden ihn vermissen.