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Das ist bereits ein Präzedenzfall

Interview mit Roxana Baldrich von Germanwatch zur Klage des Peruaners Saúl Luciano Lliuya gegen RWE

Im Jahr 2015 reichte Saúl Luciano Lliuya seine Klimaklage gegen RWE beim Landgericht Essen ein. Der peruanische Bergführer lebt in Huaraz, in der Nähe eines Gletschersees. Durch den Klimawandel steigt dessen Pegel und die Stadt ist von Überschwemmung bedroht. Da die gewaltigen Emissionsmengen des nordrhein-westfälischen Energiekonzerns RWE zur Erderwärmung beitragen, soll dieser nun Mitverantwortung übernehmen, um die vom Klimawandel Betroffenen zu schützen. Fünf Jahre später und eine Gerichtsinstanz höher warten beide Seiten auf die Genehmigung des peruanischen Staates, mit der Beweisaufnahme vor Ort durch Gutachter*innen beginnen zu können. Im Interview mit der ila spricht Roxana Baldrich, Germanwatch-Referentin zum Fall Huaraz, über den Prozess

Lena Herzog
Inga Triebel

Was ist deine Funktion bei Germanwatch?

Ich arbeite seit ungefähr zweieinhalb Jahren als Fachreferentin bei Germanwatch. In Paris studierte ich Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, bin aber keine Volljuristin. Bei Germanwatch begleite ich unter anderem die Klage von Saúl Luciano Lliuya. Dabei pflege ich den regelmäßigen Kontakt zum Kläger, seiner Anwältin Dr. Roda Verheyen und Noah Walker-Crawford, einem Berater und engen Vertrauten das Klägers, aber auch zu Unterstützer*innen vor Ort in Peru. Außerdem stehe ich dem Kläger als Ansprechpartnerin bei Fragen oder Unsicherheiten zur Verfügung. Ich leiste Übersetzungsarbeit für Journalist*innen und die interessierte Öffentlichkeit, indem ich ihnen die Gerichtsdokumente und den Stand des Verfahrens verständlich mache. Die Klage hat viel mediale Aufmerksamkeit erhalten, weil sie eine der wenigen weltweiten Klagen einer Einzelperson gegen einen Großkonzern ist.

Wie ist Germanwatch mit Herrn Luciano Lliuya in Kontakt getreten und wie kam es zur Klage im Jahr 2015?

Saúl Luciano hatte beobachtet, dass sich seine Umwelt stark verändert. José Roca, der landwirtschaftlicher Berater in Huaraz ist, erklärte ihm die Ursachen des Klimawandels. So stellte Saúl Luciano die Ungerechtigkeit fest, dass Peruaner*innen so wenig dazu beitragen und dennoch unter den Konsequenzen leiden. Durch die Gletscherschmelze werden beispielsweise Gesteinsschichten freigelegt, die Metalle enthalten, die an der Luft oxidieren. Das sorgt für die Verschmutzung des Wassers in den peruanischen Hochanden, das viele Menschen dort aber weiterhin trinken, weil sie keine andere Trinkwasserquelle haben.

José Roca stellte 2014 dann den Kontakt zwischen Saúl Luciano und Germanwatch her. Aufgrund der für Dezember angesetzten Klimakonferenz in Lima und über seinen Bekannten Noah Walker-Crawford war ihm bekannt, dass sich Germanwatch schon mit dem Gletscherausbruchproblem auseinandergesetzt hatte und sich für Klimagerechtigkeit einsetzt. Daraufhin wurde ein Besuch eines kleinen Germanwatch-Teams in Huaraz nach dem Klimagipfel in Lima verabredet.

Auf der Suche nach Handlungsoptionen entschloss sich Saúl Luciano dann zu einer Klage und Germanwatch stellte den Kontakt zu der deutschen Rechtsanwältin Dr. Roda Verheyen, einer bekannten Spezialistin für Umweltrecht, her.

Die „Stiftung Zukunftsfähigkeit“ hat sich zu Beginn des Verfahrens gegenüber dem Kläger dazu verpflichtet, alle Gerichts- und Anwaltskosten zu übernehmen. Die Entscheidungsmacht über weitere rechtliche Schritte liegt weiterhin beim Kläger Saúl Luciano selbst.

Wie geht es Saúl Luciano mit der medialen Aufmerksamkeit und der langen Prozessdauer?

Er hat sich sehr geehrt gefühlt, 2018 Preisträger des Kasseler Bürger*innenpreises „Das Glas der Vernunft“ zu sein. Als er ihn in Deutschland entgegennahm, haben wir seinen Aufenthalt mit verschiedenen Veranstaltungen verbunden. Es hat ihn gerührt, wie viele Menschen zu diesen Veranstaltungen kamen und ihm Unterstützung anboten. Das ist wichtig für ihn, um weiterzumachen. Seine Klage zeigt Wirkung und erreicht auch Leute, die sich vorher wenig mit dem Klimawandel beschäftigt haben. Er kann die Menschen mit seinen Reden mitreißen, gibt den Problemen des Klimawandels ein Gesicht und macht sie so greifbarer. Er ist zwar stolz, dieses Gesicht zu sein, bleibt aber ein bescheidener Mensch.

Die Kehrseite der medialen Aufmerksamkeit: Viele Journalist*innen kommen nach Huaraz. Letztes Jahr gab es zum Beispiel einen großen Artikel in der New York Times, für den er fotografiert wurde. Es gibt ein paar Neider, die denken, er würde mit der Klage Geld verdienen oder sich damit in den Mittelpunkt spielen wollen. Dadurch ist es für seine Familie, die etwas außerhalb vom Stadtzentrum wohnt, manchmal schwer. Außerdem ist Huaraz ein beliebtes Reiseziel für Tourist*innen, die dort klettern gehen oder Ski fahren. Viele Bewohner*innen leben von diesem Bergtourismus und befürchten, dass Saúl Luciano mit seinem Hinweis auf eine mögliche Flutwelle die Tourist*innen abschrecken könnte.

Wie ist der aktuelle Stand der Verhandlungen?

Der nächste Schritt ist, dass Sachverständige im Rahmen der Beweisaufnahme vor Ort überprüfen, ob Saúl Lucianos Darstellungen stimmen. Sie untersuchen zum Beispiel, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Damm bricht und ob eine mögliche Flutwelle sein Haus treffen würde. Da es zwischen Deutschland und Peru kein zwischenstaatliches Rechtshilfeabkommen gibt, muss das deutsche Gericht eine solche Ortsbegehung beim peruanischen Staat beantragen. Diese Anfrage wurde im April 2019 gestellt. Die Antwort der zuständigen Autoritäten lautete, dass die Bearbeitungszeit etwa ein Jahr dauern werde. In der Zeit können wir nicht viel machen. Vor kurzem hat sich das Gericht in Huaraz an Saúl Luciano gewendet. Nach Einschätzung der zuständigen Anwältin Dr. Roda Verheyen deutet dies auf eine Genehmigung der Ortsbegehung hin. Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm wartet aber auf eine schriftliche Genehmigung, bevor es mit der Reiseplanung beginnt. Da sich die Terminfindung mit so vielen Akteuren voraussichtlich schwierig gestalten wird, ist es kaum vorhersehbar, wann der Ortstermin stattfinden kann. Sobald das passiert, werden Informationen auf der Internetseite von Germanwatch dazu veröffentlicht.1

Inwiefern versucht RWE die Gerichtsverhandlungen zu verzögern?

Man muss sich bei Klimaklagen darauf einstellen, dass sich ein Gerichtsverfahren in die Länge zieht. Meistens durchläuft die Klage alle Instanzen. Dass wir in der zweiten Instanz schon seit zwei Jahren feststecken, ohne maßgeblich vorangekommen zu sein, ist ungewöhnlich. Das liegt aber auch daran, dass es juristisches Neuland ist. So eine Klage hat es noch nie gegeben, die Klageschrift ist sehr lang und komplex.

Die Auswahl der Gutachter*innen für die Beweisaufnahme sollte eigentlich von beiden Parteien gemeinsam durchgeführt werden. Aber die Anwälte von RWE zeigten sich wenig kooperativ, lehnten alle von der Klägerseite vorgeschlagenen Gutachter*innen als angeblich befangen ab und reagierten mit eigenen Vorschlägen. Darunter befanden sich Personen, die keine Erfahrung mit der konkreten Zuordnung von Schäden zum Klimawandel haben und teilweise sogar die Kompetenz des Weltklimarats IPCC anzuzweifeln scheinen. Die Klägerseite hat diese Vorschläge abgelehnt. Letztendlich musste dann das Gericht selbst Gutachter*innen bestellen.

Ist es problematisch, dass die Gerichtsverhandlung so lange dauert?

Jein. Natürlich ist es für den Kläger und seine Familie anstrengend, dass die Verhandlungen so lange dauern. Andererseits werden die Ziele, die mit der Klage verfolgt werden, nicht unbedingt dadurch beeinträchtigt. Es geht darum, auf die Situation vor Ort aufmerksam zu machen und Menschen für den Klimawandel zu sensibilisieren. Das haben wir durch die mediale Präsenz und Saúl Lucianos Anwesenheit auf den Weltklimagipfeln in Paris und in Bonn schon erreicht. Auch in juristischer Hinsicht sind wir zufrieden. Dadurch, dass die Klage in die Beweisaufnahme gegangen ist, ist die juristische Argumentation, dass große Emittenten wie RWE für die Folgen des Klimawandels mitverantwortlich sind, vom Gericht akzeptiert worden. Dr. Roda Verheyen hat in diesem Präzedenzfall bewusst einen Paragraphen aus dem Zivilrecht benutzt, den es in vielen anderen Ländern gibt. So kann diese Form der Klage repliziert werden. Damit das passiert, könnte der Gewinn der Klage aber hilfreich sein.

Entwickeln sich Klimaklagen generell zu einer Strategie weltweit?

Vor allem in den USA gibt es Hunderte solcher Klagen. Allerdings muss hier differenziert werden. Zu den sogenannten Klimaklagen gehören auch solche, in denen Unternehmen gegen härtere Klimaschutzauflagen Einspruch erheben. Wovon wir heute sprechen, sind strategische Klimaklagen. Sie können sich gegen Unternehmen richten, wie der Huaraz-Fall, oder gegen Regierungen, wie die erfolgreiche Urgenda-Klage in den Niederlanden, der People’s Climate Case auf EU-Ebene oder die Verfassungsbeschwerden, die vor kurzem in Karlsruhe eingelegt wurden.

Man unterscheidet weiterhin zwischen Klagen auf Anpassungsmaßnahmen, solchen für härteren Klimaschutz oder aufgrund von loss and damage. Bei letzterem geht es um Verluste, die durch monetäre Leistungen nicht ersetzt werden können, wie zum Beispiel der Verlust von Menschenleben, Kulturgütern oder physischem Land, aber auch um Schäden, etwa an Infrastruktur oder Gebäuden. Diese Art der Klage ist mit Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens erfolgversprechender geworden, denn darin erkennen die Staaten erstmals an, dass Maßnahmen und Unterstützung nicht nur in den Bereichen Minderung und Anpassung vonnöten sind, sondern eben auch im Bereich der Verluste und Schäden.

Im Fall Huaraz geht es darum, dass RWE sich in dem Maß, wie der Konzern zum Klimawandel beigetragen hat, auch an Schutzmaßnahmen beteiligt. Dies kann etwa geschehen, indem ein besserer Staudamm gebaut, ein Wasserabpumpsystem oder ein Frühwarnsystem installiert wird. Auf den ersten Blick scheinen diese Anpassungsmaßnahmen auch eine Anpassungsklage zu verlangen. Der Paragraph, den Dr. Roda Verheyen in ihrer Klage benutzt, greift aber sowohl für Anpassungsmaßnahmen als auch für den Schutz vor oder Ausgleich von Schäden und Verlusten. Dies war ihr und dem Kläger wichtig, weil es in diesem Bereich noch keine Präzedenzfälle gab.

Warum entscheiden sich Aktivist*innen trotz der langen Dauer für eine Klage?

Meiner Einschätzung nach hängt die Entscheidung, den Klageweg zu gehen, mit einer großen Frustration zusammen. Wenn Klimaaktivist*innen seit Jahrzehnten auf vielen verschiedenen Ebenen kämpfen und merken, dass es wenig bewirkt, ist die Dauer einer Klage vor Gericht verhältnismäßig kurz. Ich glaube, dass sich viele Menschen durch das Versagen der Klimapolitik entmachtet fühlen. Die bisher angewandten Strategien haben wenig bewirkt. Ein zusätzliches Mittel, das in der Demokratie zur Verfügung steht, ist eben der juristische Weg. Dessen werden sich immer mehr handelnde Bürger*innen bewusst.

Das Interview führten Lena Herzog und Inga Triebel am 12. Februar 2020 in Bonn.