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Die Ikone aus Argentinien

50 Jahre Mafalda – – eine soziale und politische Biografie
Alix Arnold

Ein Sonntag im November letzten Jahres, im Stadtteil San Telmo in Buenos Aires: Durch die engen Gassen schieben sich Massen von BesucherInnen des wöchentlichen Flohmarktes. An der Straßenecke Chile/Defensa ist im Gedränge eine Warteschlange zu erkennen. Wofür stehen hier mehr als 50 Leute an? Die Schlange endet an einer Bank, auf der Mafalda als lebensgroße Figur sitzt, und alle wollen sich oder ihre Kinder zusammen mit ihr fotografieren. Das Denkmal wurde 2009 vor dem Haus errichtet, in dem der Zeichner Quino 1964 wohnte,– in dem Jahr, in dem er in der Zeitschrift Primera Plana den ersten Comic mit Mafalda publizierte.

Das oberschlaue Mittelschichtmädchen erlebte einen kometenhaften Aufstieg. Von dem 1966 erschienenen ersten Buch mit Mafalda-Comics wurden in einem Monat 25 000 Exemplare abgesetzt. 1968 waren von den ersten drei Sammelbänden 130 000 Stück verkauft und Mafalda 4 begann mit einer Auflage von 70 000. Seit 1965 erschienen die Comics in der Tageszeitung El Mundo und wurden täglich von schätzungsweise zwei Millionen Menschen gelesen. Mit der Herausgabe eines Mafalda-Buches durch Umberto Eco in Italien begann 1969 ihre internationale Karriere. In Deutschland kam sie 1971 in der Zeitschrift Pardon an. Inzwischen ist sie in mehr als 20 Sprachen übersetzt.
Um die Langlebigkeit des Mythos Mafalda zu ergründen, hat die uruguayische Historikerin Isabella Cosse eine Sozialgeschichte der Figur in den letzten 50 Jahren geschrieben. Generationen- und Genderkonflikte, Rebellionen, Infragestellung von familiären und sonstigen Ordnungen, Feminismus, Kalter Krieg, Dritte Welt, Umweltfragen und Kulturkritik – Mafalda verkörpert all diese Entwicklungen und ist als Argentinierin immer wieder mit der Diktatur konfrontiert. Als sie 1964 die Szene betritt, zählen in Argentinien fast 40 Prozent der Bevölkerung zur Mittelschicht, mit steigender Tendenz. Mafalda lebt in dieser Welt, sie hat keinen Kontakt zu Arbeiterkindern. Sozial schlechter gestellt ist nur ihr Freund Manolito, Sohn spanischer MigrantInnen, der im Lebensmittelgeschäft seines Vaters mitarbeiten muss. Ihre Freundin Susanita vertritt ein reaktionäres Frauenbild, will einen reichen Mann heiraten und beharrt zynisch auf ihren Privilegien. Dagegen ist Mafalda die Stimme der progressiven, sozial engagierten Mittelschicht. Der Witz entsteht häufig durch die Konfrontation der beiden. Die Naivität von Mafalda und der Zynismus von Susanita kratzen am Bild der integrierten egalitären Gesellschaft und offenbaren Rassismus und Ungleichheiten.

In einem Comic stöhnt Mafalda, dass sie es leid ist, den Kapitalismus auf der einen und den Kommunismus auf der anderen Seite zu haben. Sie fühle sich dabei wie ein Sandwich, und was mit denen passiert, wüsste man ja. An die Stelle der Logik des Kalten Krieges setzt sie den Aufbruch der Dritten Welt. In die Befreiungsbewegungen des Südens wurden damals große Hoffnungen gesetzt und EuropäerInnen fühlten sich besonders von den Bewegungen in Lateinamerika angezogen – was sicher auch zur internationalen Verbreitung der Figur aus San Telmo beitrug. Mafalda entdeckt die „„Umgekehrte Landkarte““ des uruguayischen Künstlers Joaquín Torres García (Lateinamerika mit der Südspitze oben) und fragt sich, wer darüber bestimmt, was oben und was unten ist. In erster Linie aber lehnt sie sich gegen vorgegebene Ordnungen auf. Sie weiß vor allem eins: dass sie dagegen ist. Mit dem Putsch von Onganía 1966 wird sie zum antiautoritären Symbol gegen die Diktatur. In den Comics kommt immer wieder vor, dass sie Suppe hasst – und die steht laut Quino für das autoritäre Verhalten der Regierungen, das die Leute jeden Tag schlucken müssen.

Quino (Joaquín Salvador Lavado) stammt aus einer Familie spanischer MigrantInnen mit republikanischer und antiklerikaler Einstellung. Er ist mit Geschichten aus dem Spanischen Bürgerkrieg aufgewachsen und wurde von den Ansichten seiner kommunistischen Großmutter zu Mafalda inspiriert. Politisch organisiert war er nie. 1968 erlebt er zufällig den Pariser Mai mit. Im nächsten Jahr findet im argentinischen Córdoba ein ähnlicher Aufstand von ArbeiterInnen und StudentInnen statt. Der Cordobazo wird blutig niedergeschlagen. In der Folgezeit publiziert Quino kritische Comics gegen Polizei und Repression, und er fügt Mafaldas Welt zwei neue Figuren hinzu: Ihr kleiner Bruder Guille, der sich mit den Eltern anlegt, und die intellektuelle politisierte Jugendliche Libertad stehen für die neue kämpferischere Generation. Berühmt wird ein Comic, bei dem Mafalda auf den Knüppel eines Polizisten zeigt und sagt: „„Das ist der Zauberstab, mit dem sie Ideologien verwandeln““: el palito de abollar ideologías.

1973 stellt Quino die Comic-Serie ein. Mafalda bleibt aber präsent. Die Zeichnung mit dem Knüppel hängt überall als Plakat. Im April 1975 taucht in Buenos Aires eine Fälschung auf, vermutlich vom Geheimdienst. Dabei zeigt Manolito auf den Knüppel und sagt: „„Siehst du, Mafalda, dank dieses Zauberstabs kannst du zur Schule gehen.““ Damit sollte in einer Zeit zugespitzter politischer Auseinandersetzungen und bewaffneter Kämpfe die Forderung nach mehr Sicherheit und Ordnung angeheizt werden. Quino ist ein Gegner des bewaffneten Kampfes und keineswegs einverstanden, als eine bewaffnete Gruppe eine seiner Zeichnungen für ein Flugblatt verwendet. Aber er lehnt auch die Anfrage des Sozialministers López Rega ab, Mafalda für eine Pressekampagne zu benutzen. López Rega ist einer der Organisatoren des Staatsterrorismus. Ein paar Tage nach der Absage wird Quinos Wohnung von bewaffneten Männern überfallen. Quino merkt, dass er in Gefahr ist, und geht ins Exil.

Im März 1976 übernehmen wieder Militärs die Macht. Im Juli werden in der Kirche San Patricio fünf pallottinische Priester ermordet. Neben ihnen findet sich ein Bekennerzettel, dass diese Linken gestorben sind, weil sie unschuldige Geister indoktriniert haben. Auf einer der Leichen liegt ein Plakat, das die Mörder von der Wand gerissen hatten: Mafalda, die auf den Polizeiknüppel zeigt. Quino erfährt erst Jahre später, dass sein Plakat auf diese makabre Weise benutzt worden ist.

Mafalda, die Symbolfigur der Antiautoritären, wurde in der Diktatur nicht verboten. Ein Widerspruch des Systems oder ein Zugeständnis an die Popularität? Quino war 1976 nach Mailand gezogen und hatte gelegentlich für argentinische Medien gezeichnet. 1980 beginnt er, in Clarín zu publizieren. Die Zeitung bringt eine Rückschau auf das Werk des „„größten Karikaturisten der Welt““. Ab da sind Quino und Mafalda wieder in der argentinischen Öffentlichkeit präsent. Ende 1981 kommt der Mafalda-Film von Daniel Mallo heraus. Er wird nicht zensiert, was nicht verwunderlich ist. Mafalda ist hier ein weichgespültes, süßes Persönchen, das nichts mehr von der fluchenden Göre hat, und die beiden Figuren, die für die Radikalisierung der 1970er-Jahre stehen, Guille und Libertad, kommen gar nicht vor. Die Diktatur endet 1983. Im folgenden Jahr gibt es in San Telmo eine Mafalda-Ausstellung und Quino zeichnet seine Figuren weiter. Zum 25. Geburtstag der Figur schlägt eine Journalistin in Spanien ein Spiel vor: Sich auszumalen, wie und wer Mafalda 1988 als Erwachsene wäre. Quino beendet die Phantasien: Mafalda wäre nie erwachsen geworden, sie wäre eine der 30 000 Verschwundenen in Argentinien.

Mafalda konnte zum Mythos werden, weil sie Züge der damaligen Mittelschichten verschiedener Länder repräsentiert – Mittelschichten, deren materielle Grundlagen und Identität sich in Auflösung befinden. Diese Identität lebt in Quinos Figur weiter, die damit auch für den Widerstand gegen den Neoliberalismus steht, mit nostalgischem Bezug auf alte Werte. Mafalda wurde auch ideologisch kritisiert: typische Kleinbürgerin mit den üblichen Defekten und Vorurteilen der Mittelschicht, keine Ahnung von ArbeiterInnen und Armut, redet oberschlau herum, ohne was zu machen, aber die ausgeschnittenen Comics hingen damals nicht nur in Privat- und Oberschulen, sondern auch in Fabriken. Und bis heute sind die scharfsinnigen Bemerkungen und frechen Sprüche weltweit beliebt, auch bei jüngeren Generationen: Mafaldas Facebook-Seite hat fast 5,4 Millionen Likes.

Literatur: 
Isabella Cosse, Mafalda: Historia social y política, Buenos Aires / Argentinien 2014