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Denn er weiß nicht, was er tut

Argentinien: Die ersten 60 Tage von Javier Milei

Die Einwohner*innen des Landes an der Südspitze Südamerikas hassen es, wenn man ihr „großartiges“ Land als mittelmäßig bezeichnet. Sie müssen sich entweder an der Spitze der Welt befinden oder im tiefsten Keller. Dazwischen gibt es nichts. Und der frischgewählte Präsident Javier Milei (JM) lieferte in den ersten zwei Monaten seines Mandats eine Performance, die wahrhaftig alles andere als mittelmäßig ist.

Roberto Frankenthal

Milei hatte im zweiten Wahlgang zum Präsidentenamt 56 Prozent der Stimmen erhalten. Aber bei den Wahlen vom 22. Oktober 2023, wo auch die Sitze des argentinischen Parlaments zum Teil neu gewählt wurden, erreichte seine Koalition „La Libertad Avanza“ nur 35 (von 257) Sitzen in der Abgeordnetenkammer und acht (von 72) im Senat. Die logische Antwort auf diese Ausgangsposition wäre die Suche nach einer breiteren Basis, um das Land regierbar zu machen. Aber nicht so für Javier Milei. Kurz nach der ersten Wahlrunde im Oktober gab es ein Treffen zwischen Milei, seiner Schwester Karina Milei (genannt „El Jefe“), dem früheren Präsidenten Mauricio Macri sowie der unterlegenen Kandidatin Patricia Bullrich. Die beiden letztgenannten, ehemalige Mitglieder der gescheiterten Koalition „Juntos x el Cambio“ (2015 bis 2019 an der Regierung), versicherten Milei ihre Unterstützung bei der zweiten Wahlrunde, was ihm am 19. November schließlich zu den 56 Prozent verhalf.

Zwischen Wahlgewinn und Amtseinführung am 10. Dezember zeigte sich, dass zumindest die Überlegungen des früheren Präsidenten Macri (der Milei mit der Erwartung unterstützte, bestimmte Posten in der Regierung mit eigenem Personal zu besetzen) nicht aufgingen. Zwar ernannte Milei Patricia Bullrich zur Sicherheitsministerin, ihren Vizepräsidentschaftskandidaten Luis Petri zum Verteidigungsminister und Luis Caputo zum Wirtschaftsminister, allerdings ohne Absprache mit Macri. Luis Caputo war während der Regierung Macri zuerst Finanzstaatssekretär, dann Finanzminister und Präsident der argentinischen Zentralbank gewesen. Damit war er unter anderem verantwortlich für die Ausgabe von Schuldscheinen des argentinischen Staates mit einer Zahlungsfrist von 100 Jahren sowie für die Aufnahme eines 50-Milliarden-Dollar-Kredites beim IWF, als die argentinische Wirtschaft im Juni 2018 ins Wanken geriet.

Wunschliste des Establishments

Eine noch wichtigere Rolle in der neuen Regierung spielt Federico Sturzenegger, 2001 verantwortlich für ein Umschuldungsabkommen (Megacanje), das das Land wenige Monate später ins Chaos stürzte. Unter Macri war Sturzenegger Präsident der argentinischen Zentralbank, bevor er von Luis Caputo abgelöst wurde. Wochenlang, bis Mitte Januar, war seine offizielle Rolle in der amtierenden Regierung nicht klar; er soll nun die Leitung für eine Einheit zur Deregulierung der Wirtschaft im Präsidialamt übernehmen. Der Wirtschaftswissenschaftler Sturzenegger hatte offenbar seit mehreren Monaten an einem Regierungsprojekt gearbeitet, das allerdings von Kandidatin Bullrich umgesetzt werden sollte. Videoaufnahmen zeigen Sturzenegger mit mehreren Tausend ausgedruckten Seiten – ein Masterplan, der für Bullrich entwickelt wurde, aber von Milei umgesetzt werden soll. Logischerweise hat Sturzenegger dieses Konvolut nicht alleine verfasst. Anscheinend haben mehrere Anwaltskanzleien, die das argentinische Establishment vertreten, die Wünsche ihrer Mandanten aufs Papier gebracht. Caputos Rolle beschränkt sich angeblich nur auf die Suche nach frischen Finanzmitteln auf dem Weltmarkt, um die Regierung von Javier Milei zu stabilisieren. Der ehemalige Manager der Deutschen Bank war aber bis jetzt erfolglos, nur der IWF hat das mit der Vorgängerregierung Fernández geschlossene Abkommen weiter verlängert.

Diese niedergeschriebene Wunschliste des Establishments bildet die Grundlage für die Notverordnung 70/2023 und den Gesetzentwurf „Ley de Bases y Puntos de Partida para la Libertad de los Argentinos“ (Grundlagengesetz für die Freiheit der Argentinier, auch „Ley Omnibús“ genannt).

Erklärtes Ziel von Milei ist die absolute Deregulierung der Wirtschaft und die Auflösung aller sozialer Verpflichtungen für die Allgemeinheit. Das Zusammenleben der Menschen soll nur noch durch Marktgesetze bestimmt werden. Bei seiner Ansprache in Davos im Januar 2024 hat Javier Milei bewiesen, dass sein wirtschaftspolitischer Fanatismus und seine politische Kurzsichtigkeit parallel verlaufen. Und wie sein Vordenker Friedrich von Hayek1 pfeift auch Milei auf die Demokratie: Nur die reine Marktwirtschaft zählt.

Folterinstrumente zur Veränderung der Gesellschaft

„Decretos de Necesidad y Urgencia“, so heißen Notverord­nungen in Argentinien. Die Verfassungsreform von 1994 schreibt vor, wann das argentinische Staatsoberhaupt von diesem legislativen Instrument Gebrauch machen kann, nämlich wenn das Parlament aus welchen Gründen auch immer nicht tagen kann und ein dringendes Problem gelöst werden muss. Alle argentinischen Präsident*innen haben solche Verordnungen erlassen. Doch keines der Dekrete hatte 300 Artikel, wie das am 20. Dezember von Milei vorgestellte Dekret 70/2023. Im ersten Artikel der Verordnung wird der Notstand in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Steuern, Verwaltung, soziale Sicherheit, Tarife, Gesundheit und Soziales bis zum 31. Dezember 2025 ausgerufen. Des Weiteren wird die Absicht genannt, alle Staatsunternehmen in Aktiengesellschaften umzuwandeln (zwecks Privatisierung), die bisher gültige Arbeitsgesetzgebung wird für ungültig erklärt, das Streikrecht durchlöchert (durch die Einführung von Mindestdiensten im Streikfall), das Zollrecht, Flugrecht und bestimmte Artikel des Zivil- und Handelsrechtes werden geändert, Preisbremsen bei Mieten und privaten Krankenversicherungen ausgesetzt sowie der Verkauf von Arzneimitteln außerhalb von Apotheken zugelassen. Im Dekret tauchen auch seltene Vorhaben auf, etwa dass sich Fußballvereine als „Sportaktiengesellschaften“ organisieren können (angeblich ein Sonderwunsch Mauricio Macris). Ferner gibt es darin Artikel, die mehr oder weniger auf Bestellung geschrieben wurden: In seiner Ansprache erwähnte Javier Milei eine veränderte Regulierung der Internetdienste, damit ein satellitenbasiertes System wie Starlink von Elon Musk in Argentinien funktionieren kann.

Die fehlende Beteiligung jeglicher Rechtsberater*innen aus der Exekutive bei der Niederschrift des Dekretes müsste theoretisch ausreichen, um es für null und nichtig zu erklären. In der Zwischenzeit hat es mehr als 100 Klagen gegen die Notverordnung gegeben; per einstweiliger Verfügung wurde das gesamte Kapitel zum Arbeitsrecht zunächst gestoppt. Das Parlament kann durch gemeinsame Beschlüsse beider Kammern die Notverordnung aufheben, im Senat gibt es anscheinend auch eine Mehrheit dafür. Bis jetzt scheiterte dieses Vorhaben jedoch an der Weigerung der Senatsvorsitzenden und argentinischen Vizepräsidentin Victoria Villarruel, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen.

Beschimpfungen statt Verhandlungen

Beim „Ley Omnibús“ wurden bestimmte Themen noch vertieft. Der Antrag, der in der Originalfassung über 600 Artikel umfasste, sollte den Präsidenten mit Vollmachten in Wirtschaft, Finanzen, Steuern, Verwaltung, sozialer Sicherheit, Tarifen, Gesundheit, Soziales und Sicherheit ausstatten, zunächst bis Ende 2025, mit der Möglichkeit, die Vollmachten um zwei weitere Jahre zu verlängern (also die gesamte Amtszeit Mileis). Am Ende des Antrages versteckt sollte das Parlament die Notverordnung 70/2023 genehmigen. Eingebracht wurde der Antrag am 27. Dezember 2023. Ein so umfassendes Projekt hätte normalerweise sämtliche Ausschüsse der Abgeordnetenkammer beschäftigt, aber es wurde beschlossen, dass nur drei Ausschüsse über den Antrag verhandeln und abstimmen würden, bevor es im Plenum endgültig verabschiedet wird. Zu den Sitzungen erschienen allerdings nur wenige Regierungsmitglieder (weder der Wirtschaftsminister noch Sonderberater Sturzenegger), zweit- oder drittrangige Funktionäre mussten die Fragen der Volksvertreter*innen beantworten. Andererseits äußerten sich über 200 Vertreter*innen der Zivilgesellschaft gegen Teile des Projektes. Während Wissenschaftler*innen die Streichung von Subventionen bei Forschung und Entwicklung bemängelten, kritisierten Künstler*innen die Pläne, sämtliche Nationalfonds zur Förderung der argentinischen Kultur zu streichen. Die Fischfangindustrie machte auf die Konsequenzen aufmerksam, wenn sämtliche Restriktionen für ausländische Schiffe in argentinischen Gewässern aufgehoben werden, und die Zitronenanbauer aus Tucumán bemängelten die Erhöhung der Ausfuhrsteuern für Saftkonzentrate.

Hinter den Kulissen entbrannte ein weiterer Kampf, nämlich zwischen der Zentralregierung und den jeweiligen Provinzen. Viele der geplanten Maßnahmen könnten für bestimmte Provinzen den wirtschaftlichen Zusammenbruch bedeuten. Dazu gesellten sich Pläne der Milei-Regierung, die absolute Schuldenbremse zu ziehen, was die Umverteilung nationaler Finanzmittel gefährden könnte.

Die Fraktion des Präsidenten konnte bei den Verhandlungen nur auf die Unterstützung der 38 Abgeordneten der Macri-Partei PRO zählen. Zusammen bilden beide Fraktionen nur eine Minderheit von 73 Stimmen. Demgegenüber standen ablehnend die 100 Stimmen der peronistischen „Unión por la Patria“ und die drei des Linksbündnisses „FIT“. Mehrheitlich mit der Regierungsfraktion, manchmal auch dagegen stimmte eine bunte Gruppe kleinerer Fraktionen: a) die Vertreter*innen der UCR (frühere Koalitionsmitglieder von Macris PRO) mit 34 Mitgliedern b) Inovación Federal (vertreten dem Peronismus nahestehende Provinzgouverneure), neun Mitglieder c) Hacemos Coalición Federal, buntes Sammelbecken, zusammengesetzt aus orthodoxen Peronist*innen, fortschrittlichen Sozialdemokrat*innen aus Santa Fe und Einzelabgeordneten verschiedener politischer Richtungen, insgesamt 23 Mitglieder. Ferner gibt es sechs weitere parlamentarische Gruppen mit insgesamt zwölf Mitgliedern. Angesichts dieser Ausgangssituation wären Verhandlungen naheliegend, um das Grundlagengesetz vom Parlament genehmigen zu lassen. Aber Javier Milei weigerte sich, seine Pläne zu ändern. Verbesserungsvorschläge wurden zwar angenommen, richtige Verhandlungen aber abgelehnt. Im Gegenteil: Bei jedem Einwand, auch vonseiten der wohlwollenden konservativen Opposition, beschimpfte Milei sie als korrupte Politiker, die seine Gesetze nur blockierten, um ihre Pfründe zu verteidigen.

Ende Januar sah die Regierung schließlich ein, dass das 600 Artikel umfassende legislative Machwerk keine Zustimmung bei der Abgeordnetenkammer erhalten würde. Minister Caputo zog die Reißleine und strich das gesamte Kapitel Finanzen (über 200 Artikel). Über diese Kurzfassung, die es noch nicht einmal in digitaler Form gab, wurde dann am 2. Februar abgestimmt. Niemand der Abgeordneten hatte eine schriftliche Fassung der Vorlage, wusste also genau, worüber abgestimmt wird. Dennoch stimmten 144 Abgeordnete für das Grundlagengesetz und 109 dagegen. Die wichtigste Abstimmung sollte aber am 6. Februar beginnen, als die Abgeordneten über die einzelnen Artikel entscheiden sollten. Das dazwischen liegende Wochenende sollte offenbar für Verhandlungen genutzt werden, aber Milei zeigte erneut keinerlei Verhandlungsbereitschaft. Als bei der Abstimmung sechs der zwölf ersten Artikel mehrheitlich abgelehnt wurden, entschied die Regierung den Antrag zurückzuziehen. Javier Milei war zwischenzeitlich auf Reisen und beschimpfte erneut die wohlwollende Opposition als „Verräter“. Danach drohte er mit einer Volksabstimmung über den Gesetzesantrag, was aber für das Parlament nicht bindend wäre.

Die sozialen Kosten der ersten 60 Tage

Als Milei am 10. Dezember die Amtsgeschäfte übernahm, war die wirtschaftliche und soziale Lage für die Mehrheit der Bevölkerung alles andere als rosig. 160 Prozent Jahresinflation und 40 Prozent der Bevölkerung unter der offiziellen Armutsgrenze waren die Ausgangslage. Besonders zwei der ersten Maßnahmen der neuen Regierung verschlechterten die Lage noch mehr. Erstens wurde der offizielle Wechselkurs zum Dollar um 122 Prozent nach unten korrigiert, was zu Preiserhöhungen in allen Bereichen führte. Gleichzeitig wurden alle bisher gültigen Preisbindungen für Grundnahrungsmittel aufgegeben. Die Kürzung der Subventionen im öffentlichen Verkehrssystem war die nächste Maßnahme. Im Dezember lag die Inflation bei monatlich 25 Prozent und im Januar auf über 20 Prozent. Im Jahresschnitt beträgt sie nun etwa 230 Prozent. Was bedeuten diese makroökonomischen Zahlen? Seit dem Amtsantritt ging der Verkauf von Arzneimitteln um etwa 52 Prozent und von Lebensmitteln um 30 Prozent zurück. Die 40 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze waren bis zum
10. Dezember durch ein engmaschiges Netz von etwa 50 000 Volks­­­küchen versorgt worden. Diese hatten Geld vom Sozial­ministerium erhalten. Seit dem Amtsantritt wurde dieser Geld­fluss unterbrochen. Die aus den Fugen geratene Inflation versucht die amtierende Regierung durch einen erheblichen Konsumrückgang unter Kontrolle zu bekommen. Diese selbst verursachte Rezession wird auch die Staatseinnahmen reduzieren und die Rückzahlung der Auslandsschulden so gut wie unmöglich machen. Schon jetzt wird spekuliert, dass im März oder April eine erneute Abwertung des Peso stattfindet, dieses Mal um die Agrarexporteure zufrieden zu stellen. Die stetige Abwertung des Peso soll mittelfristig den Weg zur Dollarisierung ebnen. Jüngsten Angaben zufolge leben Ende Januar 2024 etwa 60 Prozent der Argentinier*innen unter der offiziellen Armutsgrenze.

Denkt Milei überhaupt?

In zwei Fernsehinterviews (eins mit dem italienischen, eins mit dem argentinischen Fernsehen) hat Milei erneut vom Staat als „verbrecherischer Organisation“ gesprochen. Nun ist er nicht mehr Talk-Show-Gast im Fernsehen, sondern selbst Staatsoberhaupt. Im römisch-lateinischen Recht (Grundlage des argentinischen Systems) gibt es einen Grundsatz: „Bei Geständnis erübrigt sich die Vorlage von Beweisen.“ Milei versteht sich also als Oberhaupt einer verbrecherischen Organisation und als solches agiert er. Mit einer Regierungsmannschaft, deren Inkompetenz schon mehrmals bewiesen worden ist, mit Vertreter*innen im Parlament, die nicht einmal die Hausordnung kennen, und unfähig, Kompromisse zu schließen, reitet die Regierung von Javier Milei in die Apokalypse. Vier Jahre Amtszeit werden für die Mehrheit der Bevölkerung eine richtige Qual werden. Das Problem ist, dass das demokratische System im Moment keine Alternativen vorweisen kann. Umfragen zufolge soll Milei binnen 60 Tagen 15 bis 20 Prozent an Unterstützung verloren haben. Kein möglicher Ersatzkandidat scheint tragbar. Mauricio Macri versucht aus der Unerfahrenheit der Regierung Profit zu schlagen und wartet auf einen Hilferuf aus dem Regierungspalast. Die ehemalige Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner zog sich zunächst ins ferne Santa Cruz zurück und präsentierte Mitte Februar ein 33-seitiges Positionspapier mit einer lesenswerten Analyse der Lage, aber ohne konkrete Alternativen. Den Protest auf der Straße versucht Sicherheitsministerin Bullrich mit Tränengas, Pfefferspray und Gummigeschossen unter Kontrolle zu halten. Das klappt auch, wenn maximal 10 000 bis 15 000 gleichzeitig demonstrieren, nicht aber, wenn wie am 24. Januar 400 000 Menschen in Buenos Aires und nochmals so viele im Landesinneren auf die Straße gehen, um gegen die Regierungspolitik zu protestieren. Rein kalendarisch endet der argentinische Sommer am 21. März. Aber dieser wird ein extrem langer und heißer Sommer werden, nicht nur wegen der hohen Außentemperaturen.

  • 1. Von Hayek erklärte bei einem Besuch in Chile während der Diktatur Pinochets, dass er eine wirtschaftsliberale Diktatur einer demokratisch gewählten, aber interventionistischen Regierung vorziehen würde.