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Folgt bald die Ent-Täuschung?

Die ersten Personalentscheidungen des neuen Papstes machen wenig Hoffnung

Zu den größten Enttäuschungen der Honduraner und Honduranerinnen, die sich sich für Demokratie und soziale Gerechtigkeit engagieren und deshalb häufig um ihr Leben fürchten müssen (vgl. Interview mit Dina Meza in der ila 331), gehört der Erzbischof von Tegucigalpa, Kardinal Óscar Rodríguez Maradiaga. Weil er die internationale Erlassjahrkampagne unterstützt hatte, erwartete man von ihm, dass er soziale Veränderungen in seinem Heimatland befürworte. Doch das tat er nicht, er begrüßte vielmehr den Putsch gegen Präsident Mel Zelaya im Juni 2009 und er schweigt seitdem zu den Menschrechtsverletzungen. Genau diesen Kardinal hat der neue Papst in einer seiner ersten Personalentscheidungen zum Koordinator der achtköpfigen Kardinalskommission ernannt, die dem Papst Vorschläge für eine Änderung der Verwaltung der Kirche vorlegen soll.

Manfred Etscheid

Papst Franziskus hat durch wenige Gesten viele Sympathien in der Öffentlichkeit gewonnen. Er fuhr nach der Wahl von der Sixtinischen Kapelle mit demselben Bus zum Papstpalast wie die Kardinäle und aß zusammen mit ihnen, d.h. er verhielt sich ihnen gegenüber nicht als der neue Papst, sondern als Gleicher unter Gleichen. Er lehnt es ab, als Staatsoberhaupt in einem Palast zu wohnen, und geht wie ein leitender Angestellter von seiner Wohnung in einem Gästehaus zu seinem Arbeitsplatz im Palast. Im Speiseraum des Gästehauses isst er dasselbe Essen wie die Gäste, in der Regel aber an einem getrennten Tisch. So wird er sich vermutlich auch als Leiter der argentinischen Jesuiten gegenüber seinen Mitbrüdern verhalten haben. Er begrüßte unmittelbar nach der Wahl die auf dem Petersplatz versammelten Gläubigen nicht mit einem frommen Spruch, sondern mit einem „Buona sera“. Er predigte am nächsten Sonntag wie ein Dorfpfarrer in der Pfarrkirche des Vatikans und reichte anschließend allen Teilnehmenden die Hand. Es ist der erste Papst, der einer Staatspräsidentin, nämlich der Argentinierin und seiner bisherigen Gegnerin Cristina Fernández de Kirchner, einen Wangenkuss gab. Dieser Stilwandel kann noch durch weitere Beobachtungen verdeutlicht werden.

Viele Kommentatoren schwärmten bereits unmittelbar nach der Bekanntgabe seiner Wahl zum Papst von einem Neuanfang in der katholischen Kirche, getreu dem Motto: „Der alte Papst ist zurückgetreten, es lebe der neue Papst.“ Unter den Päpsten ist er der erste aus Lateinamerika, der erste Jesuit, der erste, der sich unmittelbar als Seelsorger und als Bischof mit der Armut in Übersee und ihren Folgen auseinandergesetzt hat, der erste, der den Namen Franziskus und damit den Namen des Begründers eines Bettelordens angenommen hat.

Denjenigen, die ihm zujubeln, dient die Figur des neuen Papstes als Spiegelbild ihrer Wünsche an die Kirche. Wer vom Papst der Armen träumt, leidet unter dem Reichtum der katholischen Kirche. Wer den „menschlichen“ Papst bewundert, hat unter den ritualisierten Kontakten in der katholischen Liturgie oder unter dem von äußeren Formen geprägten Umgang zwischen den kirchlichen Funktionären und dem „Kirchenvolk“, den „Laien“ gelitten. Viele erwarten vom neuen Papst eine Verbesserung ihrer Befindlichkeit und ihres Wohlgefühls im Schoß der Kirche. Nach der Bekämpfung der Theologie der Befreiung erhoffen andere, dass die offizielle Kirche sie fortan in ihrem Kampf gegen Unrecht und Willkür unterstützt, den sie zusammen mit Ausgebeuteten und Entrechteten führen.

Die meisten, die ihre Befindlichkeit gegenüber der Kirche auf den Menschen Bergoglio projizieren, übersehen, dass vergleichbare Amtsinhaber stets zwei Leben haben, nämlich das Leben als Verkörperung eines Amtes und das private, eigene Leben. Der Mensch Jorge Bergoglio mag nett und freundlich sein, der Papst Franziskus handelt in einem Beziehungsgeflecht, dem auch er als absoluter Monarch unterworfen ist. Fast die einzigen kritischen Stimmen mit Bezug zur gesellschaftlichen Position des Papstes kamen von den Menschenrechtsgruppen aus seinem Heimatland Argentinien.

Er, den sie möglichst bald wegen des Verdachts einer engen Kollaboration mit der Militärjunta vor einem argentinischen Gericht sehen wollten, war plötzlich als Inhaber des Heiligen Stuhles rechtlich immun. Selbst eine Ladung des Zeugen Bergoglio, der wahrscheinlich umfassend Auskunft über das mutmaßlich enge Bündnis zwischen Bischöfen und Generälen geben kann, ist nun nicht mehr möglich.

Mehrere Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo baten Papst Franziskus in Briefen mit einem gelegentlich auch forschen Ton um Hilfe bei der Suche nach ihren verschwundenen Familienangehörigen. Am Mittwoch, dem 24. März 2013, wechselte Franziskus am Rande einer Generalaudienz mit ca. 100.000 Teilnehmenden ein paar liebe Worte mit Estela de Carlotto, der Präsidentin der Großmütter der Plaza de Mayo. Sie berichtete, der Papst habe ihr gesagt: „Rechnen Sie mit mir, ich stehe zu Ihrer Verfügung. Ich werde Ihnen helfen.“ Waren das Worte des Menschen Jorge Bergoglio oder des Papstes? Es ist zu hoffen, dass ihrem frischen Jubel über den neuen Papst nicht bald eine bittere Ent-Täuschung folgt.

Denn Franziskus hat Kardinal Óscar Rodríguez Maradiaga, Erzbischof von Tegucigalpa, Honduras, zum Koordinator der achtköpfigen Kardinalskommission ernannt, die dem Papst Vorschläge für eine Änderung der Verwaltung der Kirche vorlegen soll. Rodríguez mag ein Fachmann für Verwaltungsfragen sein. Er hat aber vor vier Jahren den Putsch in seinem Heimatland Honduras begrüßt. Er müsste sich damit für weitere Führungsaufgaben in der Kirche ausgegrenzt haben. Er steht für eine Kirche, die Putschisten nach dem Mund redet, entgegen den Bestimmungen des Kirchenrechtes, wonach sich Priester und Bischöfe nicht mittelbar oder unmittelbar an der Tötung von Menschen z. B. durch putschende Soldaten beteiligen dürfen. Er steht für eine Kirche, die ihre eigene Soziallehre vergisst. Denn Tyrannen können kein Recht setzen. Tyrann ist aber jemand, der die Staatslenkung widerrechtlich erobert hat (formaler Grund) und der seine Regierungsentscheidungen nicht nach dem Gemeinwohl aller ausrichtet, sondern zum Nutzen von wenigen inländischen und ausländischen Privilegierten und zur eigenen Bereicherung (inhaltlicher Grund). Besteht nicht für jeden Staatsbürger, und sei er ein Kardinal, die Pflicht, Tyrannen mit geeigneten Mitteln zu bekämpfen? Wenn dieser Grundsatz anerkannt ist, ist darüber zu reden, welche Mittel insgesamt und welche für den einzelnen Menschen „geeignet“ sind. Die Zustimmung zum Putsch ist kein geeignetes Mittel.

Die Beauftragung von Rodríguez macht Schwächen des gegenwärtigen Papstes deutlich. Vielleicht hat er selbst bei seinen Entscheidungen die Unterscheidung zwischen einem guten Herrscher oder Präsidenten und einem Tyrannen „vergessen“. Nach der Ausgrenzung von Theologinnen und Theologen, die der Theologie der Befreiung nahestehen und die die gesellschaftlichen Folgen ihrer kirchlichen Reden und ihres kirchlichen Handelns in ihr theologisches Denken einbeziehen, ist die Personaldecke im kirchlichen Spitzenbereich äußerst eng.

In der „Frankfurter Allgemeinen“ vom Ostersonntag1 beschreibt Josef Oehrlein eine Kirche der Armen gemäß den Vorstellungen von Kardinal Bergoglio: Priester wohnen in Elendsvierteln und führen dort liturgische Veranstaltungen durch, z. B. feierliche Messen, Prozessionen, Wallfahrten usw. Außerdem organisieren sie örtliche Entwicklungshilfeprojekte: eine Schule, eine Gesundheitsstation, einen Kindergarten usw. Es gibt keinen Bezug zu einer im weitesten Sinne revolutionären Bewegung, die – ausgehend von der Dependenztheorie – die Aufhebung der Folgen der Abhängigkeit vom Weltmarkt zum Ziele hat. Diese Art der Gesellschaftspolitik ist in der katholischen Kirche fest verankert. Die französische Arbeiterpriesterbewegung scheiterte, als sie politisch wurde. Sie wurde 1954 mit der politischen Begründung verboten, Priester dürften unter der Strafandrohung der Exkommunikation nicht mit Kommunisten zusammenarbeiten.

Als seit Beginn der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts Priester die Bevölkerung in Lateinamerika dazu aufriefen, ähnlich wie das Volk Israel aus dem Land der Knechtschaft aufzubrechen, um nach einem 40-jährigen Zug durch die Wüste zum gelobten Land zu gelangen, gab es sofort Konflikte mit den verschiedenen nationalen Eliten, die ihre Privilegien in Gefahr sahen und mit ihren eigenen Privilegien auch die Interessen derer verteidigten, von denen sie abhängig waren. Kardinal Ratzinger verurteilte mit Zustimmung des damals regierenden Papstes Johannes Paul II. diese Form der Theologie der Befreiung als marxistisch-kommunistisch und brach der Bewegung damit das Rückgrat. Oehrlein (siehe oben) zeigte, dass Kardinal Bergoglio einer Kirche vorstand, die einer politisierenden Lehre und einer politisierenden Praxis keinen Raum gibt. Sollte Papst Franziskus jetzt nach einem persönlichen Bekehrungserlebnis anders handeln können?

Dom Hélder Câmara, Erzbischof von Olinda e Recife, Brasilien, der zunächst 1964 den Militärputsch begrüßt hatte, war nach einer Bekehrung in der Lage, den Satz zu formulieren: „Wenn ich den Armen Brot gebe, bin ich ein Heiliger. Aber wenn ich erkläre, warum die Armen kein Brot haben, bin ich ein subversiver Kommunist.“ Für seine Erzdiözese legte er eine Änderung der Studienordnung seiner Priesteramtskandidaten fest; sie mussten fortan neben der klassischen Theologie auch Soziologie und Volkswirtschaftslehre studieren. Nur so seien sie in der Lage, die Grundlagen ihres Handelns als kirchliche Funktionäre zu verstehen.

Der Nachfolger Hélder Câmaras auf dem Bischofsstuhl von Recife hat die alte Studienordnung wiederhergestellt. Welchen Einfluss kann und will Papst Franziskus auf die Studienordnung von allen katholischen theologischen Fakultäten nehmen? Die „Freizeit-Revue“, ein Fachblatt für Fragen von Herz und Schmerz, berichtete in ihrer Ausgabe vom 20. März 2013, dass die niederländische Königin Máxima, die Tochter eines Regierungsmitgliedes der argentinischen Militärjunta, und Kardinal Bergoglio sich gemeinsam für gequälte und todkranke Kinder engagierten. Wenn das Engagement von Papst Franziskus auf diesem Niveau stehenbleibt, ist unter Berücksichtigung des oben zitierten Satzes von Dom Hélder Câmara das Urteil von Menschen, die sich für die Verwirklichung der Menschenrechte auch und gerade in den überseeischen Gebieten engagieren, bereits gesprochen.