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Die Funktion von Mythen

Eduardo Halfon im Kölner Stadtgarten
Klaus Jetz

Eigentlich sollte er schon 2019 kommen, um seinen neuen Roman „Duell“ vorzustellen, doch wegen der Pandemie dauerte es fast zwei Jahre, bis die beiden Kölner Autoren Guy Helminger (ursprünglich aus Esch-sur-Alzette, Luxemburg) und Navid Kermani (ursprünglich aus Siegen) kurz vor Weihnachten Eduardo Halfon in ihrem literarischen Salon im Kölner Stadtgarten begrüßen konnten. Der Hanser-Verlag bewertet den Guatemalteken Halfon als „einen der wichtigsten Schriftsteller der jüngeren lateinamerikanischen Literatur“. Diese Formulierung benutzt zwar fast jeder Verlag, der einen Autor oder eine Autorin aus Lateinamerika im deutschen Sprachraum einführen möchte, aber bei Eduardo Halfon könnte etwas dran sein. Seine Bücher werden von Rezensent*innen überschwänglich als sprachlich verdichtete Familiengeschichten und poetische Meisterwerke gelobt.

Halfon wurde 1971 in Guatemala-Stadt geboren, wanderte 1981 mit seinen Eltern in die USA aus, wo er die Schulbildung abschloss und ein Ingenieurstudium absolvierte. Doch bald orientierte er sich um und wandte sich der Literatur zu. Bis vor kurzem lebte er in Guatemala und Iowa, wo er an der Universität als Literaturprofessor arbeitete. Zurzeit wohnt er in Frankreich. Bekannt wurde Halfon mit seinem Roman „Der polnische Boxer“, der 2014 auf Deutsch erschien.

Im Mittelpunkt von „Duell“ steht der ältere Bruder von Halfons Vater, Salomon, der als Fünfjähriger im Amatitlán-See ertrunken sein soll. Doch wie passt diese Geschichte zusammen mit vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos, die den Jungen 1940 im verschneiten New York zeigen, wo er auch beerdigt sein soll? Der Erzähler Eduardo, Halfons Alter Ego, begibt sich auf eine Reise an den Lago Amatitlán und befragt Leute im Dorf, den Gärtner des Landhauses, in dem seine Eltern wohnten, und eine alte Kräutersammlerin. Doch niemand kann ihm über den mysteriösen Tod seines Onkels Salomon Auskunft geben. Die Geschichte bleibt im Dunkeln.

Diese Technik des Auslassens, Nicht-Aussprechens, des Im-Verborgenen-Bleibens sei typisch für seine Erzählweise, so Halfon. Er nennt Hemingways Eisbergmodell als Vorbild. Auch dessen Sprache sei konzis, seine Erzählungen lebten von Andeutungen und Ellipsen. Die Leser*innen und ihre Vorstellungskraft seien gefordert. Hemingway hatte das Aussparen im Text gerühmt; solange der Schriftsteller aufrichtig schreibe, empfänden die Leser*innen das Weggelassene so stark, als habe der Autor es niedergeschrieben. Ein Eisberg bewege sich deshalb so anmutig, weil nur ein Bruchteil von ihm über der Wasserlinie sichtbar sei.

Er, Halfon, könne nicht erklären, wie ihm diese Technik gelinge, das sei eben das Mysterium der Literatur. Ein Beispiel ist eine kurze Episode mit einem Soldaten am Billardtisch in einer Kneipe am Lago Amatitlán. Der fragt Eduardo lapidar, ob der General ihn geschickt habe. Wir erfahren nichts weiter und lassen unserer Phantasie freien Lauf (Drogenkriminalität, Repression, Korruption), aber wahrscheinlich erfahren wir in einem anderen Buch mehr über die Hintergründe.

Befragt von seinen Gastgebern in Köln, die nicht locker lassen, rückt Halfon mit einigen technischen Details heraus. Man müsse sein gesamtes Werk betrachten, auch alle anderen Bücher, die zusammengenommen einen großen Roman ergäben. Bei diesen Kompositionen plane er durchaus wie ein Ingenieur. Er habe über 40 Einzelgeschichten geschrieben, die er immer wieder anders zusammenfüge zu kürzeren Romanen. Darüber hinaus unterscheiden sich die verschiedenen Ausgaben von Land zu Land, die jeweiligen Übersetzungen seiner Bücher sind nicht deckungsgleich. Einige Geschichten kommen immer wieder vor, etwa die seines Großvaters aus Lódz, der, von seinem Enkel nach den eintätowierten Ziffern auf dem Unterarm befragt, stur behauptet, es sei seine Telefonnummer, die er sich habe einbrennen lassen, damit er sie nicht vergesse.

In seiner Familie habe es viele Tabus gegeben, Dinge, über die nicht gesprochen wurde, etwa die Ermordung eines Teils der Familie im Holocaust, die Entführung des anderen, libanesischstämmigen Großvaters durch die Guerilla im Guatemala der 1970er-Jahre, ein Thema, das er in seinem neuen Roman „La canción“ (Barcelona 2021) aufgreife, oder eben den Tod des jungen Salomon.

Der deutsche Titel „Duell“ erkläre sich aus dem Gegenüber von Fiktion (Tod im Lago Amatitlán) und Realität (Tod und Begräbnis in New York) im Roman. Der spanische Titel „Duelo“ sei mehrdeutig, verweise auch auf die Trauer in der Familie. Zudem bedeute die verbale Form jemandem wehtun; diese Facetten gehen in der deutschen Übersetzung verloren.

Seine Heimatlosigkeit habe großen Einfluss auf sein literarisches Werk, sagt Halfon, als Kermani ihn nach seiner Identität oder Bedeutung von Identität für ihn fragt. Vielleicht sei gerade dies ein sehr jüdisches Thema, das Gefühl, nirgendwo zuhause zu sein, sich immer als Zuschauer zu fühlen. Er hätte gerne eine Heimatstadt, die er lieben könne, so wie Joyce Dublin oder irgendein anderer Autor, der seiner Stadt ein literarisches Denkmal setzt. Doch er könne über Belgrad, Berlin oder Guatemala schreiben, habe polnische, libanesische und guatemaltekische Wurzeln und könne viele Masken tragen, eine mittelamerikanische, nordamerikanische, spanische oder französische. Auf zwei Säulen aber basiere sein Werk: Ein spanischer Journalist habe ihn gefragt, welche Bücher, die er nicht gelesen habe, sein Werk beeinflusst hätten. Ihm seien auf Anhieb die Thora und der Popol Vuh eingefallen.

Natürlich seien Identität und Erinnerung, der Holocaust und der Umgang damit Themen, über die er kurz und knapp schreibe. Dabei habe er seine eigene Poetologie und Technik entwickelt.

Und sein Guatemalabild? Hungersnot und Geflüchtete, die Armut und Ungleichheit im Land seien unhaltbar, die Realität sei schrecklich. Diese Zustände machten ihm als Bürger natürlich große Sorgen. Für ihn als Autor stünde aber nicht die aktuelle Realität im Vordergrund, ihn interessiere vielmehr das literarische Guatemala. Hier hätte sich das Publikum im Stadtgarten wohl weitere Diskussion gewünscht, zumal ein Großteil der Literatur Guatemalas immer auch eine sehr realistische, politische und engagierte war, man denke an Autoren wie Miguel Angel Asturias oder Rodrigo Rey Rosa. Doch da waren die 90 Minuten bereits wie im Flug vergangen. Außer den beiden genannten Büchern ist 2016 „Signor Hoffmann“ im Hanser Verlag erschienen. Auf die weiteren Bücher des Autors bin ich gespannt.