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Sie können einander nicht lassen

Zwei neue Romane aus Haiti im Litradukt Verlag
Gert Eisenbürger

Zwölfter Januar 2010, 16.53 Uhr: In der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince bebt die Erde. Polizeiinspektor Azemar Dieuswalwe erlebt die Katastrophe in einer verfänglichen Situation. Er vögelt in einem Hotelzimmer mit einer Frau, genauer gesagt mit der Gattin seines Vorgesetzten, Kommissar Solon. Während die auf ihm liegende Madame Solon durch herunterstürzende Trümmer getötet wird, überlebt Dieuswalwe nahezu unverletzt. Er fühlt sich beschissen und schuldig. Denn der Ehemann der Toten ist nicht nur sein Chef, sondern auch ein Freund. Ihm allein hat es Dieuswalwe zu verdanken, dass er noch im Polizeidienst ist. Denn der Inspektor hat ein ausgewachsenes Alkoholproblem und wäre schon längst entlassen worden, wenn Solon nicht schützend seine Hand über ihn halten würde. Das tut sein Chef aber nicht primär aus Freundschaft, sondern weil er Dieuswalwe trotz dessen Sauferei für einen der fähigsten Ermittler im gesamten haitianischen Polizeiapparat hält.

Als der Inspektor am Morgen nach dem verheerenden Beben ins Polizeirevier kommt, trifft er im Hof des beschädigten, aber nicht zerstörten Gebäudes auf seinen deprimierten Chef. Der hat erfahren, dass seine Frau tot ist und ihre Leiche in einem Stundenhotel gefunden wurde. Von dem Mann, mit dem Madame Solon in der Absteige war, fehle aber jede Spur. Wahrscheinlich könne der Portier, der beim Erdbeben schwer verletzt wurde und im Koma liege, den Typ identifizieren. Solon beauftragt Dieuswalwe, den verschwundenen Liebhaber seiner verstorbenen Frau zu finden. Er wolle ihm dann eigenhändig eine Kugel durch den Kopf jagen.

Damit hat Dieuswalwe ein dickes Problem. Um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, müsste er verhindern, dass der einzige Zeuge, der ihn wieder erkennen könnte, nämlich der verletzte Portier, aus dem Koma aufwacht. Doch trotz seines Alkoholismus ist Dieuswalwe ein Mann mit Prinzipien, da kommt ein Mord an einem wehrlosen Unschuldigen nicht infrage.

Als habe er mit seiner verfahrenen Situation nicht genug zu tun, berichtet ihm seine Exfreundin aufgelöst, ihr sei ein Zombie, ein Untoter, begegnet. Ihr aktueller Freund, ein bekannter Maler, habe die Nacht bei ihr verbracht. Dabei wisse sie inzwischen, dass er beim Erdbeben am Vortag umgekommen sei. Sie selbst habe gerade seine Leiche unter den Trümmern seines Ateliers gesehen. Ergo müsse ihr nächtlicher Besucher ein Untoter gewesen sein. Da Inspektor Dieuswalwe, anders als die meisten seiner Landsleute, nicht an Zombies glaubt, ist er sicher, dass der Maler nicht beim Erdbeben starb, sondern ermordet wurde.

So beginnt Dieuswalwe im zerstörten Port-au-Prince mit Ermittlungen in einem vorerst imaginären Mordfall und versucht gleichzeitig zu verhindern, dass er selbst Opfer der Rachsucht seines Chefs wird. Langsam kommen ihm die durch starken Alkoholgenuss getrübten Erinnerungen an den Nachmittag des Erdbebens zurück und er erinnert sich, dass er Madame Solon nicht in der Absicht getroffen hatte, ein gemeinsames Schäferstündchen zu verbringen. Sie hatte ihn vielmehr angerufen, weil sie sich Sorgen um das Leben ihres Mannes machte. Der sei mit den falschen Leuten aneinandergeraten und dadurch in großer Gefahr. Dass es nach dem Gespräch zu der eingangs erwähnten erotischen Begegnung gekommen war, führte Dieuswalwe auf seinen Rausch zurück. Im nüchternen Zustand hätte er niemals etwas mit der Frau seines Freundes und Chefs angefangen, sagt er sich. Jedenfalls findet sich Dieuswalwe bald in einem mörderischen Kampf um sein eigenes Leben wieder, kommt den Leuten nahe, die es auf Kommissar Solon abgesehen hatten und bringt Licht in den Fall des angeblich beim Erdbeben getöteten Malers. Durch die verschiedenen Handlungsstränge zeichnet der in Port-au-Prince lebende Gary Victor (Jg. 1958) ein düsteres Bild der haitianischen Metropole, die ganz offensichtlich nicht erst durch das Erdbeben aus den Fugen geraten ist. (Vgl. auch die Besprechung seines Krimis „Schweinezeiten“ in ila 372)

Während „Soro“ ein spannender, wenn auch etwas voraussehbarer Krimi ist, handelt es sich bei dem Roman „Der Zwang des Unvollendeten“ um große Literatur. Sein Autor Anthony Phelps (Jg. 1928) ist einer der wichtigsten haitianischen Autoren, dessen Oeuvre wie das vieler seiner KollegInnen im Exil, konkret in Montreal, entstanden ist. Wenn ich hier das Buch als „große Literatur“ bezeichne, bedeutet das keinesfalls, dass es schwer zu lesen wäre oder mit komplizierten Konstruktionen aufwartet. „Der Zwang des Unvollendeten“ ist einfach ein Roman, dessen unterschiedliche Reflexionsebenen von den LeserInnen verlangen, sich voll und ganz auf das Buch einzulassen.

Die Handlung ist schnell erzählt. Der aus einer begüterten Familie stammende Autor und Aktivist Simon Nodier musste während der Duvalierdiktatur aus Haiti fliehen. Er kam nach Montreal, wo er Universitätsdozent und ein erfolgreicher Schriftsteller wurde. Obwohl Haiti stets der Bezugspunkt in seiner künstlerischen und politischen Arbeit blieb, kehrte er nach dem Sturz von Baby Doc, dem letzten Duvalier, nicht nach Haiti zurück, sondern verharrte im nun selbstgewählten Exil. Er siedelte in eine mexikanische Provinzstadt über, wo er mit dem Schreiben aufhörte und sich der Bildhauerei widmete. In Mexiko erreicht ihn eines Tages ein Brief seiner Patentante, bei der er nach dem Unfalltod seiner Eltern aufgewachsen war. Sie bittet ihn, dringend nach Haiti zu kommen, da es mit ihr zu Ende gehe und sie ihn gerne noch einmal sehen möchte. Der Brief erreicht ihn nicht per Post, sondern wird von einer mexikanischen Galeristin abgegeben, die häufiger in Haiti ist und dort Kontakt zu seiner Patentante unterhält. Die Überbringerin trifft ihn aber nicht an und lässt den Umschlag bei seiner Haushälterin. Aus dem Brief erfährt Simon Nodier, dass es sich bei der Galeristin um die Tochter seiner großen Jugendliebe handelt, die mit ihrem Vater, einem Diplomaten, just zu dem Zeitpunkt aus Haiti wegmusste, als sich aus ihrer jugendlichen Verliebtheit eine ernsthafte Beziehung zu entwickeln begann. Nodier entscheidet, nach Haiti zu reisen, und mehr noch, darüber einen Roman zu schreiben, obwohl er beides kurz zuvor noch kategorisch ausgeschlossen hätte. Für das Romanprojekt reizt ihn als Thema die törichte Phantasie eines alten Mannes, mit der Tochter seiner Jugendfreundin genau die Beziehung wieder aufzunehmen, die durch den Wegzug ihrer Mutter so abrupt geendet hatte. Sein Aufenthalt in Haiti, seine dortigen Begegnungen, Gespräche und Beobachtungen sowie die Erinnerungen, die all das bei ihm auslösen, bilden das Kernstück des Buches. Darüber hinaus werden die LeserInnen ZeugInnen der Entstehung von Simon Nodiers Roman, und zwar dergestalt, dass sie mitunter nicht genau wissen, wo der Erzähler über Nodiers Reise nach Haiti berichtet und wo die Passagen aus dessen Romanmanuskript über seinen Aufenthalt in seinem Heimatland beginnen. „Der Zwang des Unvollendeten“ ist, zumindest vordergründig, ein Roman über das Exil, das auch dann noch nicht zu Ende ist, wenn sich die politischen Verhältnisse, die es einst verursachten, geändert haben, und selbst dann nicht, wenn der Exilierte in sein Heimatland zurückkehrt. Bei nahezu jeder Begegnung während seines Haiti-Aufenthaltes spürt Simon Nodier, dass die Inselhälfte, die er einst verließ, längst nicht mehr existiert, und dass er mit dem Land, das er gerade besucht, wenig zu tun hat. Das wird ihm besonders deutlich, wenn er Rückkehrer trifft, die sich zum Bleiben entschieden haben. Wenn ihm diese berichten, wie sie sich wieder integriert haben, hat er stets den Eindruck, sie liefen einer Illusion hinterher. Aber möglicherweise will er das auch glauben. Vielleicht haben manche Genossen aus seiner Montrealer Zeit tatsächlich wieder Wurzeln in Haiti geschlagen und er kann nicht zulassen, dass diese Möglichkeit überhaupt existiert. Er, der sich in einem beschaulichen mexikanischen Kolonialstädtchen recht komfortabel eingerichtet hat und seine Tonskulpturen fertigt (die französische Originalausgabe des Romans erschien 2006, ob sein Blick auf das Mexiko des Jahres 2015 genauso wäre, würde ich bezweifeln), findet Haiti schmutzig und laut, seine BewohnerInnen zänkisch, unaufrichtig und im Aberglauben verhaftet.

Er wäre mit diesem Land längst fertig, wären da nicht die Erinnerungen, die ihn auf Schritt und Tritt einholen. Hier liegt die zweite Ebene des Romans, die Reflexion über sein früheres Leben in Haiti und den politischen Kampf, der dem Exil voranging. Simon Nodiers Jugenderinnerungen erzählen von der abgeschotteten Existenz der haitianischen Bourgeoisie. Er und seine gleichaltrigen Freunde und Freundinnen lebten ein materiell sorgloses Leben. Sie besuchten gute katholische Privatschulen. Während sich die Jungs zuvorkommend und züchtig um die Mädchen aus ihrer sozialen Schicht bemühten, machten sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit den Hausangestellten ihrer Familien. Diese hatten ihnen zur Verfügung zu stehen – ganz ohne Vorspiel und Galanterie. Und die Jungs bildeten sich noch ein, die Dienstmädchen seien scharf darauf und es mache ihnen Spaß.

Irgendwann entdeckten diese Bürgersöhne die Politik, die „jungen Leute aus guter Familie“ waren „wie von Zauberhand auf einmal Kommunisten geworden“ (S. 142). Sie organisierten den Widerstand gegen den Präsidenten Lescot, als dieser 1946 unter Bruch der Verfassung versuchte, über das Ende seiner Amtszeit hinaus an der Macht zu bleiben. Die jungen Revolutionäre um die Schriftsteller Jacques Stéphen Alexis und René Depestre, denen sich Simon Nodier bald anschloss, wollten Haiti modernisieren und beanspruchten selbstverständlich die Führung in diesem Prozess.

Später kämpften sie gegen den Diktator François Duvalier und riskierten dabei viel, denn das Regime von „Papa Doc“ kannte kein Pardon. Dabei standen die Aufrührer auf verlorenem Posten, auch wenn der Wind der Veränderung kräftig von Cuba herüberwehte. Doch anders als die jungen Linken erreichte der zynische Herrscher die einfachen Leute, weil er ihre Sorgen und Nöte aus seiner Praxis als Arzt und Funktionär im Gesundheitswesen kannte und sie zu manipulieren vermochte. In der Propaganda gegen seine Gegner aus den Familien der mulattischen Elite setzte er geschickt seine schwarze Hautfarbe ein und machte seine Untertanen glauben, mit ihm sei endlich auch ihre Zeit gekommen.

Ohne es politisch weiter zu spezifizieren, macht Phelps in dem Roman deutlich, dass die Entfremdung der linken Intellektuellen von der Masse der HaitianerInnen nicht nur Ergebnis der Duvalierdiktatur und des Exils war, sondern tief in der Geschichte und Struktur der Gesellschaft verwurzelt ist. Während seines Aufenthalts in Haiti erlebt Simon Nodier den politischen Aufstieg des charismatischen Armenpriesters Jean-Bertrand Aristide. Erstmals war da ein Linker, den die Leute verstanden und der nahe bei ihnen war. Zur Zeitpunkt der Entstehung des Romans verkörperte Aristide für den Autor Anthony Phelps offensichtlich eine große politische Hoffnung. Zum letztendlichen Scheitern von dessen politischem Projekt gehörte, dass es relativ schnell zum Bruch zwischen ihm und seinen UnterstützerInnen aus dem linksintellektuellen Milieu kam. Von letzterem kam rasch der Vorwurf, Aristide betreibe „Populismus“.

Eine weitere Reflexionsebene des Buches ist das Nachdenken über das Schreiben. Dabei interessiert den Autor besonders die Frage, welche Rolle das Weibliche und das immer wiederkehrende Bild des weiblichen Opfers für das männliche Schreiben spielt. Auch hier spielt Phelps mit den Erwartungen der LeserInnen, die er zu irritieren und überraschen versteht.

So unterschiedlich die Romane von Gary Victor und Anthony Phelps auch sein mögen, so eint sie doch ein ganz wesentliches Element, nämlich das Leiden ihrer Protagonisten an Haiti. Inspektor Dieuswalwe ist ein moralisch integrer Mensch, der an den Zuständen in Haiti verzweifelt und sie nur im Suff ertragen kann. Simon Nodier ist ein kritischer Intellektueller, der in Haiti für sich keine Perspektive sieht und das freiwillige Exil vorzieht. Doch beide verbindet eine Art Hassliebe zu ihrem Heimatland: Sie können in Haiti nicht glücklich leben, aber ohne die karibische Republik auch nicht.

Dem kleinen Litradukt Verlag ist zu verdanken, dass wieder zwei interessante Bücher aus Haiti für deutschsprachige LeserInnen zugänglich sind. Ohne das Engagement des rührigen Verlagsgründers und Übersetzers Peter Trier, der immer wieder spannende Bücher haitianischer AutorInnen aufspürt und übersetzt, wüsste man hierzulande nicht, wie vielfältig und lebendig die Literaturszene der Karibikrepublik ist.