Der kommende Aufstand ist da
Die Aufstände, die sich gerade überall in der Welt abspielen, kommen überraschend und haben fast abwegige Auslöser, so eine auf den ersten Blick minimale Preiserhöhung der Metro in Chile oder die WhatsApp-Steuer im Libanon. Sie alle gehen ums Ganze, um eine vage Idee von einer fundamentalen Veränderung. Was schnell und explosiv auflodert, kann auch wieder verglühen. Denn die materielle Seite der Forderungen lässt sich möglicherweise im Rahmen des Systems befriedigen. Für die grundlegende Veränderung, die sich alle wünschen, gibt es noch nicht mal einen Namen.
In Haiti war der seit Mitte September ununterbrochen tobende Aufstand hingegen vorhersehbar. Seit über einem Jahr finden regelmäßig Demonstrationen statt, die schon manches Mal den Charakter eines Aufstandes trugen. Ausgangspunkt ist der Skandal um die Einnahmen aus Verkäufen von Erdöl, das Venezuela noch vor der eigenen Krise an viele Länder in Lateinamerika gegen einen preiswerten Kredit abgab, um ihnen durch den Erlös des Weiterverkaufs Mittel für soziale Maßnahmen zur Verfügung zu stellen. Diese Petrocaribe-Dollars in Milliardenhöhe wanderten zum großen Teil in die Taschen der einheimischen Oligarchien. Zwei Berichte des haitianischen Senats und eine transnationale soziale Bewegung, die in den sozialen Medien der haitianischen Diaspora wie in Haiti selbst ihren Ursprung hatte, lösten diese Proteste im Sommer vergangenen Jahres aus. Es begann nicht mit einer unerwarteten Explosion, sondern mit einer gezielten Aktion. Über die sozialen Medien wurden Aktivistinnen und Aktivisten aufgefordert, die Projekte zu fotografieren, die angeblich aus den Petrodollars finanziert wurden. Im ganzen Land wurden Fotos gemacht, die vor allen Dingen eines offenbarten: einen gigantischen Betrug, bestehend in Baumaßnahmen für sportliche Veranstaltungen oder Bildungseinrichtungen, die nie zu Ende geführt wurden.
Neu daran ist für die Haitianerinnen und Haitianer nicht die grassierende Korruption der herrschenden ökonomischen Elite. Diese hat, so der ehemalige Präsident der Nationalbank Fritz Alphonse Jean in seinem gerade erschienenen Buch „Eine Ökonomie der Gewalt“, ein System errichtet, das auf „Ausbeutung der Privilegien beruht, keine Konkurrenz oder ökonomische Effizienz kennt und jeder Innovation und jedem Wachstum“ schade. Neu ist, dass die Beteiligten an dem Betrug durch diese Aktivitäten öffentlich gemacht wurden. Nutznießer sind unter anderem der ehemalige Präsident Martelly und der jetzige Jovenel Moïse. Seither fordern Aktivistinnen und Aktivisten, dass alle Verantwortlichen juristisch zur Rechenschaft gezogen werden. Und das mit Nachdruck. Als Martelly, der vor seiner Präsidentschaft Kompa-Sänger war, vergangenes Jahr Konzerte in Montreal und in Brooklyn geben wollte, verhinderte die haitianische Diaspora seinen Auftritt. Ein Widerstandssignal, das auch in Haiti gehört wurde. Mit drei landesweiten Demonstrationen wurde den Forderungen nach Verurteilung und Amtsenthebung 2018 auch in Haiti Ausdruck verliehen. Doch bislang gibt es keinen Gerichtsprozess, geschweige denn die Aufhebung der Immunität von in den Skandal involvierten Politikerinnen oder Politkern und deren Verurteilung. Stattdessen verschärfte sich die Gewalt, die wie in vielen anderen Ländern Lateinamerikas eine Mischung aus staatlicher und parastaatlicher Gewalt ist.
Im Oktober 2018 wurden in La Saline, einem bevölkerungsreichen armen Viertel der Hauptstadt Port-au-Prince, 70 Menschen willkürlich ermordet und 13 Frauen vergewaltigt. Das dramatische Ereignis hat in Haiti dieselbe Bedeutung wie die verschwundenen Lehramtsstudierenden von Ayotzinapa in Mexiko. Die offizielle Erzählung lautet, es habe sich bei dem Massaker um einen Bandenkrieg gehandelt. Das haitianische Menschenrechtsnetzwerk RNDDH hingegen hat das Ereignis genauer untersucht, mit Angehörigen der Opfer gesprochen und es der Menschenrechtskommission der OAS vorgelegt.
Ihre Untersuchungen, aber auch die der mittlerweile beendeten UNO-Polizeimission Minjuste, gehen davon aus, dass es sich keineswegs um einen Bandenkrieg gehandelt habe, sondern das Massaker Folge eines Versuches des Präsidenten und seiner Frau war, die Bevölkerung an weiteren Protesten gegen ihn zu hindern. Martine Moïse tauchte mit mehreren hochrangigen Regierungsvertretern und sogar dem taiwanesischen Botschafter in La Saline auf und versprach als Gegenleistung für ein Ende der Proteste den Wiederaufbau von Schule und Krankenhaus. Die Basisorganisationen, die hier zum Teil durchaus unter der Kontrolle von Gangs stehen, lehnten das Angebot ab. Danach ereignete sich das Massaker. Dabei trugen die Ausführenden zum Teil Polizeiuniform und waren mit neuesten Waffen ausgestattet. In einer gemeinsamen Erklärung haitianischer Menschenrechtsorganisationen werden Beweise vorgelegt, die direkt in das Umfeld des Präsidenten deuten, welches das Massaker in Auftrag gegeben haben soll. Die Menschenrechtler*innen fordern eine Untersuchungskommission der OAS ähnlich wie in Guatemala. Denn das Justizsystem ist nicht in der Lage und willens, der endemischen Straflosigkeit mit einer juristischen Verfolgung des Massakers ein Ende zu setzen. Doch erstmal war es still in Haiti.
Es brauchte fast ein Jahr, bis die Proteste in noch viel massiverer Form im September 2019 wieder begannen. Ausgangspunkt war die Benzinkrise. Der Staat hatte kein Geld Erdöl zu importieren und die Tankstellen hatten kein Benzin. Damit brach das gesamte Transportwesen von den Tap-Taps (typische Kleinbusse in Haiti, die den städtischen Nahverkehr bedienen – die Red.) bis zu Motorradtaxis zusammen, von deren Einkünften ein guter Teil der ärmeren Bevölkerung überlebt. Die Ankündigung, dass mit der nächsten Lieferung an die Tankstellen die Benzinpreise erhöht werden würden, brachte die ganze Empörung über die Dysfunktionalität des Staates, über seine oligarchische Inbesitznahme durch wenige Reiche und eine Demokratie, die mehr Schein als Sein ist, zum Ausdruck. Seit Mitte September brennen in Haiti überall immer wieder die Barrikaden. Es wird wöchentlich demonstriert und damit das ganze öffentliche Leben lahmgelegt.
Längst gibt es wieder Benzin, von einer Preiserhöhung ist nicht mehr die Rede. Aber die Proteste ebben nicht ab. Es geht um viel mehr, nämlich um eine grundlegende Veränderung: um die Herstellung von öffentlichen Gütern. Bildung für alle, Gesundheit für alle, Strom und Trinkwasser für alle. Dies ist mit der Losung „Haiti is open for business“, mit der Martelly 2011 in betrügerischen Wahlen mit geringer Wahlbeteiligung, aber mit der Unterstützung der sogenannte Core-Group unter der Führung der USA zum Präsidenten gewählt wurde, nicht einzulösen. Symbolisch dafür ist die im Oktober erfolgte Schließung des Best Western Hotels, ausgestattet mit vier Sternen, in Petionville, dem bessergestellten Viertel der Hauptstadt. Schon zuvor waren alle anderen nach dem Erdbeben 2010 mit großem Pomp angekündigten Mega-Projekte zur Rettung der haitianischen Wirtschaft gescheitert: Der Freihafen in Caracol, der mit angeschlossenen Sweatshops (Montagebetriebe für den Export, die vor allem wegen des niedrigen Lohnniveaus betrieben werden) Tausende von Arbeitsplätze schaffen sollte, ist nie zustande gekommen. Die Verwandlung der Insel Ile la Vache in eine Touristeninsel, die mit den Touristenresorts in der Dominikanischen Republik konkurrieren sollte, ist ein Phantom des neoliberalen Entwicklungsmodells. In beiden Fällen wurden jedoch die nötigen Ländereien für den Hafen und für den geplanten Flughafen zwangsenteignet. Entschädigungslos. Die Beispiele zeigen, wie tief die haitianische Oligarchie die Menschen missachtet.
Der Schriftsteller und Journalist Gary Victor, dessen Voodoo-Krimis auch auf Deutsch sehr beliebt sind, hält das für ein historisches Phänomen. Die Unabhängigkeit Haitis 1804, ein Ereignis von universeller Bedeutung, weil es den Anspruch aller auf Menschenrechte manifestierte, sei bei näherer Betrachtung ein Sieg der mestizischen Großgrundbesitzer über die aufständischen Sklaven gewesen. „Im Endeffekt sind es die Kreolen, die am Anfang dieses Staates standen“, meint er. „Sie waren verbunden mit den alten Sklavenhaltern, die mit der Kolonialmacht Frankreich in Konflikt gerieten. Im zentralen Moment der Revolution übernahmen sie die Macht in der Kolonie. Die historischen Anführer der Revolution haben sie wie in so vielen anderen Revolutionen hingegen zu Kriminellen erklärt oder ihnen vorgeworfen, die Einheit zu gefährden. Dann wurden sie umgebracht. Am Ende waren alte Sklavenhalter an der Macht, die koloniales, klassistisches, gegen das einfache Volk gerichtetes Denken reproduzierten.“
Diese koloniale Denkhaltung, die in vielen Ländern Lateinamerikas, nicht nur in Haiti, eine feudale Form der Demokratie hat entstehen lassen, in der Politik und Ökonomie aufs Engste miteinander verknüpft sind, steht in Haiti nun zu Disposition. Der Forderung nach Rücktritt des amtierenden Präsidenten, der, gewählt mit einer Wahlbeteiligung von 30 Prozent, kaum legitimiert ist, wird von einer überwältigenden Mehrheit getragen. Die Situation ist so unerträglich, dass auch die Opferbereitschaft immens ist. Bei Redaktionsschluss ging der Aufstand gegen Moïse und das mit ihm verbundene System in die sechste Woche. Mit dramatischen humanitären Folgen. Viele Krankenhäuser sind geschlossen, weil sie keine Medikamente mehr haben und kein Diesel zur Betreibung der Stromgeneratoren. Zwei Millionen Schülerinnen und Schüler gehen seit Wochen nicht zur Schule. Große Stromausfälle sind zu erwarten, zumindest hat sie die Regierung angekündigt.
Dass Jovenel Moïse, der zwischendurch tagelang abtauchte, an seinem Amt so erbittert festhält, ist gefährlich. Nicht nur der Schriftsteller Gary Victor fürchtet eine neue Form der Diktatur. Moïse und der hinter ihm stehende Martelly haben schon immer ihre Sympathie für die Duvalier-Diktatur geäußert und auch Teile der haitianischen Diaspora in Miami kann sich den Enkel Duvalier als starken Mann vorstellen. Ganz offenkundig setzt die Reaktion darauf, dass das Chaos so groß wird, dass der Ruf nach einem Diktator lauter wird.
In die Hände spielt diesen Leuten eine internationale Situation, die an Haiti überhaupt kein Interesse hat. Das Schweigen zu den Ereignissen auf diesem Teil der Karibikinsel ist global. Die einstige Kolonialmacht Frankreich hat Haiti regelrecht vergessen. Es gibt kaum Berichterstattung. Als hätte sie nicht schon genug mit den aufständischen Haitianer*innen abgerechnet, als man ihnen nach der Befreiung eine Verschuldung aufzwang für den entgangenen Gewinn aus der Sklavenarbeit. Geld, das bis Anfang des 20. Jahrhunderts zurückgezahlt werden musste.
Noch viel größer ist die Herausforderung allerdings, weil es zwar einen großen Wunsch nach tiefgreifenden Veränderungen gibt, aber weder der Weg dorthin noch eine genaue Benennung dieser nötigen Änderungen vorliegen. Die neue Revolution hat noch keinen Namen und keinen Horizont, in dem sich auch Niederlagen verkraften lassen. Das haben Haiti, das ärmste Land Lateinamerikas und der Karibik, und das reichste Land, Chile, mit seinen jeweiligen Aufständen gemeinsam. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Katja Maurer ist Chefredakteurin des medico-Rundschreibens, bloggt regelmäßig zu Haiti und vielen anderen Themen auf medico.de. Sie ist Mitautorin eines Buches über Haiti, das im Frühjahr 2020 erscheint.