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Exil in den Anden

Wolfgang Hirsch-Weber fand in Bolivien Zuflucht vor dem Nazi-Terror

In der Reihe „Lebenswege“ stellen wir diesmal den 1920 geborenen Wolfgang Hirsch-Weber vor. Nach der Definition der Nazis ein so genannter „Halbjude“ verließ er 1938 Deutschland, als er die Gelegenheit bekam, nach Bolivien zu emigrieren. Dort blieb er 11 Jahre. 1949 kehrte er nach Deutschland zurück, machte das Abitur nach und begann ein sozialwissenschaftliches Studium. Später wurde er ein bekannter Politikwissenschaftler, der sich in Forschung und Lehre intensiv mit Lateinamerika auseinandersetzte. Bolivien, das damals wie heute zu den ärmsten Ländern des Subkontinents gehört, nahm Ende der dreißiger Jahre zwischen 5000 und 7000 überwiegend jüdische Flüchtlinge aus Deutschland auf, die so der Vernichtungsmaschinerie der Nazis entkommen konnten. Für die größtenteils aus dem städtisch-mittelständischen Milieu kommenden Flüchtlinge war es nicht einfach, sich in Bolivien zu integrieren und ein Auskommen zu finden. Von der alteingesessenen deutschen Kolonie, die in ihrer überwältigenden Mehrheit nazifreundlich eingestellt war, konnten sie keine Unterstützung erwarten. Hinzu kam die politische Instabilität des Gastlandes und die Existenz einer starken nazifreundlichen Tendenz in der Politik und den Streitkräften Boliviens, die das Einleben der Flüchtlinge und insbesondere ihre exilpolitischen Aktivitäten nicht gerade erleichterten.

Gert Eisenbürger

Herr Professor Hirsch-Weber, Sie waren während des Nazi-Faschismus im bolivianischen Exil. Wie kamen Sie in dieses Land?

Ich ging dorthin, weil mein Vetter, der in Bolivien lebte, mich eingeladen hatte, mich gefragt hatte, ob ich nach Bolivien kommen wollte. Ich traf dort im Mai 1938 ein.

Kamen Sie direkt aus Deutschland?

Ja. Ich war das, was die Nazis als Halbjuden bezeichneten, wollte also aus Deutschland weg während der Nazi-Zeit, wollte auf keinen Fall den Militärdienst machen. Nach dem damaligen Stand der Nürnberger Gesetze war ich militärdienstpflichtig, zuerst Arbeitsdienst, dann Militärdienst. Das galt ja für die sogenannten Halbjuden bis nach dem Frankreich-Feldzug, dann wurden sie in die Organisation Todt gesteckt. Ich war damals 17 Jahre alt, mit 18 hätte ich nicht mehr reisen können. Ich brauchte auch, als ich reiste, eine Erlaubnis der Hitler-Jugend, der ich natürlich nicht angehörte, aber die mußten mir die Ausreiseerlaubnis geben, die für ein Jahr befristet war.

Beim spontanen Entschluß, der Einladung meines Vetters nach Bolivien zu folgen, mag auch ein wenig Romantik mitgespielt haben. Ich war als Junge begeisterter Karl-May-Leser und hatte dadurch sicherlich ein verklärtes Bild von Indianern und von Südamerika.

In Bolivien waren ja vergleichsweise viele Flüchtlinge aus Nazideutschland, Patrick von zur Mühlen spricht von 5000-7000, eine hohe Zahl, wenn man bedenkt, daß das Land damals nur 3 Millionen Einwohner hatte, sehr verarmt und wenig verstädtert war und nicht am Meer lag, also erst nach Durchreise durch ein anderes Land von den Flüchtlingen erreicht werden konnte. Warum kamen so viele Flüchtlinge nach Bolivien?

Als ich reiste, waren das noch sehr wenige. Die meisten kamen erst Ende 1938, weil Bolivien die Grenzen beschränkt öffnete, das heißt, jüdischen Emigranten und anderen Flüchtlingen erlaubte, nach Bolivien einzuwandern, wenn sie Landwirte waren oder versprachen, aufs Land zu gehen und in der Landwirtschaft zu arbeiten. Viele dieser Emigranten hatten ihr Visum bezahlen können, bei denen war es evident, daß sie keine Landwirte waren. Es gab da einige Leute im diplomatischen Dienst Boliviens, die Visa verkauften, es gab aber auch andere, die nicht mit Visa gehandelt haben, sondern den Leuten aus humanitären Gründen halfen, obwohl sie wußten, daß sie nicht in der Landwirtschaft arbeiten würden. Ich glaube. zur letzten Gruppe gehörte der damalige bolivianische Konsul in Hamburg.

Ich hatte eben schon die soziale und wirtschaftliche Situation in Bolivien angesprochen. Wie haben Sie Ihren Lebensunterhalt bestritten?

Ich habe zuerst einige Wochen meinen Vetter vertreten, der Lehrer in Tarija war und von dort nach La Paz ging. Dann bekam ich einen Job als Buchhalter in einem kleinen Unternehmen, das Groß- und Einzelhandel trieb, u.a. mit Coca, aber nicht für die Kokain-Herstellung, aber auch mit anderen Dingen. Das machte ich fünf oder sechs Jahre lang, dann übernahm ich die Filiale eines Elektro-Importgeschäfts. Wir importierten vor allem Radios, aber mit dem Krieg kamen immer weniger Radios. Ich mußte die Filiale schließen und wurde in einer Handelsschule Lehrer für kaufmännisches Rechnen und Buchhaltung. Dann wurde mir angeboten, Bürochef in einer Abteilung der Bergwerksgesellschaft „Compañía Minera Unificada del Cerro de Potosí“ zu werden, wo ich gleich dreimal soviel verdiente, wie ich als Lehrer bekommen hatte. Als die Compañía geschlossen wurde, wurde ich Bürochef bei einer kleinen nordamerikanischen Bergwerksgesellschaft, und als dann der Staat die erste große Bergwerksgesellschaft in Oruro übernahm, wurde mir die Stelle des kaufmännischen Direktors dieser Gesellscahft in Oruro angeboten. Das machte ich zwei Jahre lang, bis ich nach Deutschland zurückkehrte.

Wie war das generell bei den Flüchtlingen, wahrscheinlich waren doch die wenigsten Landwirte oder haben in der Landwirtschaft gearbeitet?

Natürlich kaum einer. Es gab eine Gruppe, die als Kolonisatoren aufs Land ging und Kaffee und andere Dinge anbaute. Die gingen aber nach zwei Jahren bakrott, weil es dort keinerlei Infrastruktur gab, keine Verkehrsanbindung vorhanden war und sie deshalb ihre Produkte nicht vermarkten konnten. Die Einwanderung nach Bolivien war ja soziologisch etwas anderes als etwa die Emigration in die USA. Die meisten Emigranten, die nach Bolivien kamen, waren kleine Handwerker, kleine Geschäftsleute. Es gab eine Handvoll Ärzte und einige junge Leute, die in Hochschilds Bergwerksgesellschaft arbeiteten. Es gab auch einige Intellektuelle, aber das waren sehr wenige. Die Haupttruppe waren kleine Handwerker und Kaufleute.

Und die haben sich in Bolivien dann wieder selbständig gemacht?

Die meisten haben sich selbständig gemacht. Sehr viele sind ja dann nach Argentinien gegangen, für viele war Bolivien nur Zwischenstation.

Neben den Flüchtlingen, die aus Nazi-Deutschland weg mußten, gab es in Bolivien ja auch viele deutsche Einwanderer, die überwiegend nazifreundlich eingestellt waren. Wie war das Verhältnis der Flüchtlinge zur Kolonie der vor 1933 eingewanderten Deutschen?

Wenn wir Oruro, wo es etwas anders war, ausnehmen, gab es überhaupt keine Beziehungen zur alten deutschen Kolonie, nur zu Einzelpersonen. Ich war gut befreundet mit einem alten Arbeiter, der aus Schwaben kam, ein Sozialdemokrat, der nie Nazi wurde. Es gab noch einige weitere Nicht-Nazis, mit denen ich Kontakt hatte, aber das waren ganz wenige. Die meisten waren nazifreundlich, sie waren entweder Nazis oder deutschnational.

In Oruro war es etwas anders. Dort gab es einen deutschen Club, der nicht pronazistisch war. Zu dem gehörten einige Deutsche sowie Schweizer und Skandinavier, die deutsch sprachen. Im Club hing die ganze Zeit über ein Porträt des Gründers, der Jude gewesen war. In diesem Club habe ich natürlich verkehrt. Aber es gab auch in Oruro genug eingefleischte Nazis unter den Deutschen.

Ein Deutscher aus Oruro, der zufällig in Deutschland gewesen war, als der Krieg ausbrach, ging freiwillig zur Marine, wurde U-Boot-Kommandeur. Er wurde während dieser Zeit in Deutschland zum Anti-Nazi. Als er nach dem Krieg nach Bolivien zurückkehrte, hielt er nicht zurück mit dem, was er von den Nazis dachte. Eines Tages, es war 1947, kam er zu mir, er sei verzweifelt, er wüßte nicht, was er tun sollte, seine Eltern hätten die ganze Zeit schon gesagt, er verbreite bolschewistische Propaganda, und wenn er sich weiterhin so verräterisch gegen das Reich betätigte, würden sie ihn rauswerfen. Oder ein anderer Fall, auch in Oruro. Ein Mädchen aus der alten deutschen Kolonie, auch sie war bei Kriegsausbruch zufällig in Deutschland, war dort, weil sie irgend etwss kritisches gesagt hatte, gegen Ende des Krieges in ein KZ gesteckt worden. Sie überlebte das KZ und kehrte nach Bolivien zurück, wo sie einer bolivianischen Zeitung ein Interview über ihre Erfahrungen in Nazideutschland gab. Sie wurde daraufhin von den ganzen deutschen Nazis und Deutschnationalen geschnitten, und es wurde gesagt, sie betriebe bolschewistische Propaganda. Meine Schwester hat noch kurz nach dem Krieg im Kindergarten der deutschen Schule gesehen, wie die lieben deutschen Schwestern den kindlein beibrachten, Hakenkreuze auf Nähkissen zu sticken.

Es gab ja auch viele bolivianische Nazis. 1941, ich glaube es war 1941, da erschien in „La Razón“, einer Zeitung in La Paz ein Aufsatz über die „Quinta Columna“, die Fünfte Kolonne n Tarija. Eine Woche oder vierzehn Tage später ließ mich der deutsche Konsul fragen, ob wir uns mal unterhalten könnten. Ich ging zu ihm hin, und er sprach mich auf diesen Aufsatz an und sagte, in der Kolonie hieße es, ich sei der Autor. Ich erklärte ihm, daß ich nicht der Autor sei, es aber durchaus hätte sein können, denn das, was darin über Naziumtriebe stehe, stimme ja mehr oder weniger. Er meinte, ich würde überhaupt Prpaganda gegen das Reich machen und gegen sie arbeiten, und er würde mir raten, das nicht mehr zu tun. Ich antwortete ihm, daß wir in Bolivien seien und nicht in Deutschland. daraufhin erklärte er mir, daß das Reich in Bolivien mächtige Freunde habe, die stärker seien als meine Freunde.

Sie selbst waren einer der Vertreter der in verschiedenen südamerikanischen Ländern aktiven sozialistischen Exilgruppe „Das Andere Deutschland“ (DAD) ih Bolivien. Das Zentrum des DAD und der Redaktionssitz der gleichnamigen Zeitschrift war Buenos Aires. Wie kamen Sie in Bolivien zum DAD?

Ich erfuhr von ihm von Erhard Löhnberg, einem Soziologen, der schon in Deutschland politisch aktiv gewesen war. Er war dort bei den „Roten Studenten“ gewesen, noch zu der Zeit, als Franz Borkenau und Richard Löwenthal dabei waren, und hatte wohl immer mit der SAP (Sozialistische Arbeiterpartei – d. Red.) sympathisiert, das heißt, er stand so zwischen KPD und SPD. Er hatte den Kontakt mit dem DAD in Buenos Aires aufgenommen und mich gefragt, ob ich da mitmachen wolle, und ich habe ja gesagt.

Und wie lief die Kommunikation zwischen Tarija und Buenos Aires?

Zunächst per Post. Die Zeitschrift ist regelmäßig bei uns per Post angekommen, und wir haben sie in Tarija an die interessierten Emigranten verteilt, andere Verteiler gab es in Cochabamba und La Paz. Ich glaube nicht, daß wir einen festen Preis verlangten, wir erwarteten einfach, daß was bezahlt wurde. Wir waren ja keine feste Organisation. Wir haben gesagt, wir sind keine Organisation, weil wir fürchteten, daß das für einige Leute in Argentinien Gefahren bringen würde, und wir auch nie wußten, wie das in Bolivien mit der Politik sein würde, ob das nicht doch nachteilig sein konnte.

1943 fuhren wir dann nach Montevideo zum Kongreß der antifaschistischen Deutschen in Lateinamerika, den „Das Andere Deutschland“ maßgeblich organisiert hatte. Bei dieser Reise waren wir auch in Buenos Aires, wo wir die anderen Mitarbeiter des DAD kennenlernten.

Die innenpolitische Situation in Bolivien war ja relativ stabil, es gab in Ihrer Exilzeit mehrere Regierungswechsel...

...in meiner Zeit gab es, glaube ich, sieben Präsidentenwechsel...

...wie hat sich das auf Ihre politischen Aktivitäten ausgewirkt, hatten Sie bzw. die verschiedenen Exil-Gruppen zeitweilig Schwierigkeiten?

Als ich rüberkam, war Germán Busch Präsident, Sohn eines Deutschen. Er war deutschfreundlich, wobei er nicht genau wußte, was in Deutschland passierte. Dann kam ein Zwischenpräsident, Carlos Quintanilla, ein General, der an der bolivianischen Botschaft in Berlin die Nazis kennengelernt hatte und sie nicht mochte. Dann kam Enrique Peñaranda. Peñaranda war General, wurde aber demokratisch gewählt als Präsident. Es war ein demokratisches Regime, unter dem niemand verfolgt wurde und alle politischen Gruppen viel Spielraum hatten. Peñaranda wurde gestürzt von Villaroel und dem „Movimiento Nacionalista Revolucionario“ (MNR). Villaroel war ein halbfaschistischer Offizier aus der Geheimloge „Radepa“ (Razón de Patria). Unter der Villaroel-Regierung wurden Konzentrationslager eingerichtet, politische Gegner verfolgt, einige wurden ermordet. In La Paz waren die Möglichkeiten der politischen Betätigung für die Anti-Nazi-Gruppen nicht besonders groß.

In diesem Zusammenhang muß man etwas zur Haltung der Bolivianer zu Nazideutschland sagen. Zuerst einmal gab es viel Sympathie, weil die Nazis gegen den englischen und französischen Imperialismus polemisierten und sich andererseits gegen den Kommunismus wandten. Das gefiel vielen Leuten. Wenn man im Kino saß und eine Wochenschau gezeigt wurde, wo die SA marschierte, konnte es einem passieren, daß die Leute Beifall klatschten. Es imponierte den Bolivianern, wie schön sie organisiert waren und wie stramm sie marschierten. Man war in Bolivien grundsätzlich sehr deutschfreundlich. Es gab in Südamerika traditionell eine große Deutschfreundlichkeit. Die Deutschen, die rüberkamen, assimilierten sich schneller als etwa Engländer, heirateten meistens in die einheimischen Mittelschichten, sehr wenige nur in die Oberschicht. Sie eröffneten Handelsunternehmen oder kleine Industriebetriebe, die zur Modernisierung des Landes beitrugen. Die Sympathie für die Nazis knüpfte ja teilweise an diese alte Deutschfreundlichkeit an.

Es gab in Bolivien aber dann noch die besondere Nazifreundschaft in beachtlichen Teilen des Militärs, vor allem bei den jüngeren Offizieren, nicht bzw. wenig innerhalb der Generalität. Nazifreundschaftund Antisemitismus fanden sich in den Mittelschichten, wegen der Berufe der jüdischen Emigranten. Jüdische Handwerker und Geschäftsleute waren Konkurrenz für die bolivianischen Handwerker. Nazisympathie wurde auch von manchen Priestern, vor allem italienischen und spanischen, gefördert. Ich erinnere mich an eine Diskussion über die Lage in Europa am Anfang des Krieges. Ein italienischer Priester bekreuzigte sich vor mir und sagte, ich könne gar nicht mitreden, ich sei Jude. Die Nazifreundschaft war eigentlich in der Oberschicht geringer als in den Mittel- und Unterschichten.

Im Offizierscorps, vor allem bei den Majoren und Hauptleuten, traf man Nazis, aber längst nicht alle waren Nazis, aber da gab es Nazifreunde. Dann gab es diese Partei „Movimiento Nacionalista Revolucionario“ (MNR), von Víctor Paz Estenssoro gegründet, einer der intelligentesten Politiker, die ich je kennengelernt habe. Der Víctor fing an als „Marxist“. Er hatte dann eine gewisse Neigung zu den Trotzkisten, konnte aber doch nicht viel mit ihnen anfangen, entwickelte dann Sympathien für den Nazismus und hat als solcher seine Partei aufgemacht. Die MNR war am Anfang programmatisch eine faschistische Partei. Ihre Presse war deutschfreundlich. Es ging sogar soweit, daß sie offen antisemitische Propaganda betrieb. Es gab in La Paz einige Fälle, wo indianische Kinder verschwanden. In der Zeitung der MNR stand damals: „Los hijos de las indias en La Paz deaparecen de las calles, pero los carniceros judíos tienen carne para sus salchichas“ (Die Kinder der Indianerinnen in La Paz verschwinden von den Straßen, aber die jüdischen Metzger haben Fleisch für ihre Würste). Etwa einen Monat nachdem der Artikel ersdchienen war, kam ein bolivianischer Freund, der einige Zeit in Argentinien gewesen war, nach Bolivien zurück und sagte mir, Víctor hätte ihm eine Kandidatur für seine Partei bei den kommenden Wahlen angeboten. Er sei in Zweifel, ob er das machen sollte, er kenne die MNR noch zu wenig, denn als er aus Bolivien weggegangen wäre, sei die Partei gerade erst gegründet worden. Er fragte mich nach meiner Meinung, ob er da eintreten solle. Ich habe ihm damals gesagt, als Demokrat könne er in diese Partei nicht rein und habe ihm die Zeitung gegeben, von der ich gesprochen habe. Er war empört über den Inhalt und ging zu Víctor Paz, er könne sich schon denken, von wem das käme, er solle dem Hirsch-Weber einen schönen Gruß bestellen und ihm ausrichten, daß er nie etwas von Politik verstehen würde. So einen Quatsch, wie er in der Zeitung stände, glaube er natürlich nicht, aber das brächte Stimmen und ihm ginge es darum, die Wahlen zu gewinnen. Außerdem sei er kein Antisemit, sondern ein Antizionist, wenn die Juden nach Bolivien gekommen seien, sollten sie bleiben, wenn es ihnen dort nicht gefiele, sollten sie nach Israel gehen oder sonst wohin, aber daß sie in Bolivien Zionismus propagierten, das passe ihm nicht. Wer wolle, könne bleiben, aber er solle Bolivianer werden.

Wann sind Sie aus Bolivien nach Deutschland zurückgekehrt?

1949, ich wäre schon früher gekommen, aber die Exilanten wurden nicht hereingelassen. Es ist ja ziemlich unbekannt, daß wir von den Alliierten keine Genehmigung bekamen, in Deutschland einzureisen. Nur Leute, die sehr bekannt waren, die Politiker waren oder berühmte Künstler konnten direkt nach dem Krieg zurückkommen. Ich habe es schon 1948 versucht, habe an das „Allied Travel Board“ geschrieben, aber nie eine Antwort bekommen, bis mir der englische Konsul und die US-Botschaft rieten, eine befristete Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. das habe ich dann gemacht. Ich bin zu einer „Europareise“ aufgebrochen und hatte für den Rückflug ein Visum, für die USA. Das hatte man mir geraten, denn wenn ich würdig sei, in die USA einzureisen, könnte mir das „Allied Travel Board“ das Visum für Deutschland kaum verweigern. So habe ich es dann gemacht, habe nach meiner Ankunft in Europa ein Visum für Deutschland beantragt, mußte in der Schweiz einige Wochen warten und haben schließlich eine Aufenthaltserlaubnis für drei Monate – mehr nicht – erhalten. Ich habe sie dann noch einmal erneuern lassen und bin dann einfach hiergeblieben.

War es für Sie immer klar, daß sie nach Deutschland zurückkehren wollten oder hatten Sie zeitweilig überlegt, in Bolivien zu bleiben?

Ich wollte immer zurückgehen, obwohl ich mich in Bolivien integriert gefühlt habe. Ich kam als junger Mensch mit 17 Jahren, hatte – und habe – sehr viele, sehr gute Freundschaften mit Bolivianern. Meine bolivianischen Freunde sagten 1947/48, als ich begann, meine Rückkehr zu betreiben, ich sei wahnsinnig, daß ich in das zerstörte Europa zurück wolle, Südamerika sei der Kontinent der Zukunft. Auch meine Mutter schrieb mir von hier, ich solle doch nicht in das zerstörte Deutschland zurückkommen, ich solle schön in Bolivien bleiben und sie würde eher dorthin kommen. Freunde von hier schrieben mir, ich solle um Gottes Willen nicht zurückkommen, dort, wo ich sei, ginge es mir besser, als es mir jemals in Deutschland gehen würde. Ich ließ mich immerhin so weit beeinflussen, daß ich mir von der staatlichen Bergwerksgesellschaft drei Monate Urlaub geben ließ, so daß ich hier entscheiden konnte, ob ich bleiben wollte. Nach sechs Wochen in Deutschland habe ich mich dann entschieden zu bleiben.

Viele jüdische Emigranten, die nach Lateinamerika gegangen waren, sind nach 1945 nicht nach Deutschland zurückgekehrt, sondern sind in die USA gegangen, nach Israel oder sind in ihren Exilländern geblieben. Das gilt zumindest für Länder wie Argentinien und Uruguay, galt das auch für Bolivien?

Ja, aber weniger, weil von Bolivien aus viele nach Argentinien gegangen sind. In Argentinien war es erstens ökonomisch einfacher und zweitens leichter, sich zu integrieren, da es dort eine größere jüdiscxhe Gruppe gab, die sie aufnahm.

Sie haben eben ihren beruflichen Werdegang in Bolivien geschildert, Sie waren dort vor allem als Lehrer und in der Wirtschaft tätig, später sind Sie in Deutschland ein bekannter Politikwissenschaftler geworden. Wie war Ihr Werdegang nach Ihrer Rückkehr aus Bolivien?

Wenn ich nicht emigriert wäre, hätte ich in Deutschland sicherlich studiert. Das tat ich dann nach meiner Rückkehr. Ich habe zunächst in Heidelberg das Abitur nachgemacht und mich dann gleich an der Universität in Heidelberg immatrikuliert, habe Sozialwissenschaften studiert und hier auch promoviert. Noch vor dem Abschluß der POromotion bin ich eingeladen worden, nach Berlin als Abteilungsleiter ans Institut für politische Wissenschaften zu gehen. Das war ein reines Forschungsinstitut. Dort war ich von 1955 bis 1965. Ich war damals der Meinung, daß man in Deutschland ein großes Lateinamerika-Institut bräuchte und daß man über Lateinamerika mehr forschen sollte. Anfang der sechziger Jahre hatten die Hamburger die Idee, so etwas zu machen. Mein Freund Hans-Joachim Bock, der damalige Direktor der Iberoamerikanischen Bibliothek, und ich meinten aber, daß wir ein Zentralinstitut für ganz Deutschland in Berlin gründen sollten. Der Berliner Senat hat uns untesrstützt und schließlich wurde 1965 als erster Schritt für ein solches Institut eine Lateinamerika-Abteilung beim Romanischen Seminar der Freien Universität eingerichtet, aus der dann das heutige Lateinamerika-Institut entstand.

1969 im Zuge der sogenannten Studentenrebellion hatte ich Konflikte mit einigen Assistenten und Studentenvertretern. Ich schied aus dem Lateinamerika-Institut aus, behielt aber meine Professur am Otto-Suhr-Institut. 1972 erhielt ich einen Ruf nach Mannheim als Professor für politische Wissenschaften, den ich annahm. 1973-76 war ich Prorektor dieser Universität. Lateinamerika spielte in meiner Forschung und Lehre immer eine wichtige Rolle, ich habe einiges darüber publiziert, und ein Drittel bis die Hälfte meiner Lehrveranstaltungen hatten Lateinamerika zum Thema.

Zwischen 1966 und 1968 war ich als Repräsentant der Ebert-Stiftung in Santiago de Chile und Gastprofessor an der Universidad de Chile. Dort gründete ich das Instituto Latinoamericano de Investigaciones Sociales.

Haben Sie sich nach Ihrer Rückkehr nach Deutschland weiter politisch engagiert?

Ich bin hier sofort in die SPD eingetreten, der ich mich schon immer zugehörig gefühlt hatte. Ich war in Heidelberg Vorsitzender des SDS, war Landesvorsitzender in Baden-Württemberg und Referent für theoretische Fragen beim Bundesvorstand des SDS. Ich war auch in Mannheim und später in Berlin aktiv in der SPD, war jahrelang „als Experte“ Mitglied des außenpolitischen Ausschusses beim Parteivorstand der SPD.

Herr Professor Hirsch-Weber, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führte Gert Eisenbürger im September 1992 in Heidelberg.