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Wie ein Hund, der in seine Ecke pinkelt?

13 Storys aus Kuba
Ute Evers

Es gibt Bücher, denen geht bereits vor der Lektüre eine gewisse Lesehaltung voraus, die das Literarische in den Hintergrund rücken lässt. Nicht selten tragen Verlage selbst dazu bei, wenn sie versprechen, „das Land besser kennenzulernen“, liest man eben den aktuell herausgekommenen Titel aus dem Verlagsprogramm. Ein Schriftsteller wie Ángel Santiesteban, um dessen neueste Veröffentlichung es hier gehen soll, benötigt extraliterarisches Marketing nicht. Denn Santiesteban gehört zu den großen cubanischen Erzähler*innen seiner Generation. Seine Geschichten sind keine verkürzten Romane. Es sind stimmig abgeschlossene Geschichten, verdichtet auf wenige Seiten, die Fabulierkunst auf engem Raum beweisen.

Nun liegt mit „Stadt aus Sand. 13 Storys aus Kuba“ ein neuer Band von weltweit erstmals veröffentlichten Kurzgeschichten vor. Die 13 Storys wurden in den Jahren 2016 bis 2022 verfasst. Sie handeln von Prostitution, willkürlicher Polizeigewalt, unsäglichen Umständen in Gefängnissen, von Korruption im Staatsapparat, Rassismus, von Opportunismus als Überlebensstrategie, von der Absurdität des Lebens und von Zensur, so die letzte Kurzgeschichte „Ein Schatten in meinem Garten“, die einem literarischen Manifest gleichkommt. Die Hauptfiguren sind klassische Antiheld*innen, einige von ihnen stammen aus Familien der vorrevolutionären Oberschicht von 1959, sie sind die Verlierer*innen eines Systems, das sie nicht frei von wirtschaftlichen oder ideologischen Restriktionen leben lässt. Es gibt verschrobene Eremiten, die sich aus dem sozialen Leben zurückziehen, aus Angst vor Repressionen. Einigen haftet ein Larmoyanz-Duktus des „die Schuld haben nur die anderen“ an.

Stilistisch entwickeln die 13 Storys unterschiedliche Dynamiken, mal werden sie realistisch, fast einem Bericht gleich erzählt, andere wirken parabelhaft oder führen fantastische Passagen ein. Sie sind (gelungen) kafkaesk, tragisch und hoffnungslos, ironisch bis sarkastisch. Nicht selten insinuieren sie ein offenes Ende, selbst der kleinste Schimmer auf ein Happy End wird im Keim erstickt. So etwa die titelgebende erste Kurzgeschichte. Sie handelt von minderjährigen Mädchen, die illegal in der Hauptstadt der Prostitution nachgehen. Doch nicht die halsabschneiderische Wirtin, bei der die Mädchen ebenso illegal unterkommen, oder die Notwendigkeit überhaupt, sich prostituieren zu müssen, bringen die Tragik auf den Höhepunkt. Es ist vielmehr die Flucht in eine Traumwelt als einziger Ausweg, wenn das reale Leben die Mädchen zu ersticken droht in dem einer Gefängniszelle ähnlichen Zimmerchen, das sie sich für teures Geld zu fünft teilen müssen. „Die anderen Mädchen hören nicht länger zu (…) sie wenden sich ab (…) und der Wind fegt den erstickenden Dunst aus dem Zimmer, bläst ihnen die Hüte vom Kopf, zaust ihre Frisuren (…). Vor ihren Augen verwandelt sich das Zimmer, es ist jetzt eine Landschaft mit Bergen (…) und fröhlich laufen sie los, als wollten sie die Sonne einfangen.“ Doch es wäre nicht Santiesteban, wenn er die Mädchen in ihrem bukolisch anklingenden Idyll glücklich werden ließe. Diese zur Dystopie mutierten Zukunftsträume sind durchzogen von den hässlichen Seiten des unnachgiebigen realen Lebens, das kein Träumen mehr erlaubt.

Auch in „Das Skelett des Herrn Morales“ schafft sich der Protagonist eine Bilderwelt der Fantasie, die dem allwissenden Erzähler den Weg ebnet, die sozialen Missstände zu benennen, die eng verbunden sind mit der Anhäufung von Abfall im öffentlichen Raum. „Er kann sich sein Viertel nicht mehr vorstellen ohne diesen Müll, so sehr erinnern sie ihn an das geliebte Ägypten seiner Fantasie.“ Die Gegenüberstellung der realen mit der Fantasiewelt dramatisiert einmal mehr die Wirklichkeit. Ein literarisches Stilmittel, das kein neues ist, der Erzähler aber geschickt anzuwenden weiß. Selten hat man den Eindruck, dass diese fließenden Übergänge oder auch Brüche konstruiert daherkommen.

Eines der großen literarischen Themen des 1966 in Havanna geborenen Schriftstellers ist das Gefängnis. Vielleicht weil er es selbst erlebt hat. Fest steht, dass sich Themen um das Gefängnis wie ein roter Faden durch sein Werk ziehen, mal direkt, mal indirekt. Es ist nicht übertrieben, ihn damit in eine Tradition der Gefängnisliteratur einzuordnen, 1938 in „Hombres sin mujeres“ von seinem Landsmann Carlos Montenegro erstmalig literarisch aufgegriffen. In den 13 Storys wird das Thema insbesondere in vier Kurzgeschichten in den Fokus genommen. In „Richelieus Männer“ zum Beispiel, die unter anderen der Bloggerin Yoani Sánchez gewidmet ist. Ein politisches Signal, mit dem sich Santiesteban mit der cubanischen Dissidenz im Land solidarisiert. In dieser Story also werden der Ich-Erzähler und seine Frau willkürlich verhaftet, verhört und maßlos misshandelt, um später, dem körperlichen und nervlichen Zusammenbruch nahe, wieder entlassen zu werden. Das Delikt? Zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Oder in „Trautes Heim“, das wohl auf Santiestebans persönlichen Erfahrungen beruht, erinnert sich der Häftling Mandy an einen Tag im Gefängnis. Es wurde Besuch von ausländischen Journalisten erwartet, die über die Menschenrechte in Cuba berichten wollten. Die Maßnahmen, sowohl Anstalt als auch Häftlinge auf Hochglanz zu bringen, sind Anlass, auf unsägliche hygienische Umstände und Misshandlungen, denen vor allem die schwächeren Häftlinge ausgesetzt sind, zu verweisen.

In einigen Kurzgeschichten ist eine politisch motivierte Konnotation herauszulesen, direkt oder indirekt, nicht selten ironisch daherkommend. „Doch so groß der innere Konflikt auch sein mag, das Aufeinanderprallen der Kulturen und das Trauma der Rückkehr, es lohnt sich gewiss, mich der Herausforderung zu stellen. Ich bin bereit, hin und wieder zurückzukommen, ohne dass meine Psyche Schaden nimmt, und im Ideologischen werde ich erst recht standhaft bleiben.“ Das überlegt in „Dolce Vita“ der Ich-Erzähler, der, das ist offensichtlich, scheitern wird.

Man könnte sich tatsächlich in einer literarisch-politischen Debatte verlieren. Die Erzähler bedienen sich Vergleichen, die, wie mir scheint, Symbolhaftigkeit erkennen lassen, zum Beispiel in der Geschichte „Der Äquilibrist“, die sich im Jahr 2009 verorten lässt. „Wann immer die Lehrerin auf die arbeitende Klasse zu sprechen kam, konnte man wetten, dass sie an seine Schulbank trat und ihm einen müden Blick schenkte, als hätte sie es satt, müsste aber zugleich ihr Revier markieren, wie ein Hund, der in seine Ecken pinkelt, um die anderen Artgenossen zu verscheuchen.“ Einige Seiten vorher hingegen steht ein anderes Tier der ehemaligen vorrevolutionären Oberschicht Pate: „Entsetzt lasen JMs Eltern und Großeltern Tag für Tag die Nachrichten in den Zeitungen, spürten, dass man sie in die Enge trieb wie einen Bären auf der Flucht, der die hintere Wand der Höhle erreicht hat und sich dort versteckt.“ Diese Tiersymbolik ist nicht zufällig gewählt. Auch wenn der Bär in der Literatur viele Bedeutungen hat, so ist hier der Kontext deutlich. Der Mensch treibt den starken Bären nur mit Waffen und in Überzahl in die Flucht. Nicht zuletzt lamentiert der Erzähler wenige Zeilen vorher, dass die Sieger (der Revolution) durch Waffengewalt an die Macht gekommen seien.

Eine ausgesprochene Atmosphäre zwischen Humor, Ironie und Sarkasmus findet man in diesem Buch, wie in „Der Tod im Spiegel“. Die Bewohner*innen eines Gebäudes tragen eine bereits tote Frau Stockwerk für Stockwerk höher, nicht nur, um sich selbst vor dem Wasser zu retten, das ein Wirbelsturm mit sich bringt, und das Etage um Etage steigt, sondern auch, um die Verstorbene zu retten.

Santiesteban, der mit den Premios Uneac, Alejo Carpentier und Casa de las Américas fast alle wichtigen cubanischen Literaturpreise erhalten hat, ist der Gruppe der „Novísimos“ zuzuordnen, eine Definition, die von dem angesehenen Literaturwissenschaftler Salvador Redonet (Havanna, 1946-1998) geprägt wurde und sich auf die zwischen 1958/59 und 1972 Geborenen bezog. Margarita Mateo, ebenfalls Schriftstellerin und Literaturprofessorin aus Havanna, definierte die in den Werken dieser Generation auftretenden Protagonist*innen folgendermaßen: „ (…) Studenten, die von Doppelmoral bedrängt werden; „jineteras“ mit zweifelhafter Sinnlichkeit und ungewissem Schicksal; jugendliche „Pillenknacker“, die sich in ihre Drogenerfahrungen vertiefen (…) junge internationalistische Soldaten aus dem Krieg in Angola, die mit einer neuen Auffassung von Heldentum kämpfen (...) Außenseiter, die aus der Ferne ihren eigenen Kontext beobachten, sind einige der neuen Protagonisten, die in die Erzählung der novísimos hineinplatzen und einen ständigen Kontrapunkt zu den bereits von der Tradition gezeichneten Figuren und Konflikten bilden.” So wird Mateo im Vorwort der 2007 erschienenen Anthologie „Los que cuentan” zitiert. Auch Santiesteban ist hier vertreten, mit der Geschichte „Noche de ronda“. Man merkt: Er ist nicht das „Ausnahmetalent“ (Michi Strausfeld) unter den cubanischen Erzähler*innen. Doch gehört der damalige Schüler des „Centro de Formación Literaria Onelio Jorge Cardoso“ in Havanna, das ja, zu den Besten seiner Generation. Ob man seine Negativismen in so geballter Form lesen will, steht auf einem anderen Blatt.