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Gemeinsame Erfahrungen verbinden uns

Interview mit der afroperuanischen Schriftstellerin Lucía Charún-Illescas
Mauricio Isaza-Camacho

Lucía Charún-Illescas, 1967 in Lima geboren, führt seit 30 Jahren ein Leben in der Diaspora. Auf drei Kontinenten hat sie die koloniale Vergangenheit vor dem Hintergrund des bestehenden Nord-Süd-Konfliktes sowie den Umgang schwarzer Menschen mit ihrer Geschichte und Tradition beobachtet, bibliografisch recherchiert und dialogisch erforscht. Ihre Erkenntnisse hat sie in unterschiedlichen Gattungen verarbeitet. Journalistische Prosa, Kurzgeschichten, Prosa für Kinder und ein Roman sind die Ergebnisse ihrer publizistischen und schriftstellerischen Arbeit. Seit 25 Jahren lebt und arbeitet sie in Hamburg. Ihr Roman „Malambo”, 2001 im Universitätsverlag der Universidad Nacional Federico Villarreal erschienen, ist der erste Roman einer afroperuanischen Schriftstellerin. Im Jahr 2013 verlieh ihr das peruanische Kulturministerium dafür die Auszeichnung zur „Verdienstvollen Persönlichkeit des Peruanischen Lebens“. Mit umfassender Kenntnis der Eigenarten und Lebensumstände der peruanischen Einheimischen, europäischen Eingewanderten und afrikanischen Versklavten webt Charún-Illescas eine erzählerisch zeitgenössische Geschichte des Lebens zu Zeiten des Kolonialismus. „Malambo” wurde bislang ins Italienische und Englische übersetzt und konnte sich an verschiedenen Universitäten in den USA als Lektüre zum Themenkomplex afrikanische Literatur, Diaspora und Sklaverei in Nord- und Südamerika etablieren.

Bist du eine Afropolitan oder eine Afropean, Lucy? Ja, ich weiß, du bist eine „verdienstvolle Persönlichkeit der peruanischen Kultur“, wie die Auszeichnung heißt, nachdem du diesen bemerkenswerten Roman Malambo veröffentlicht hast. Aber du lebst schon so lange hier in Europa, dass ich wissen möchte, wie du dich als Afrostämmige hier in der Alten Welt positionierst.

Der Terminus „Afropolitan“ bezeichnet einen Kosmopolitismus afrikanischen Zuschnitts, eine Weltbürgerschaft der Afrikaabstämmigen. Ich erinnere mich daran, wie wir, eine Latino-Gruppe, auf der Buchmesse in Frankfurt am Main auf einem Flur standen und uns unterhielten. Da ging eine Afrikanerin an uns vorbei, sie war mit einem luftigen Kaftan bekleidet und trug auf dem Kopf einen kunstvoll verknoteten Turban. Wir schauten uns an und kurz danach unterhielten wir uns schon und waren befreundet. Später fragte mich Wálter Lingán, der in Köln lebende peruanische Schriftsteller, ob ich sie kannte. Jetzt schon, antwortete ich. Genau dasselbe passierte mir mit Amin Omar, dem Somalier, der in Hamburg mit den Latinos im Stadtpark Fußball spielt. Erlebnisse und gemeinsame Erfahrungen der Afrikaabstämmigen verbinden uns.

Im Jahr 2006 war ich zu dem Kongress „Afroeurope@s: Culturas e Identidades“ eingeladen worden, den die Universidad de León in Spanien organisiert hatte. Auf dem Kongress arbeiteten wir intensiv zum Thema der afrikanischen, karibischen und lateinamerikanischen Minderheiten in Europa. Aber ich beschäftige mich nicht nur mit der Theorie der Afropeans, ich bin auch eine Frau der Praxis. Einmal veranstaltete ich eine Handpuppenwerkstatt für die afrikanischen Geflüchteten, die aus Afrika über Lampedusa nach Hamburg gekommen waren. Ich bat die Afropean-Community in Hamburg um Unterstützung. Diese Erfahrung ließ mich verstehen, dass Afropean eine Identität im Aufbau ist. Die Afropeans gaben sogar zu bedenken, dass die Mehrheit der Geflüchteten doch Muslime seien! Gut, die Lampedusa-Flüchtlinge wurden von anderen Seiten unterstützt: Gemüseläden, Bäckereien und sogar eine Moschee unterstützte sie mit Lebensmitteln. Blanca Merz, eine Kolumbianerin, ergriff die Initiative, brachte diese ganze Unterstützung zustande und bot selbst Deutschkurse an, bei denen ich mitgemacht habe.

Ich schließe mich den Ideen des Afrofuturismus an. Dabei handelt es sich um eine bestimmte Ästhetik, die sich Science Fiction-Elementen und digitaler Techniken bedient sowie an der Idee eines Afrozentrismus arbeitet. Die afrofuturistischen Produktionen stehen in Opposition zur Idee des Eurozentrismus als Paradigma der universellen Zivilisation. Im Afrofuturismus stellen wir, die afrikanischen Länder und die Diaspora, Ergebnisse einer neuen Wahrnehmung der Welt dar, und wir positionieren diese Ergebnisse auf derselben Ebene der gestern und heute weltweit gültigen Werke der Philosophie, der Kunst, der Literatur.

In deinem Roman gibt es eine erschütternde Episode. Da wird erzählt, dass sich die Leute in Afrika unerwünschter Familienmitglieder entledigten, indem sie sie den Europäern anboten. Die Leute wussten also, dass sie den Europäern Leute verkaufen konnten, und manchmal suchten die Afrikaner sogar die Europäer auf, um ihnen Menschen anzubieten. Das ist im Allgemeinen kaum bekannt; ich selbst weiß davon erst seit der Lektüre deines Romans. Hat es sowenig Selbstkritik in den afrikanischen Gesellschaften gegeben oder gibt es eine kritische Tradition, die allerdings außerhalb Afrikas nicht bekannt ist?

Auch in Afrika gab es Leibeigene und Sklav*innen, aber mit der Kolonisierung wurde daraus ein sehr großes Geschäft. Die Arme und Hände, die auf den Zucker- und Baumwollplantagen arbeiteten, die Arme und Hände, die im Bergbau in Amerika und der Karibik arbeiteten, wurden von afrikanischen Regierungen legal verkauft oder gegen Feuerwaffen, Schießpulver, Landwirtschaftsgeräte, Textilien, Rum oder Ramsch getauscht. Ganze Armeen gingen auf Beutezug, versklavten komplette Gemeinden, entführten Familien, sammelten politische Gefangene ein. Als ich das Fort in Cape Coast in Ghana besuchte, eins von jenen schrecklichen Gefängnissen am Meeresufer, erhielt ich nur sehr vage Antworten. Einige Intellektuelle und die Kirchen erkennen die Schuld an, aber das Thema ist im Allgemeinen ein Tabu. Der Sklavenhandel ist kein Thema im Unterricht.

Die Sache mit dem bleaching („Bleichen“, Haut aufhellen) und Michael Jackson haben mich schon immer stark beeindruckt. Ich habe mich für ihn fremdgeschämt. Wie geht es dir mit dieser Figur und wie sieht es heutzutage mit dem bleaching aus? Ich habe gehört, dass auch in Hamburg die neuen Generationen bleaching praktizieren, ohne jegliches historisches Bewusstsein, als ob es sich um eine Modeerscheinung handeln würde ...

Ich habe mich nie für das bleaching von Michael Jackson fremdgeschämt. Ich sah es nicht als eine Leugnung seines Schwarzseins, sondern als geistige Verwirrung. Für mich war er ein großer Sänger, Komponist und Tänzer, der ein obsessives Verhältnis zu seiner Hautfarbe und seiner Nasenspitze hatte. Natürlich gibt es auch Leute, die sich aus anderen Gründen die Haut bleichen. Die Dokumentarfilme im deutschen Fernsehen wollen uns glauben machen, dass diese Leute immer aus Afrika kommen und dafür nur diese schrecklichen Hausrezepte anwenden. Die großen Absatzmärkte für Hautbleichmittel, Hautaufheller oder Hautbeleuchtungsmittel oder wie auch immer sie schönfärberisch genannt werden, liegen in Asien und Indien. Der krebserregende Wirkstoff Hydroquinon ist bei Produkten von Nivea, Ponds, Loreal, Dove etc. ersetzt worden, aber die moralische Doppelbödigkeit blitzt in jedem Afroshop in Deutschland, Frank-reich, Holland oder England bei den Produkten auf, die aus der Schublade unter der Theke gezogen werden. Diese Produkte enthalten den verbotenen Wirkstoff und werden von europäischen und nordamerikanischen Firmen hergestellt. Die Creme, die seit einem halben Jahrhundert mit der Präzision eines Mercedes-Benz oder Porsche die Haut bleicht, ist die der deutschen Marke Drula. Beim Thema Haut(ent)färbung und gesellschaftliche Akzeptanz muss aber auch die Verdunkelung der Haut erwähnt werden. Bekannt sind Praktiken wie in einem Solarium zu liegen, eine pigmentierende Creme aufzutragen oder eine Dusche mit Bräunungsmitteln zu nehmen.

Wie nimmst du die verschiedenen Formen von Diskriminierung in Hamburg und Deutschland wahr? Hast du diesbezüglich Erfahrungen, Beobachtungen, Experimente gemacht und vielleicht sogar darüber geschrieben?

Auch der Rassismus war eine Waffe des Imperialismus bei der Kolonisierung Amerikas, Afrikas, der Karibik, Asiens. Er führte zur Vernichtung von Millionen von Juden durch die Nazis. Ich erkläre mir die heutigen Formen von Rassismus als neue und etwas verminderte Formen der Überlegenheitsidee; in Deutschland nimmt der Rassismus heutzutage Formen wie die polizeiliche Praxis des Racial Profiling an. Ich als Teil einer ethnischen Minderheit hier, dort und überall habe immer mit ausgefahrenen Antennen gelebt und beschwere mich auch über Details, die anderen nur als Kleinigkeiten erscheinen. Zum Beispiel: Die Kassiererin in der Filiale einer Supermarktkette sagte zu jeder Kundin und jedem Kunden „Vielen Dank, schönes Wochenende”, nur nicht zu mir. Eines Tages wurde ich ihrer Verachtung überdrüssig und drohte ihr damit, mich bei der Verwaltung zu beschweren. Eine Kleinigkeit, wie der Wassertropfen, der den Stein höhlt.

Das Interview führte Mauricio Isaza-Camacho im Juni 2017 per E-mail.