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Jeden Tag muss sich etwas ändern

„Radio Encuentro“ aus Sucre hat erfolgreich den crossmedialen Weg eingeschlagen

In den 1990er-Jahren eröffneten verschiedene Frauenprojekte in Bolivien ihre eigenen Radiostationen. „Radio Pachamama“ des „Centro de la Promoción de la Mujer Gregoria Apaza“ (Frauenförderungszentrum Gregoria Apaza) in El Alto 1992 zunächst als Bildungsprogramm, 1998 dann mit einer regulären Sendelizenz, ebenso wie „Radio Alternativa“ des Frauenhauses (Casa de la Mujer) im gleichen Jahr in Santa Cruz. Im Munizip Sucre in Chuquisaca, das heute etwa 300 000 Einwohner*innen zählt, nahm das „Centro Juana Azurduy“ ein Jahr nach seiner Gründung 1990 die Radioproduktion in sein Programm auf und schuf dafür „Radio Encuentro“. Dessen aktuelles Motto lautet: „Jeden Tag muss sich etwas ändern.“ Martha Noya, Direktorin der Institution, erklärt die Ursprünge und wie „Radio Encuentro“ es schafft, mit seinem feministischen Ansatz in einer so konservativen Stadt wie Sucre hohe Einschaltquoten zu erzielen.

Martha Noya

In Chuquisaca gab es Anfang der 1990er-Jahre nur wenige Nichtregierungsorganisationen, die Massenmedien für soziale Kommunikation nutzten: „Radio ACLO“ und das ein oder andere weitere Mitglied des ERBOL-Netzwerks. Ihre Arbeit war vor allem auf die ländliche Bevölkerung ausgerichtet. Wir waren davon überzeugt, dass Radio auch in der Stadt eine wichtige Rolle spielen könnte. Wir produzierten Programme, für die wir Sendezeit mieteten: Programme in Quechua für die ländliche Bevölkerung bei ACLO, spanische Programme für ein städtisches Publikum bei „Radio Loyola“, das auch den Jesuiten gehört, sowie einem weiteren populären Sender aus Sucre. All das wurde von einer einfachen gedruckten Zeitung begleitet, die die Sendeinhalte in didaktischer Form unterstützte. Im Jahr 1999 haben wir „Radio Encuentro“ gegründet, weil das letztlich billiger war und wir so zu viel mehr Sendezeit kamen.

Ich denke, unsere guten Einschaltquoten liegen an den innovativen Inhalten und der Qualität, obwohl wir immer eine klassische Programmstruktur hatten: Nachrichten, Journale, Musik, Sport. Und wir sind kein Bekenntnisradio. Wir verbreiten nicht nur Aufrufe zur Entpatriarchalisierung oder gegen Gewalt an Frauen. Wir verbinden unsere Anliegen mit Themen allgemeinen Interesses. Wir senden Interviews zur politischen Konjunktur ebenso wie zu Wirtschaftsthemen, wie etwa der Erdgasproduktion. Aber dabei achten wir darauf, dass Frauen zu Wort kommen und Genderaspekte angesprochen werden. Dazu kommen dann die speziellen Sendungen zu den Arbeitsfeldern unserer Institution: Gewalt gegen Frauen, politische Beteiligung von Frauen, Beschäftigungschancen für Jugendliche, aber auch Themen wie Feminismus, Machismo und Entpatriarchalisierung, Sozialpolitik für Frauen.

Wenn wir Fokusgruppen machen1, um die Wirkung der Programme zu messen, sind viele mit manchen Positionen von uns, etwa zur Abtreibung, nicht einverstanden. Aber wenn wir über häusliche Gewalt oder Kinder reden, dann würde sie das interessieren. Vor allem schätzen sie unsere politische Ausgewogenheit. Das meistgehörte Radio in Sucre hat einen lokalpatriotischen und total regierungskritischen Ansatz. In diesem Radio gibt es nichts, was sie gut finden. Neun von zehn Interviews sind mit Vertreter*innen der Opposition. Sucre ist das gehasste Aschenputtel.

Wir dagegen schauen in unserem Radio, was gut und was schlecht ist, und was wie verbessert werden kann. Viele Hörer*innen finden das gut, gewiss nicht die Mehrheit in Sucre. Deshalb liegen wir mit einem Anteil von 20 Prozent im Rating auch deutlich hinter diesem Sender mit seinem Pamphletstil, der 30 Prozent der Hörer*innenschaft hat. Der Rest teilt sich unter 40 weiteren Radios auf, die meist wesentlich konservativer sind.

Das Spektrum hat sich aber durch die Digitalisierung verändert. Eine Studie der Vizepräsidentschaft vor etwa fünf Jahren zum Medienkonsum zeigte, dass die unter 35-Jährigen kaum noch Radio hörten. Nun sind aber viele, mit denen wir arbeiten, in dieser Altersstufe: Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt oder Jugendliche im Berufsbildungsprogramm. Für sie alle mussten wir unsere Inhalte auf anderen Ausspielkanälen verbreiten. Und nicht nur das. Mit dem crossmedialen Ansatz produzierst du nicht nur Inhalte in unterschiedlichen Formaten, sondern du eröffnest auch mehr Möglichkeiten, um mit den Empfänger*innen zu interagieren. Die Konsument*innen werden gleichzeitig zu Produzent*innen.

Das ist sehr anspruchsvoll und ist deshalb nicht beim gesamten Programm möglich. Wir haben deshalb eine zweite rein digitale Plattform nur für das jugendliche Publikum geschaffen. Sie heißt „Atrévete“ (Trau dich!). Sie senden nicht live. Sie produzieren autonom in ihrem eigenen Studio. Zum Beispiel „Trau dich, du bist frei“. Da bilden sich Gruppen von Jugendlichen, die von uns geschult werden und danach ein selbst gewähltes Thema eigenständig erforschen. Von uns beauftragte Produzent*innen erarbeiten dann Medienbeiträge, die über die Plattform verbreitet werden, etwa zu Mythen über Sexualität oder der romantischen Liebe. Ein Format sind die „Movisodios“, einminütige Episoden, die leicht über Smartphones verbreitet werden können. Früher hätten wir Bildungsspots dazu gesagt. Dazu kommen kleine Radioserien. Die letzte ging über Rollenklischees und heißt „Kein Weg zurück“. Wir haben auch interaktive Spiele produziert. Das wird live als Wettbewerb organisiert. Dieses Jahr haben 20 000 Jugendliche dabei mitgespielt.

Die Mitarbeiter*innen im Radio sind alles junge Leute, die aus Aktionsgruppen kommen. Einer ist aus einem Filmkollektiv, eine andere aus einer feministischen Initiative, eine dritte aus einem Lesbenkollektiv. Unsere Generation muss sich anstrengen, um all ihren kreativen Ideen folgen zu können. Ich lerne viel von ihnen. Manchmal muss ich sie aber auch bremsen.

Beim Live-Radio haben wir in der Regel um die 20 000 Hörer*innen. Die höchsten Einschaltquoten sind morgens zwischen sieben und acht Uhr. Danach sinken die Zahlen, bis wir um 14 Uhr nur noch drei Prozent der Hörer*innenschaft in Sucre erreichen. Da wir mit den vier Mitarbeiterinnen im Radio ohnehin kein ganzes Tagesprogramm produzieren können, werden ab 14 Uhr Programme vom Morgen wiederholt oder es wird einfach Musik abgespielt, die den Auto-, Bus- oder Lastwagenfahrern gefällt, die auch nachmittags bei der Arbeit noch Radio hören. In den Häusern schauen die Leute nachmittags vor allem Fernsehen. Das wird morgens nur wenig genutzt, am meisten in den Abendstunden.

Das Radio hat also weiter seine Funktion für die Älteren, für Hausfrauen, für Taxi- und Busfahrer*innen, die immer noch besser über das Radio erreicht werden. Aber da unser Ziel ist, Einstellungen zu verändern, im Hinblick auf geschlechtsspezifische Gewalt, Antirassismus, Antimachismo, und dies möglichst weit zu verbreiten, nutzen wir für unsere zentralen Botschaften auch die anderen Kommunikationskanäle. Über die digitalen Plattformen erreichen wir mindestens 300 000 Personen. Von denen geben 60 000 auch Rückmeldungen oder beteiligen sich aktiv.

Finanzieren kann sich das alles aber nicht selbst. Wir kommen auf 45 Prozent der Gesamtkosten durch Anzeigen, meist von kleinen Firmen. Und auch das nur mit viel Mühe. Die meisten Radios in Sucre leben von Anzeigen der Stadt- oder Regionalregierung, vom Stadtrat oder aber von der Zementfabrik. Davon bekommen wir aber kaum etwas ab, weil wir Kritik üben, wenn es nötig ist. Das gefällt ihnen nicht. 80 Prozent der Personalkosten des Radios werden deshalb aus Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit finanziert. Vor allem vom Weltfriedensdienst, der auch eine deutsche Fachkraft bezahlt, die auf Friedenskultur spezialisiert ist und im Radio sowie in den Programmen zur Erwachsenenbildung mitarbeitet. Etwas Geld für das Radio bekommen wir auch von Brot für die Welt. Radioarbeit ist weder leicht noch billig. Es ist wie ein Kleinkind, das nicht groß wird. Immer gibt es irgendwelche Probleme. Heute früh um fünf Uhr funktionierte die Übertragungsanlage nicht, später war die Internetverbindung unterbrochen.

Trotzdem sollten Entwicklungsprojekte immer auch eine Komponente sozialer Kommunikation enthalten. Schließlich haben die Massenmedien einen großen Einfluss. Und es ist schwer, all den kommerziellen Medien, dem Konsumismus, zunehmend auch den evangelikalen Programmen, die den Menschen die Lösung ihrer Probleme ohne eigenes Zutun im Himmel versprechen, und auch dem Patriarchat etwas entgegenzusetzen.

Aber es lohnt sich: In einer der Fokusgruppen berichtete uns ein Mann, dass er nie machistische Attitüden gehabt habe. Aber erst durch unser Radio, in dem die Hausangestellten ein eigenes Programm haben, sei ihm sein Rassismus gegenüber seiner Hausangestellten bewusst geworden, die zum Beispiel nicht mit der Familie, sondern in der Küche essen sollte.

  • 1. Form der Gruppendiskussion, die zum Beispiel in der qualitativen Sozialforschung oder in der Marktforschung eingesetzt wird und sich an einem Leitfaden orientiert.

Wer „Radio Encuentro“ näher kennenlernen will: www.radioencuentro.org, von wo man auch die anderen Kommunkationskanäle erreicht. Es gibt auch eine App, die auf Playstore unter „Radio Encuentro Bolivia“ heruntergeladen werden und auf der das ganze Live-Programm gehört werden kann.

Protokolliert, übersetzt und zusammengestellt von Peter Strack